Jenseits von Geopolitik und Polarität: Eine Zukunft für die
Menschheit
Von Helga Zepp-LaRouche
Helga Zepp-LaRouche hielt am 7. April auf der Konferenz des
internationalen Schiller-Instituts in New York die programmatische
Eröffnungsrede. Es folgt der übersetzte Wortlaut dieser Rede.
Liebe Gäste und Freunde des Schiller-Instituts, diese Konferenz findet an
einem sehr ernsten Moment der Weltgeschichte statt, und wir verfolgen damit
kein geringeres Ziel als das, was mein Ehemann Lyndon LaRouche mit dem
Manhattan-Projekt definiert hat: Wir müssen die Vereinigten Staaten wieder zu
ihren Gründungsprinzipien zurückführen. Die Vereinigten Staaten müssen von
ihrer derzeitigen imperialen Orientierung wegkommen - d.h. von der Idee, eine
unipolare Welt anzustreben - und wieder die Identität einer Republik annehmen,
wie sie die Gründerväter in der Verfassung vorgesehen haben.
Nach Ansicht fast der gesamten Welt ist es unmöglich, dieses Ziel zu
erreichen. Ich kann Ihnen versichern, daß denkende Menschen außerhalb der USA
meinen, die Vereinigten Staaten seien ein hoffnungsloser Fall - und das ist
eine sehr verbreitete Ansicht. Viele Leute reisen nicht mehr in die
Vereinigten Staaten, da sie der Auffassung sind, die USA seien ein Ort des
Grauens geworden. Doch daran, die Vereinigen Staaten wieder in eine Republik
zu verwandeln, entscheidet sich aller Wahrscheinlichkeit nach das Schicksal
der gesamten Menschheit.
Derzeit liegt eine absolut unheimliche Spannung in der Luft, denn viele
Leute sagen es zwar nicht laut, wissen aber, daß wir derzeit einem dritten
Weltkrieg näher sind als damals auf dem Höhepunkt der Kubakrise.
Militäranalysten haben sich entsprechend geäußert, und zudem gibt es keine
Friedensbewegung. Es geht niemand auf die Straße und spricht davon, daß wir
dem dritten Weltkrieg nahe sind. In den 1980er Jahren waren in Deutschland
Hunderttausende auf der Straße, um gegen die Stationierung der SS-20 und der
Pershing-2 zu demonstrieren. Aber heute, wo die Lage viel gefährlicher ist und
Fachleute warnen, daß, wenn es zu einem Zwischenfall kommt, die Vorwarnzeit
zur Einleitung eines allgemeinen thermonuklearen Krieges nur drei bis sechs
Minuten beträgt, demonstriert niemand.
Nur einige wenige Leute sprechen darüber, während die große Mehrheit der
Bürger in den Vereinigten Staaten und Europa wie die Lemminge auf die Klippe
zumarschieren.
Ich möchte den Fall eines 78jährigen Rentners hervorheben, eines
pensionierten Lehrers aus Kaiserslautern, dessen Klage in dritter Instanz vom
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig abgewiesen wurde. Er wollte die
Bundesregierung verklagen, weil sie den Vereinigten Staaten erlaubt, auf dem
Luftwaffenstützpunkt in Ramstein ein Steuerungssystem für Drohnen zu
betreiben, ohne das die USA keine Drohnen im Nahen Osten und anderswo
einsetzen könnten. Das verstoße gegen das Grundgesetz, das es Deutschland
untersagt, einen Angriffskrieg zu führen oder anderen Ländern dabei zu helfen.
Die Richter urteilten wie bereits die Vorinstanzen, daß bei völkerrechtlichen
Angelegenheiten nur Staaten und nicht einzelne Bürger klagen dürften. Der
pensionierte Lehrer will nun vor das Verfassungsgericht in Karlsruhe
ziehen.
Man fühlt sich fast an die Erzählung im Alten Testament erinnert, wo Gott
beabsichtigte, Sodom und Gomarrah wegen ihres sündigen Verhaltens zu
bestrafen, doch dann davon absehen wollte, wenn es zehn Gerechte gäbe. Und ich
muß die Frage stellen: Gibt es zehn Gerechte, die heute aufstehen werden?
