Theater ist kein Budenzauber
Zum 125. Geburtstag des Schauspielers und Regisseurs Fritz Kortner
Von Christa Kaiser
Der 125. Geburtstag Fritz Kortners am 12. Mai 2017 gibt Raum, um über eine
dringend benötigte Renaissance des Theaters und der Schauspielkunst
nachzudenken. Wie viele Menschen kommen nicht seit Jahren enttäuscht aus den
Theatern und beschweren sich: Sie wollten ein Werk von Shakespeare sehen,
bekamen aber die wirren Ideen des Regisseurs aufgetischt. Dieser Mißstand hat
heute ein solches Ausmaß erreicht, daß nur noch ganz selten originalgetreue
Aufführungen zu finden sind.
Fritz Kortner 1924 als Shylock bei einer Aufführung von William Shakespeares
„Der Kaufmann von Venedig“ am Theater in der Josephstadt in Wien.
Wer weiß aber heute mit dem Namen Fritz Kortner etwas anzufangen? Selbst
Schauspielschüler zucken die Achseln. Dabei ist Fritz Kortner neben Albert
Bassermann und Alexander Moissi eine der Schauspiellegenden des 20.
Jahrhunderts und einer der größten Regisseure der Nachkriegszeit.
Zum 85. Geburtstag schrieb der Berliner Bürgermeister an Kortner: „Sie
haben unsere Theaterstädte in Staunen versetzt; für Sie bedeutet tragische
Schuld niemals Kapitulation vor einem nebulösen Schicksal. Als politischer
Mensch wußten Sie um die von Menschen geschaffenen Umstände, die allzuoft als
Schicksal betrachtet werden, um die eigene politische Verantwortung zu
vermeiden. Sie sind ein Passionierter, der dem analytischen Verstand den
ersten Platz einräumt, ein Visionär, der es mit der Wirklichkeit sehr genau
nimmt.“
Kortner mußte wie viele andere vor den Nazis in die USA emigrieren, war
aber einer der ersten prominenten Juden, die in das von Hitler befreite
Deutschland zurückkehrten. Sein Anspruch war es, eine neue Wirklichkeit zu
schaffen. Er war vor Hitler, nicht vor Deutschland geflohen. Sein
Theaterverständnis rang um den wirklichen Menschen, und er sah seine
Verantwortung in der Gestaltung des Zeitgeistes und nicht in der
Anbiederung.
Zusammenprall
Kaum hatte Kortner 1946 seinen Fuß wieder auf deutschen Boden gesetzt,
drängte ihn Boleslaw Barlog – der Nachfolger an Max Reinhardts Berliner
Theater –, dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler die Hand zu reichen. In der
Pause eines Konzerts machten Barlog und er sich auf zum Künstlerzimmer. Vor
dem Eingang stand ein G.I. als Wache. Er ließ sie nicht passieren. Auch ihr
Englisch prallte an dem Krieger ab. Kortner beschwor ihn, den Nachfolger
Reinhardts nicht immer wieder als „son of a bitch“ zu bezeichnen. Es kam zum
Handgemenge. Kortners Paß wurde entzogen und er bekam einen Prozeß. Die
Anklage lautete auf „fraternizing at its worst“ (Verbrüderung mit dem Feind).
„Schade, daß ich durch dieses Ereignis Furtwängler nicht kennen gelernt habe“,
bedauerte Kortner.
Kortners Alleingang
Bald sollte Kortner erneut mit der Besatzungsbehörde in Konflikt geraten –
diesmal über deren Werkzeug, das „Regietheater“. Denn dieses lehnte die
Theatertradition eines Shakespeare oder Schiller ab, die den Menschen
verbessern will.
Friedrich Schiller formulierte: Wahre Kunst soll eine Kraft im Menschen
wecken, üben und ausbilden, „die sinnliche Welt, die sonst nur als roher Stoff
auf uns lastet, als blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu
rücken, in ein freies Werke unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle
durch Ideen zu beherrschen“.1
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Fritz Kortner (rechts) mit dem Schauspieler Curt Bois im Berliner
Schiller-Theater, wo sie 1959 „Die Räuber“ von Friedrich Schillers aufführten.
Diese wohltätige Wirkung der Kunst, die Kreativität weckt, lehnen die
Hohenpriester des „Regietheaters“ ab. Für sie haben Menschen in erster Linie
tierische Eigenschaften, die gezähmt werden müssen, sie sehen nur z.B. Nazis,
Kapitalisten, Unterdrücker, Kollaborateure, Lügner oder Feiglinge. Große Ideen
werden banalisiert oder mit Kot beschmiert. Regietheaterregisseure empfinden
keinerlei Scham, Klassiker zu zertrümmern. Sie sehen es als eine Befreiung an,
die Form des Dramas zu sprengen, Texte bis zur Unkenntlichkeit zu streichen
und abzuändern. Maria Stuart wird mit der Terroristin Ulrike Meinhof
gleichgesetzt. Das Theater wird zum Urinal und Bordell, als ob es dafür nicht
andere Einrichtungen gäbe. Dem Regisseur ist alles erlaubt, der Dichter des
Dramas spielt keine Rolle mehr.
Kortner widersetzte sich. Er hielt zeitlebens an seinem großen Vorbild
Shakespeare fest, der seine Zuschauer zu höherer Einsicht bringen wollte, und
er formulierte: „Das wirklich Bleibende ist des Theaterleiters Verhältnis zum
Autor, zum Dramatiker, zum Dichter, der ja das wahrhaft schöpferische Element,
der Genius des Theaters ist. Nur wenn das Theater krank ist, wird sein Platz
vom Regisseur usurpiert.“
Das „Regietheater“ machte auch vor der Sprache nicht halt
Mußte ein Schauspieler früher sprechen können, wie ein Schuster Schuhe
machen, so wurde jetzt genuschelt, gelispelt, Vokale und Konsonanten und ganze
Wörter wurden verschluckt und das auch noch als Kunst gefeiert. Nach
jahrelanger Zerstörung erkennt der 70jährige Theaterregisseur Peter Stein, daß
es keine hervorragenden Schauspieler mehr gibt: Die Katastrophe sei, daß in
den letzten 15 Jahren aus dem deutschen Theater keine Schauspielernamen mehr
hervorgegangen seien, die sich nur annähernd messen können mit denen, die es
davor gegeben hat. „Ich bin mir absolut bewußt, daß meine Generation diese
Entwicklung losgetreten hat, ich selber auch. Aber es ist irgend etwas
geschehen, was ich nicht ganz verstehe.“
Der Humanismus wird in Fesseln gelegt.
Peter Stein ist nicht der einzige, der den politischen Apparat hinter dem
„Regietheater“ nicht versteht. Ein geheimes Projekt war nach dem Zweiten
Weltkrieg über deutsche Institutionen gestülpt worden, um eine humanistische
Elite zu verhindern. Unter der Kontrolle des synarchistischen Bankiers John J.
McCloy, dem Hochkommissar der amerikanischen Besatzung, entstand ein Projekt
der CIA – der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ (Congress of Cultural Freedom,
CCF) –, welches unter dem Deckmantel der Entnazifizierung die deutsche Klassik
beseitigen sollte.
Ironischerweise waren es dieselben anglo-amerikanischen Kreise wie McCloy,
John Foster und Allen Dulles und Averell Harriman, die vor dem Krieg engstens
mit der englischen Regierung und Hitler kollaboriert hatten und selbst nach
dem amerikanischen Kriegseintritt die deutsche Kriegsmaschine bedienten.
Diesen ehrenwerten Herrn oblag nun die Entnazifizierung, um „gute Deutsche“ zu
schaffen. Die politische Kontrollbehörde CCF, Theodor Adorno, Max Horkheimer
und Bertrand Russell u.a. sahen ihre Aufgabe darin, die Deutschen mittels
Radio, Film, Theater und Presse gleichzuschalten.
Das Spiel funktionierte so: Willkürlich wurde die Ursache des Dritten
Reiches in den deutschen „autoritären Charakter“ gelegt und sogar die
Klassiker mitverantwortlich gemacht. Die Verantwortung der internationalen
Finanzmacht und ihrer anglo-amerikanischen Helfer wurde ausgespart.
Was wollte der Kongreß für kulturelle Freiheit (CCF)?