Die strategische Lage
Bevor ich zu der Lösung komme, wie wir die Krise überwinden können, möchte
ich die äußerst düstere strategische Lage beschreiben. Derzeit findet ein
12tägiges Militärmanöver mit dem Namen „Schulter an Schulter“ unter
Beteiligung der Vereinigen Staaten, der Philippinen, Australiens und Japans
statt. Erstmals überhaupt wird US-Verteidigungsminister Ash Carter persönlich
ins Manövergebiet bei den Philippinen reisen. Erst gestern erklärte Ash
Carter, die Feinde der Vereinigten Staaten seine erstens Rußland, zweitens
China, drittens Iran, viertens Nordkorea und fünftens - oh ja, da ist auch
noch der Terrorismus.
Parallel dazu findet bis Ende April das größte jemals abgehaltene
amerikanisch-südkoreanische Militärmanöver statt, wozu eine amphibische
Landungsübung gehört, um die Besetzung einer der umstrittenen Inseln im
Südchinesischen Meer zu simulieren. Das philippinische Militär entsendet dazu
auch ein hochmobiles amerikanisches Raketensystem, das für den Abschuß von
Flugzeugen entwickelt wurde. Praktisch zum ersten Mal nehmen auch Australien
und Japan an diesen Übungen teil, wohinter der Versuch steht, eine vierseitige
militärische Gegenfront gegen China aufzubauen.
In der Region spielen sich weitere Dinge ab. Vor zwei Wochen gestatteten
die Philippinen im Rahmen eines neuen Militärabkommens den USA Zugang zu fünf
ihrer Stützpunkte nahe den umstrittenen Gewässern im Südchinesischen Meer. Das
verstößt zwar gegen die philippinische Verfassung, doch das wurde dadurch
umgangen, daß die US-Truppen auf den philippinischen Stützpunkten bleiben, wo
die Verfassung nicht gilt. Auch in Japan trat letzten Dienstag ein neues
Sicherheitsgesetz in Kraft, das mit der pazifistischen Verfassung Japans
bricht, um die Allianz mit den Vereinigten Staaten zu stärken, und die
Regierung ermächtigt, das Recht auf kollektiven Selbstschutz auszuüben.
Die ganze Welt horcht auf: Bedeutet dies, daß Japan zu seiner
militaristischen Vergangenheit zurückkehrt?
In Japan herrscht derzeit einen Tendenz vor, sich mit anderen
zusammenzutun, die Anspruch auf umstrittene Territorien [im Südchinesischen
Meer] erheben, um China einzudämmen.
Wo wird all das hinführen? Chinas Position zu den Gewässern im
Südchinesischen Meer ist mit der sogenannten Neun-Striche-Linie festgelegt,
mit der Beijing Territorien markiert, die historisch zu China gehören, wobei
sie auch das Recht beanspruchen, dem Meer Land abzugewinnen und auf den
Spratly-Inseln Stützpunkte zu errichten. China gibt - zu recht - zu, daß dies
eine Verletzung der Freiheit der Meer darstelle, aber dadurch würden die
Lebensumstände der dort lebenden Menschen verbessert und Piraten könnten
besser bekämpft werden; die Durchfahrt anderer Schiffe werde nicht
behindert.
Die Philippinen reichten 2013 dagegen Klage beim Internationalen
Gerichtshof in Den Haag ein, um ihr Nutzungsrecht in einer exklusiven
100-Meilen-Wirtschaftszone im Südchinesischen Meer geltend zu machen, wie
diese im UN-Seerechtskonvention definiert ist. China erklärte, es werde den
Schiedsspruch des Gerichts nicht akzeptieren, was sein gutes Recht ist, und
stellte die Rechtmäßigkeit der Klage in Frage. Daraufhin hätte der Gerichtshof
die Klage eigentlich abweisen müssen, doch er akzeptierte sie, und ein Urteil
wird für Ende April/Anfang Mai erwartet. Das chinesische
Verteidigungsministerium erklärte, man habe das absolute Recht, eine
Luftraumüberwachungszone einzurichten.
Auf dem Nukleargipfel, der gerade in Washington stattgefunden hat, erklärte
Präsident Xi im persönlichen Gespräch mit Obama, China werde kein hinter der
Freiheit der Schiffahrt verstecktes Verhalten akzeptieren, welches die
Souveränität in der Region verletzt. Nur einen Tag später kündigten die
Vereinigten Staaten eine neue Patrouillenfahrt nahe der umstrittenen Inseln im
Südchinesischen Meer an und Marinesprecher erklärten, man plane in der Zukunft
weitere und zunehmend komplexe Manöver. Die Vereinigten Staaten spielen also
mit China das Angsthasen-Spiel, um im Vorfeld der Haager Entscheidung die
Spannungen über Verletzungen entgegengesetzter Ansprüche zu erhöhen und eine
Atmosphäre zu erzeugen, in der es dann China nicht wagen werde, eine
Luftraumüberwachungszone einzurichten.