Lord Bertrand Russell, einer der Ehrenvorsitzenden des CCF, gab die
Denkrichtung vor. In seinem 1951 erschienen Buch The Impact of Science on
Society (dt. Wissenschaft wandelt das Leben) schwärmt er über die zukünftige Gesellschaftskontrolle:
„Die Sozialpsychologen der Zukunft werden über Schulklassen verfügen, an
denen sie verschiedene Methoden ausprobieren, um die Überzeugung zu verankern,
daß Schnee schwarz sei. Der allgemeinen Bevölkerung wird es nicht erlaubt sein
zu wissen, wie ihre Überzeugungen erzeugt wurden. Wenn die Technik
perfektioniert wird, kann jede Regierung, die eine Generation lang für die
Erziehung verantwortlich ist, in der Lage sein, ihre Untertanen sicher zu
kontrollieren, ohne daß dazu Armeen oder Polizisten nötig sind.“
Sind aber nicht gerade jene, die Theater zur Kontrolle einsetzen,
verdächtig, die Menschen unterdrücken zu wollen?
Amerikanisches Exil
Schon in Amerika häuften sich die Probleme für Fritz Kortner. 1937 konnte
er in Filmrollen nicht mehr auftreten, weil er Jude war, denn die Filme wurden
auch in Deutschland gesehen. Die deutsche Enklave der Exilanten wie Max
Reinhardt, Carl Zuckmayer und Kortner wurde nicht heimisch in den USA. Max
Reinhardt beklagte die „Scheckkultur“ von Hollywood, nicht Qualität zähle,
sondern die Kassen mußten klingeln. Auch Kortner litt unter den
Geschäftsbedingungen der Filmindustrie, die ihn zum Selbstverrat nötigten. Mit
dem „Wochenscheck im Maul“ wollte er nicht reden.
Vom amerikanischen Theater trennte ihn nicht nur der auf puren Profit
orientierte Spielbetrieb, sondern auch die ganz andere Spielweise. Bei
Probeaufnahmen brachte er das ganze Studio zum Lachen, weil er mit den Augen
gerollt hatte. Kortners Kommentar dazu: „Sie erlauben es hier nur den Negern,
Kunst zu machen. Der weiße Mann hat sein Gesicht zu wahren.“ Und über den
amerikanischen Filmhelden witzelte er: „Wenn ich in meiner Tasche nach einem
Bleistift suche, dann ist das intensiver, als wenn er nach Gott sucht.“
Durch seine Diskussionen mit der vielgelesenen amerikanischen Journalistin
und Kolumnistin Dorothy Thompson nahm Fritz Kortner in seiner Exilszeit
Einfluß auf die politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten.
Der politische Kortner
Da Kortner als Schauspieler keine Anstellung mehr fand, beschäftigte er
sich mit Politik. Von New York aus beobachtete er alarmiert den Anschluß
Österreichs an Deutschland und den Kriegsausbruch, was ihn veranlaßte, tiefer
in wirtschaftliche und internationale Fragen einzudringen. So stand er hinter
der amerikanischen Regierung von Franklin D. Roosevelt. Er befürwortete die
wirtschaftlichen Regularien des „New Deal“, da er sie als Beschränkung des
übermächtigen Kapitalismus verstand. Er war auch überzeugt, daß Roosevelt sich
gegen Hitler wenden und nicht neutral bleiben würde, obwohl noch einige
US-Konzerne Hitler unterstützen. Die bekannte Schriftstellerin Dorothy
Thompson war ihm aus der Berliner Zeit gut bekannt. Jetzt war sie Journalistin
der einflußreichen New York Herald Tribune, und bald entwickelte sich
eine Freundschaft und reger politischer Gedankenaustausch.
Da Dorothy Thompson dem „free trade“ anhing und die Wahl des
republikanischen Kandidaten Wendell Willkie unterstützt hatte, kam es einer
Sensation gleich, daß sie im Oktober 1940 in ihrer Kolumne „On the Record“ zur
Wiederwahl Roosevelts aufrief. Roosevelts Wiederwahl für eine dritte
Amtsperiode galt 1940 allgemein als unwahrscheinlich.
Dieser Sinneswandel Thompsons ging auf die Überzeugungsarbeit Kortners
zurück. Der Stürmer, das Propagandablatt der Nazis, bildete ihn ab, wie
er als semitischer Teufel der Thompson Artikel diktiert. Kortner wurde mit der
Zeit einer der engsten Berater der Journalistin, die nach der
Präsidentengattin Eleonore Roosevelt die prominenteste Frau Amerikas war.