Das Südchinesische Meer hat offensichtlich für China große geographische
Bedeutung, wohingegen die Vereinigten Staaten rein geopolitische Interessen
verfolgen, genauso wie hinter dem TPP die Überlegung steckt, das Recht zu
bekräftigen, in Asien die Spielregeln zu bestimmen. Die USA bestehen auf einer
unipolaren Welt, in der sie die einzige Supermacht sind, und kein anderes Land
dürfe sich dagegen auflehnen. Obamas Behauptung, Rußland sei nur eine
Regionalmacht, ist vollkommen absurd, wenn man bedenkt, daß Rußland über ein
nukleares Arsenal verfügt, das strategisch völlig mit dem der USA mithalten
kann. Zudem demonstrierte Putin mit seinem brillanten militärischen
Flankenmanöver gegen den Islamischen Staat, daß es bei einer politischen
Lösung nicht ohne Rußland geht. Rußland spielte eine positive Rolle bei den
P5+1-Verhandlungen mit dem Iran, und hilft jetzt dabei, eine Ende des Kriegs
in Syrien zu ermöglichen.
Imperiale Absichten werden bekämpft
Viele führende Persönlichkeiten auf der Welt haben gesagt, ohne Rußland
könnten existentielle Probleme nicht gelöst werden, wie der Terrorismus, der
Islamische Staat oder die Flüchtlingskrise in Europa. Zudem sollte man
bedenken, daß hinter den territorialen Streitigkeiten im Südchinesischen Meer
imperiale Absichten stecken, die bis auf den Versailler Vertrag und die
anschließende Pariser Friedenskonferenz 1919 zurückgehen, wobei die früheren
deutschen Inselkolonien im Pazifik nördlich und südlich des Äquators teilweise
an Japan fielen, was damals in China ein Gefühl hochgradiger Ungerechtigkeit
auslöste und zur Entstehung der Bewegung des 4. Mai1 führte. Alle
in China dachten, der Versailler Vertrag sei ein großer Betrug, und wie wir
aus der europäischen Geschichte wissen, legte er den Keim für den Zweiten
Weltkrieg.
Das gleiche Spiel wiederholte sich bei der Friedenskonferenz von San
Francisco nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der John Foster Dulles dafür sorgte,
daß China ausgeschlossen wurde, obgleich China im Kampf gegen die Japaner die
meisten Opfer zu beklagen hatte und auch am längsten gekämpft hatte. So
erstellten die Westmächte die Landkarte in Ostasien ohne China, und John
Foster Dulles erklärte bestimmte asiatische Grenzgebiete für herrenlos - ein
alter imperialer Trick, um zukünftige Konflikte vorzuprogrammieren, wie es
auch mit dem Sykes-Picot-Abkommen für Südwestasien oder dem Trianon-Vertrag
für den Balkan 1919 der Fall war.
Tatsache ist, daß es die unipolare Welt bereits gar nicht mehr gibt. China
befindet sich im Aufstieg, und die Vereinigten Staaten büßen ihre
Vormachtstellung ein. China exportiert bereits weit mehr Technologien als die
USA. Es bildet weit mehr Wissenschaftler und Ingenieure aus, und in der
Wissenschaftsgemeinde heißt es bereits, daß man nach China gehen muß, wenn man
in der Spitzenforschung etwas erreichen will.
Abgesehen von einigen kleinen Korrekturen an der Börse geht es China
wirtschaftlich außerordentlich gut. Glauben Sie nicht, was die New York
Times Ihnen jeden Tag einzureden versucht. China verfolgt die Strategie
der Neuen Seidenstraße, der Maritimen Seidenstraße, der Politik „Ein Gürtel,
eine Straße“ für große Infrastrukturprojekte, um alle Länder Eurasiens durch
Infrastrukturkorridore und Hochtechnologie-Investitionen miteinander zu
verbinden. Diese Politik ist so attraktiv, daß bereits 60 Länder mit China
kooperieren. Zusammen mit den anderen BRICS-Ländern hat China ein vollkommen
anderes Wirtschaftssystem geschaffen - so die AIIB, die sofort 60
Gründungsmitglieder gefunden hat, obwohl die Vereinigten Staaten ungeheuren
Druck ausübten, ihr nicht beizutreten, so die Neue Entwicklungsbank, die
bereits in diesem Jahr ihre Arbeit aufgenommen hat, so der Fonds der Neuen
Seidenstraße und der Fonds der Maritimen Seidenstraße und viele weitere
derartige Institutionen.