Thompsons Schwenk auf Roosevelts Seite war von großer Bedeutung, wenn nicht
ausschlaggebend für die Wiederwahl und mitentscheidend für den Kriegseintritt
Roosevelts gegen Hitler. Durch diesen publizistischen Streich verlor sie zwar
ihren Posten bei der Zeitung, aber keineswegs ihre Autorität. Churchill soll
geäußert haben, als er hörte, wer hinter Thompsons Leitartikeln für Roosevelt
stehe: „Was denn, ein Schauspieler?“
Lehrjahre in Wien
Mit 15 Jahren wurde Kortner die Tiefe der deutschen Sprache am Burgtheater
in Wien durch den Schauspieler Josef Kainz eröffnet. Er sah ihn in allen
großen Rollen, sei es Mark Anton (in Shakespeares Julius Cäsar),
Mephisto (in Goethes Faust) oder Don Carlos (in Schillers Don
Carlos), und war elektrisiert. Wann immer Kainz auftrat, Kortner war
dabei. Er wollte wie sein Idol Schauspieler werden. Beim ersten Vorsprechen
entdeckte sein Lehrer Prof. Gregori, daß der „Theaterteufel“ in ihm stecke.
Alle Einwände seiner Freunde, die gegen seinen Wunsch sprachen – seine
Introvertiertheit, die genuschelte Sprache, sein Aussehen –, schlug er in den
Wind.
Grundlegend für die Ausbildung war die Sprechkunst: Vokalisierung,
Konsonantierung, Akzentuierung, Gliederung des Verses, des Gedankens. Bei der
szenischen Arbeit wurde der Schüler gefragt: Wo kommt der Mensch her, den ich
zu gestalten habe? Welches Leben hat er hinter sich? Was sagt der Dichter über
ihn? Was will er in der Szene? Was will die Szene selber? An welchem Punkt
steht die Handlung bei seinem Auftritt?
Diese Fragen wurden wie Facetten eines Diamanten verstanden. Die
gleiche Szene wurde immer aus diesen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es
galt, immer das Ganze zu erfassen, nicht nur einen Teil. Aber das Ganze lag in
der Vielheit.
Das wirkliche Lernen fand nach der Schauspielschule statt, behauptete
Kortner. Neben Josef Kainz war Albert Bassermann das große Vorbild. Von ihm
lernte er, wie man sich einer Rolle näherte, wie man sie mit
Lebenswirklichkeit durchdringt. Dieser unerbittliche Maßstab war die Meßlatte
seiner späteren Regiearbeit. „Ich quäle Sie, ich foltere Sie und komme dafür
in die Hölle, weil ich will, daß Sie gut werden“, ist einer der Aussprüche zu
seinen Schauspielern.
Vergänglichkeit der Schauspielkunst
Bereits mit seiner ersten Regiearbeit in Deutschland nach dem Krieg, der
Komödie Donauwellen in München, verblüffte Kortner die Kritiker. Sie
lobten die Leistung des Regisseurs in den höchsten Tönen: „Was hat Kortner mit
dem Ensemble gemacht?“ „Hat er ihm eine Spritze gegeben?“ „Ich sah seit langem
nicht solche Dichte im Spiel, solch durchgehend schauspielerische Höhe…“
Was trieb Kortner zu dieser Regieleistung an? Er hatte die besten
Mannesjahre im Exil verbracht und mußte seine Spätjahre zu seinen besten
machen. Er war sich der Vergänglichkeit der Schauspielkunst bewußt, deshalb
haßte er die flache Sinnlichkeit des Regietheaters, die Schmerz nur als
Grimasse und Freude nur als Lachen abliefert. Er schrieb: „Eine Skulptur oder
ein Gemälde bleibt, aber nach der Aufführung zerfällt alles wieder in seine
Teile. Der eine steigt auf sein Fahrrad, der andere in die Straßenbahn, und
fort ist alles.“ Da nichts bleibt, muß im Vergänglichen etwas Bleibendes
geschaffen werden. Schon Schiller schrieb:
Schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr Preis,
Drum muß der Spieler geizen mit der Gegenwart,
Den Augenblick, der sein ist, ganz erfüllen,
Muß seiner Mitwelt mächtig sich versichern
Und im Gefühl der Würdigsten und Besten
Ein lebend Denkmal sich erbauen.
So nimmt er sich seines Namens Ewigkeit voraus.2
Diese innere Leidenschaft teilte Kortner mit Schiller. Seine
unerschöpfliche Inspiration, verbunden mit rastloser Denkarbeit, führte zu
immer neuen Proben. Dieser hohe Anspruch, den Kortner an sich und andere
stellte, ängstigte die schwächeren Schauspieler und faszinierte die Talente.
Er vermittelte nicht nur dieses Eindringen in die Rollenarbeit, sondern eine
Qualität in der Beziehung zur realen Welt. Er wollte mit wesentlichem Theater
den Menschen erreichen, also Herz und Geist des Zuschauers in Erregung setzen
und die Bühne, die weiter reicht als die Gesetze des Staates, in ihr Recht
setzen.
Kunst statt Naturalismus
Kunst ist niemals „natürlich“ oder sinnlich. Das ist keine Frage des Stils,
sondern es hat mit der Natur der Kunst zu tun. Alle Kunst ist Verwandlung.
Ganz gleich ob Schauspieler, Dichter oder Maler, der Künstler muß den
natürlichen Stoff verwandeln, den er anrührt – beim Schauspieler ist es der
Text – und in eine Form bringen. Das ist das Wesen des Kunstgelingens oder
-mißlingens. Schiller klagte, wie zäh es voranging, die Geschichtsstoffe, die
er für ein Drama bearbeitete, in Form zu bringen:
„Phantastische Gebilde willkürlich aneinanderreihen, heißt nicht ins Ideale
gehen, und das Wirkliche nachahmend wieder bringen, heißt nicht die Natur
darstellen. Beide Forderungen stehen so wenig im Widerspruch miteinander, daß
sie vielmehr – eine und dieselbe sind; daß die Kunst nur dadurch wahr ist, daß
sie das Wirkliche ganz verläßt und rein ideell wird.“1
Dieses Rätselwort verstand Kortner – das Wirkliche verlassen und doch
wirklich sein. Das Wichtigste seiner Regie war sein Mißtrauen der
Sinnesgewißheit gegenüber. Es gab für ihn keine Natürlichkeit des Sprechens,
des Gehens, der Mimik; alles mußte dem Kopf unterworfen werden. Denn gerade
die denkfaulen Gefühlsnaturen pflegen sich immer für die falsche Sache zu
begeistern.
Ein Grundsatz seiner Persönlichkeit lautete: „Der Denkwurm bohrt gerade in
meinem Kopf, wenn ich von meiner kunstnahen Berufsarbeit absorbiert bin. Immer
wird mir nahegelegt, das doch so kunstferne Denken mir aus dem Kopf zu
schlagen. Aber gerade dann stellt es sich ein. Es beschwört den Kopf, im Wust
der Leidenschaft und Besessenheit, die seinen Träger befällt, den obersten
Platz zu behaupten. Es beschwört ihn, darauf zu achten, daß ich ihn, den Kopf,
im Dschungel nicht verliere, wenn ich dem Geheimnis des Stückes auf den Fersen
bin.“
Wie nähert man sich der Idee des Stücks?
Alles beginnt mit dem Text, dem Text und nur dem Text. Beim „Regietheater“
aber beginnt alles mit Streichen, Streichen, Streichen. Kortner strebte keine
vorsätzliche Originalität an, nicht den Wunsch, zu provozieren, sondern die
konsequente Ausdeutung der Vorlage: vom Buch bis zur Bühne. „Dieser Weg führt
zum Erkennen jener primären Umstände, die die ins Leben zu rufenden Gestalten
zu sprechen zwingen, zu gehen, sitzen und stehen. Ich versuche, den Zustand
aufzuzeigen, der die Texte sprechen läßt, und sie nicht der Rezitationslust
der Schauspieler zu überlassen.“
Dieser Prozeß beginnt mit der Lektüre des Dramas, die alle konventionellen
Vorstellungen und Lesegewohnheiten beiseite räumt. „Sie lesen wie kein
anderer“, schrieb der Kritiker Iwan Nagel an Kortner. „Sie lesen argwöhnisch,
lauernd darauf, daß sich Könige und Helden widerwillig verraten, daß sie mit
ihren Worten und gegen ihre Worte preisgeben, wer sie sind.“
Folglich war für Kortner Regie ein Vervollkommnungsprozeß an Erkenntnis.