Das Programm der Neuen Seidenstraße im Geiste der alten Seidenstraße durch
ganz Asien entfaltet eine gewaltige Attraktivität, und jeder spricht
inzwischen davon, die asiatische Vernetzungsdichte zu erhöhen.
Die Investitionen dieser neuen Banken fließen genau in jene Bereiche, die
IWF und Weltbank seit Jahrzehnten vernachlässigt haben - namentlich die
Infrastruktur -, wobei alle diese Länder genau nach dieser Art der Entwicklung
dürsten. Viele Länder haben in jüngster Zeit ihr Interesse daran bekundet,
Transportdrehscheiben für die Neue Seidenstraße und die Maritime Seidenstraße
zu werden - beispielsweise Indonesien, Sri Lanka, Afghanistan oder der Iran.
Die Neue Seidenstraße breitet sich rapide in ganz Osteuropa aus. Soeben war
Präsident Xi Jinping auf Staatsbesuch in der Tschechischen Republik, wobei
Präsident Zeman die Neue Seidenstraße rühmte und die Rolle von Prag, der
Goldenen Stadt, als Tor zwischen Europa und China betonte. Die 16 ost- und
mitteleuropäischen Länder haben sich gerade in Riga getroffen, und alle wollen
sich der Politik von „Ein Gürtel, eine Straße“ anschließen.
Das entwickelt sich also sehr, sehr positiv.
Der Bankrott des transatlantischen Systems
Man stelle dem das transatlantische System mit seinen
Too-big-to-fail-Banken, der Wall Street und London gegenüber, die alle
vollkommen bankrott sind. Wir stehen unmittelbar vor einem Finanzkrach, der
weitaus schlimmer sein wird als 2008, und die gesamten ausstehenden Derivate
von zwei Billiarden Dollar könnten sich jederzeit in Luft auflösen.
Darüber hinaus funktionieren die sogenannten Werkzeuge der Zentralbanken
nicht mehr. Tatsächlich ist es sogar so, daß inzwischen jeder Versuch einer
Zentralbank, das Problem zu korrigieren, den gegenteiligen Effekt hat, wie
etwa im Fall der japanischen und norwegischen Zentralbank oder der EZB. Wenn
die Zinsen auf null gesenkt oder sogar negative Zinsen erhoben werden,
beschleunigt dies den deflationären Kollaps, anstatt die Realwirtschaft zu
stimulieren.
Wie verzweifelt die Lage des transatlantischen Systems ist, läßt sich daran
ablesen, daß EZB-Chef Draghi jetzt von Helikoptergeld spricht. Wenn Sie sich
noch an [den früheren US-Zentralbankchef] Ben Bernanke erinnern, steht
dahinter die Idee, zur Abwendung einer totalen finanziellen Kernschmelze mit
Hubschraubern über die Städte zu fliegen und soviel Geld abzuwerfen, wie zur
Rettung des Finanzsystems erforderlich ist. In Deutschland hat das große
Entrüstung ausgelöst, denn viele in Deutschland erinnern sich noch an die
Hyperinflation von 1923 und deren Folgen.
Betrachten wir den Zustand Europas. Die Flüchtlingskrise, über die hier in
den USA wenig diskutiert wird, ist ja tatsächlich die Folge der vielen Kriege,
die vor allem von den Vereinigten Staaten und den Briten im Nahen Osten
angefangen wurden - Kriege, die alle auf Lügen gründeten: Im Irak wurden keine
Massenvernichtungswaffen gefunden, bei dem Krieg gegen Libyen wurde der
UN-Sicherheitsrat belogen, daß es kein Krieg sein werde, und in Afghanistan
muß man sich fragen, ob der 11. September wirklich das war, als was er
hingestellt wurde. Das gleiche gilt für die Situation im Jemen und vielen
afrikanischen Ländern.
Die Flüchtlingskrise, die wahrscheinlich größte humanitäre Krise seit dem
Zweiten Weltkrieg mit unglaublichen Menschenschicksalen, hat offenbar werden
lassen, daß es keine Europäische Union gibt, weil sie keine Union ist. Es gibt
keine Gemeinsamkeit. Es gibt keine Solidarität. Vielfach ist es so, daß Kinder
hinter Stacheldraht festsitzen und die Polizei auf sie schießt, um sie zu
vertreiben. Und jetzt wurde der absolut schändliche Pakt zwischen der EU und
der Türkei geschlossen - einer Türkei, die eben dem UN-Sicherheitsrat
vorgelegten Dokumenten zufolge nach wie vor den Islamischen Staat
unterstützt.
In Deutschland frohlocken die Politiker über die rückläufigen
Flüchtlingszahlen. Aber was ist der Preis dafür? Sie werden in großer Zahl aus
den Internierungslagern in Griechenland in die Türkei deportiert, was eine
große Schande ist. Selbst die UN-Menschenrechtskommission erklärte, daß dies
eine grobe Verletzung der Menschenrechte sei. Dies verstößt gegen die Genfer
Flüchtlingskonvention, und fast alle Hilfsorganisationen, darunter die Ärzte
ohne Grenzen, haben ihre Arbeit eingestellt, weil sie unter diesen Bedingungen
nicht mehr arbeiten können.
Das Spiel der „sauberen Hände“
Die Welt befindet sich eindeutig in einem völligem Chaos und
Auflösungszustand. Doch was ist die Antwort der führenden transatlantischen
Institutionen?
Ein Trick ist, daß sie mit den sogenannten Panama-Papieren ein großes
Kaninchen aus dem Hut gezaubert haben. Schon vor einem Jahr hatte eine anonyme
Quelle - was immer schon verdächtig ist - der Süddeutschen Zeitung 11,5
Mio. Dokumente zugespielt, die Unterlagen aus 40 Jahren Tätigkeit der
panamaischen Kanzlei Mossack Fonseca enthielten, die sich auf die Einrichtung
von Briefkastenfirmen zum Zweck der Steuerhinterziehung spezialisiert hatte.
Das Internationale Konsortium von Enthüllungsjournalisten (ICIJ) setzte
daraufhin 400 Reporter aus 80 Ländern an die Sichtung der Dokumente -
finanziert von keinem anderen als George Soros. So gerieten Politiker,
führende Industrielle, Sportgrößen und andere ins Visier.
Als erstes nahm man sich natürlich Präsident Putin vor, obgleich dessen
Name in den Papieren gar nicht vorkam, und Xi Jinping. Die New York
Times versäumte von Anfang an keinen einzigen Tag, diesen Angriff auf Xi
Jinping voranzutreiben.
Betrachten wir uns die ganze Sache etwas genauer. Was steht dahinter? Der
Vater von Jürgen Mossack, einem der Gründer der Kanzlei, war Mitglied von
Hitlers Waffen-SS, und sein Partner Ramón Fonseca Mora war Expräsident der
Panamenista-Partei, einer von dem offenen Hitler-Anhänger Arnulfo Arias Madrid
gegründeten Vereinigung. Der Sohn war aktiv am Sturz von General Noriega
beteiligt. Nach dem Krieg diente der alte Mossack seine Dienste der
amerikanischen Regierung als Informant an. Und dieses ganze Profil riecht nach
der berühmten Rattenlinie der Dulles-Brüder, über die alte Nazis aus
Deutschland nach Südamerika transportiert wurden, um sie dort für andere
Aufgaben einsetzen zu können.
Das Schlaglicht auf Xi Jinping ist genauso lächerlich, denn wenn es einen
führenden Politiker auf der Welt gibt, der eine schonungslose
Anti-Korruptionskampagne betreibt, dann ist das Xi.
Was wird also bezweckt? Offenbar ist dies Teil des transatlantischen
Hybridkriegs gegen Rußland und China, mit dem Ziel, mit verschiedenen Mitteln
einen Regimewechsel zu erreichen - durch Farbrevolutionen, durch NGOs, die von
Stiftungen finanziert werden, die wahrscheinlich in das
Steuerhinterziehungs-Schema passen, durch Sanktionen und jetzt durch die
Panama-Papiere, die zweifellos einen Aufruhr in den jeweiligen Ländern
auslösen sollen. Im Fall des isländischen Premierministers hat dies sogar
funktioniert, denn vor dem Parlament und dem Wohnsitz von Präsident Olafur
Grimsson demonstrierten die Menschen, wobei der modus operandi
keineswegs neu ist. Lange Zeit funktionierte das so, daß bestimmte Agenten der
Regierungen oder Geheimdienste eingesetzt wurden, die dafür sorgten, daß
kriminelle Tätigkeiten und Verhaltensweisen für gewisse Zeit anhielten. Zum
passenden Moment ließ man die Sache platzen und erzeugte eine Umbesetzung.
Das geschah sehr durchschlagend in Italien in den 90er Jahren mit der
Operation „Saubere Hände“ - umfangreiche juristische Ermittlungen gegen
politische Korruption. Am Ende platzte die Bombe und bedeutete das Aus für die
sogenannte Erste Republik Italiens, denn alle Parteien waren darin verwickelt.