Das „nie fertig“ war ein Synonym für Kortners Arbeit. Wo die normale Regie nur
eine Vorlage zu bieten hatte, ließ Kortner sieben Vorlagen proben. Jeden Tag
legte er einen anderen Schwerpunkt, was eine große geistige Anstrengung seinen
Schauspielern abverlangte. Mit den aus dem Text destillierten Zuständen,
Gedanken, Situationen, galt es eine Form zu schmieden, die das Regietheater
ablehnt.
Sein „Bearbeiterblick“ näherte sich aus dieser Perspektive dem Ideal des
Stückes, das dem Dichter vielleicht vorgeschwebt hatte. Er verleitete oder
zwang seine Schauspieler, sich alle mitgebrachten Muster aus dem Kopf zu
schlagen und sich bedingungslos den fruchtbringenden Proben Kortners
auszuliefern. In den Proben wurde nun in der umständlichsten Prüfung alles auf
Stimmigkeit von Intention und Vorgang geprüft. In seinen Worten: Alles wurde
der Wahrheit des Ausdrucks unterworfen. Kein Ergebnis langer Probestunden war
so stabil, daß es tags darauf nicht wieder umgestoßen werden konnte.
„Ich empfinde die Größe jeder Szene bei Shakespeare und bin mir immer
wieder schmerzlich bewußt, daß ich sie bestenfalls nur annäherungsweise
erreiche. Aber ich muß doch versuchen der Vollkommenheit so nahe wie möglich
zu kommen.“ Er haßte den Durchschnittsschauspieler, der mit einem Mißgebilde
von falschem Ton und nichtssagender Krampfgebärde Schmerz und Freude
abliefert, um den Abonnenten eilfertig zu bewirten.
Ausdrücke von Angst [oben links], Wut [oben rechts] (Zeichnung von
C. Le Brun, ca 1760) ...
... und Selbstbetrachtung (Rembrandt van Rijn, Selbstportrait, ca. 1665).
Theater ist nicht Ausdruck, sondern Erkenntnisvorgang
Doch was ist Ausdruck? Meint man nicht allgemein, ein Gesicht voller
Ausdruck sei ein verzerrtes Gesicht, eine Grimasse? Oder ist es etwa nicht das
ruhige, versammelte Gesicht, von dem man sagt, es sei ausdrucksvoll – wie zum
Beispiel ein Portrait Rembrandts? Kortner pflegte zum Schauspieler zu sagen,
wenn sich in dessen Gesicht die Anstrengungen der Probenschwierigkeiten
widerspiegelten: „Lassen Sie das.“ Er strich dann mit der flachen rechten Hand
vor seinem Gesicht von unten nach oben, als zöge er einen Vorhang empor.
„Lassen Sie das. Machen Sie Platz für den Ausdruck.“
Will Theater wirken und befreien, so ist die Kreativität der Entdeckung und
nicht Überrumpelung das Leitmotiv. Folgende Schritte leiteten ihn:
1. Es muß Platz sein für den Ausdruck. Ohne Platz kein Ausdruck. Wäre die
Wasseroberfläche immer bewegt, würde man das Aufkommen des Sturms nicht
bemerken.
2. Der Ausdruck ist nicht immer vorhanden. Er entsteht. Seine Entstehung
ist interessant.
3. Wie entsteht er nun? Er wird gerufen. Er wird hervorgerufen durch
innere und äußere Erlebnisse. Aber Ausdruck ist nichts Mechanisches. Er ist
der Fingerabdruck der eigenen moralischen und intellektuellen Instanz.
Kommt Kortner mit diesem „Kompaß“ nicht Schillers Forderung an die Kunst
ziemlich nahe? Denn der schöpferische Akt ist geistig. Wer Kunst in die Sinne
fallen läßt, wird nur ein Marktprodukt mit Verfallsdatum liefern. Für eine
Renaissance des Theaters sind Schiller und Kortner unersetzlich.
Fußnoten
1. Friedrich Schiller: Braut von Messina, Vorrede „Über den Gebrauch
des Chors in der Tragödie“.
2. Schiller: Wallenstein, Prolog, gesprochen bei Wiedereröffnung der
Schaubühne in Weimar im Oktober 1798 vor der Aufführung von „Wallensteins
Lager“.
Quellen
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