Jeder, der einmal in Italien war, weiß, daß das gesamte italienische
Nachkriegssystem auf einem Prinzip aufbaute, das man „amici di amici“
nannte. Man mag das nicht gutheißen, aber so war das; nichts funktionierte
ohne ein gewisses Schmiergeld. Vor allem öffentliche Aufträge wurden
regelmäßig geschmiert, und das ganze nannte sich dann Tangentopoli oder
„Stadt der Schmiergeldzahlungen“. In Italien waren damals 5000 öffentliche
Bedienstete und das halbe italienische Parlament darin verwickelt; mehr als
400 Stadt- und Kommunalparlamente wurden aufgelöst, und die Höhe der
jährlichen Schmiergelder wurde in den 90er Jahren auf 4 Mrd.$ geschätzt.
Bloomberg hat vor kurzem gemeldet, daß die
„Anti-Korruptionskampagne“ gegen die brasilianische Präsidentin Dilma
Rousseff, eine führende Kraft in der BRICS, auf dem italienischen Modell
basiert. Dort heißt sie „Operation Autowäsche“.
Man geht dabei so vor, daß ein System gerichtlicher Vergleiche eingerichtet
wird, Mafiabosse werden zu Informanten gemacht, und so läßt sich das gesamte
politische System aufrollen. Das Ergebnis ist äußerst vielsagend, denn man
erkennt dahinter den völlig kriminellen Charakter des gesamten
transatlantischen Finanzsystems.
Im Fall von Mossack Fonseca ist es so, daß diese Kanzlei nur die
viertgrößte derartiger Einrichtungen ist, so daß man davon ausgehen muß, daß
es viele, viele weitere derartige Geschäfte gibt. Außerdem hat man
festgestellt, daß 20% dieser Briefkastenfirmen über die HongShang-Bank (HSBC)
laufen, gefolgt von der schweizerischen UBS und Crédit Suisse; auch fast alle
deutschen Banken sind daran beteiligt.
Was ist zu tun, wenn es solche Probleme gibt? Die einzige Möglichkeit, das
zu stoppen, liegt in dem, was Franklin D. Roosevelt (FDR) 1933 tat, als er das
Glass-Steagall-Gesetz zur Trennung der Banken erließ, um so die faulen Teile
sich selbst zu überlassen. Genau das müßte auch heute geschehen: Die Banken
müssen getrennt, die Geschäftsbanken geschützt und sämtliche Derivate und
toxischen Papiere abgeschafft werden. Dann muß eine Pecora-Kommission
eingesetzt werden, die untersucht, wer sich schuldig gemacht hat und
warum.
Eine lustige Sache war, daß neulich der britische Schatzkanzler Osborne
gefragt wurde, was er davon halte, daß der Vater von [Premierminister] Cameron
ebenfalls in die Affäre der Panama-Papiere verwickelt sei, worauf er lediglich
antwortete: „Das ist seine Privatsache!“ Es ist schon erstaunlich, was für
einen Nerv diese Leute haben.
Die FDR-Lösung für die USA ist offensichtlich. Dann müssen sämtliche Krisen
auf der Welt einer Lösung zugeführt werden. Das ist absolut möglich, wenn man
dabei so verfährt, wie es sich an den Verhandlungen zwischen US-Außenminister
Kerry und dem russischen Außenminister Lawrow in der Syrienfrage gezeigt hat.
Es müssen politische Übereinkünfte gefunden werden.
Der Moment ist gekommen
Aber darüber hinaus brauchen wir riesige Entwicklungsprogramme. Es
muß genau das geschehen, was Präsident Xi Jinping bei seinem Besuch im Iran
angeboten hat, nämlich die Neue Seidenstraße, die Politik „Ein Gürtel, eine
Straße“ auf den gesamten Nahen Osten auszudehnen. Man kann den Terrorismus
nicht stoppen, indem man noch mehr Bomben abwirft! Wenn man noch mehr Drohnen
losschickt und noch mehr Bomben wirft, kann man zwar einen Terroristen töten,
aber gleichzeitig entstehen 100 neue, die den Westen noch mehr hassen als
zuvor.
Das ist also nicht die Lösung. Natürlich muß der Islamische Staat bekämpft
und ausgemerzt werden, doch gleichzeitig braucht man eine
Entwicklungsperspektive für die gesamte Region, von Afghanistan bis zum Nahen
Osten, dem Mittelmeerraum, vom Kaukasus bis zum Persischen Golf. Zudem muß der
Wüste der Krieg erklärt werden. Es muß neues Süßwasser in großem Stil erzeugt
werden, was mit dem friedlichen Einsatz der Kernenergie zur Entsalzung großer
Mengen Meerwasser absolut möglich ist. Es müssen neue Städte entstehen,
Landwirtschaft und Industrie müssen entwickelt werden, damit die Menschen in
Syrien, im Irak, in Afghanistan und dem Jemen, in Libyen und ganz vielen
anderen afrikanischen Ländern wieder eine Zukunft haben.
Warum können wir nicht Xi Jinpings Angebot aufgreifen, in eine
„Win-Win-Kooperation“ mit den großen Nachbarstaaten des Nahen Ostens -
Rußland, China, Indien, Iran, Ägypten - einzutreten, um den Nahen Osten nach
dem Vorbild des Marshallplans und der Neuen Seidenstraße wiederaufzubauen? Der
einzige Grund, warum ich den Marshallplan erwähne, ist, daß viele damit die
Vorstellung verbinden, kriegszerstörte Regionen mit einem Crashprogramm
wiederaufzubauen. Ich weiß, daß China dieses Wort nicht sehr mag, weil der
Marshallplan den Beigeschmack des Kalten Krieges hat. In jedem Fall brauchen
wir aber die Perspektive der Neuen Seidenstraße.
Das gleiche gilt offensichtlich für die Beilegung der Krise in der Ukraine.
Sie haben wahrscheinlich gehört, daß die Niederländer gestern in einem
Referendum gegen das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine gestimmt
haben. Das ist sehr, sehr gut, denn es bedeutet, daß diese schreckliche EU
ihrer Auflösung einen Schritt näher gekommen ist.
Wie Sie sich vielleicht erinnern, war es dieses Assoziierungsabkommen der
EU, das Ende 2013 beim Osteuropa-Gipfel in Vilnius von Janukowitsch hätte
unterzeichnet werden sollen, was die ganze Ukraine-Krise auslöste. Denn
Janukowitsch hatte im letzten Moment erkannt, daß es der NATO vollen Zugang
zum Territorium der Ukraine gegeben hätte, und es hätte aufgrund der Grenzen
und der Abkommen zwischen der Ukraine und Rußland einen Wirtschaftskrieg gegen
Rußland ermöglicht. Deshalb hat er im letzten Moment nicht unterschrieben. Und
dann gab es die Farbenrevolution, den Maidan - alle diese Dinge entwickelten
sich, und wenn man sich die Chronologie der Ereignisse anschaut, dann war der
Auslöser nicht, daß Rußland sich die Krim aneignete, Rußland reagierte
vielmehr immer auf Provokationen der NATO und der EU, nicht zuletzt auf den
faschistischen Putsch [in der Ukraine] im Februar 2014.
Wenn man dieses Problem lösen will, dann ist jetzt der ideale Moment, denn
das Assoziierungsabkommen mit der EU ist gerade geplatzt, es kann nicht
umgesetzt werden. Denn selbst wenn nur 32% der Niederländer abgestimmt haben,
61% haben dagegen gestimmt, und deshalb wird die niederländische Regierung
nicht wagen, dem Abkommen zuzustimmen, denn auch viele unter den 70%, die sich
nicht beteiligt haben, mögen die EU nicht. Vergessen Sie nicht, daß Holland
und Frankreich die beiden Länder waren, die 2005 gegen die EU-Verfassung
stimmten.
Die Stimmung gegen diese Diktatur, in die sich die EU verwandelt hat, ist
einfach zu stark, und das Lamentieren in den europäischen Medien über das
Scheitern dieses Abkommens ist sehr laut und geräuschvoll.
Nutzen wir also diese Lage. Wenn es ein Veto gibt, dann kann dieses
Abkommen nicht durchkommen. Nutzen wir das also und sagen wir: „Stoppt die
Konfrontation gegen Rußland!“ Erweitern wir die Europäische Union und Rußlands
Eurasische Wirtschaftsunion zu einem einzigen eurasischen Gebiet vom Atlantik
bis zum Chinesischen Meer, und erweitern wir die Perspektive der Seidenstraße,
um die Ukraine mit einzuschließen und zu entwickeln! Denn die Ukraine ist
wirtschaftlich absolut am Ende. Die Menschen leben unter schrecklichen
Bedingungen, aufgrund dessen, was in den letzten drei Jahren geschehen
ist.
Tun wir das gleiche für Afrika. Glaubt wirklich jemand, daß wir hier sitzen
können, während das eine Prozent der Reichen reicher und reicher wird - durch
Mittel, in die wir nun durch die Panama Papers besseren Einblick erhalten -,
während die Mehrheit der Menschen alles verliert? Die Mittelschicht verarmt,
das Leben der Armen wird verkürzt. Der Abstand zwischen Reichen und Armen
weltweit wird größer und größer, und eine Milliarde Menschen leiden jeden Tag
Hunger.
Klaus Schwab, der Direktor des Davoser Weltwirtschaftsforums, sagte vor
einigen Monaten, wenn der derzeitige Trend nicht geändert werde, dann müßten
wir damit rechnen, daß in den kommenden Jahren eine Milliarde Menschen
nach Europa kommen wird. Nun, wenn es dazu kommt, und die Bestrebungen laufen,
die Kriegsschiffe von NATO und Frontex dazu einzusetzen, auf die Flüchtlinge
zu schießen und sie abzuschrecken - was bleibt dann noch von den „europäischen
Werten“? Was ist mit unserem Humanismus? Was bleibt von irgendwelchen
Werten?
Warum verlegen wir uns nicht lieber auf die Seidenstraße und sagen: „Hier
haben wir jetzt ein sehr attraktives Wirtschaftsmodell, das bereits sehr gut
in 60 Nationen der Welt funktioniert. Reichen wir uns die Hände - die
Vereinigten Staaten, Rußland, China und die europäischen Nationen - und
entwickeln wir Afrika. Dies ist der Moment, in dem wir eine große Vision
brauchen, um die Not so vieler Menschen zu wenden.“
In Deutschland gibt es einen Minister - Entwicklungsminister Gerd Müller,
der viel in Südwestasien und in Afrika reist -, der nun jedesmal erwähnt: „Wir
brauchen einen Marshallplan, wir müssen diese Länder entwickeln, denn sonst
werden sie ihre Probleme nach Europa tragen.“ Das ist ein großer
Fortschritt.
Überzeugen wir Japan, daß es sich keinen Gefallen tut, wenn es sich in
militärische Abenteuer gegen China hineinziehen läßt. Japan ist ein Land, das
ähnlich wie Deutschland kaum Rohstoffe besitzt und einen sehr hohen
Lebensstandard erreicht hat, weil es sehr stark auf Wissenschaft und
Technologie setzt und exportiert, und der natürliche Exportmarkt für Japan ist
ganz Asien und Afrika. Sie sollten Teil eines solchen neuen
Weltwirtschaftssystems sein, und nicht den Weg gehen, den die Bank von Japan
jetzt verfolgt, mit Nullzinsen, Negativzinsen und einem immer tieferen Absturz
in die Deflation.
Und die Vereinigten Staaten?
Und die Vereinigten Staaten? Stehen sie so weit über allem, daß sie die
Neue Seidenstraße nicht brauchen? Ich kann nur sagen: Wenn man mit dem Auto
von Washington nach New York fährt, oder auch auf den Straßen in New York,
dann verstehe ich nicht, warum die Bürger nicht gegen solche Straßen einen
Aufstand machen! Die sind mindestens so schlecht wie die Straßen in
Ostdeutschland, in der Endphase der DDR, bevor sie kollabierte - und die waren
noch eben im Vergleich zu dem, was Sie hier haben!
Die Vereinigten Staaten würden offensichtlich davon profitieren, wenn sie
sich der Neuen Seidenstraße anschließen würden, um Infrastruktur aufzubauen.
China hat bis Ende letzten Jahres schon 20.000 km Schnellbahnstrecken gebaut,
und sie planen, bis zum Jahr 2025 oder 2030, jedenfalls in kurzer Zeit, auf
50.000 km zu kommen. Und wieviel Kilometer oder Meilen
Hochgeschwindigkeitsbahn haben die Vereinigten Staaten gebaut? Null!
Was wir vorschlagen, ist daher, daß die Vereinigten Staaten, anstatt ihre
industriellen Kapazitäten für den immer weiter wachsenden
militärisch-industriellen Komplex zu verschwenden und zu versuchen, die ganze
Welt zu militarisieren, diese Industrie umrüsten und damit Schnellbahnen und
Magnetbahnen bauen. Oder man importiert das chinesische Schnellzugsystem, das
exzellent ist. Es ist sehr ruhig, es ist schnell, es rüttelt überhaupt
nicht, wie die Schnellbahnen in Europa. Also: baut 50.000 Meilen Schnellbahnen
in Amerika! Bekämpft die Wüste im Südwesten der Vereinigten Staaten! Baut eine
ganze Serie neuer Städte - große Teile der Vereinigten Staaten sind ja
vollkommen unterentwickelt. Im Grunde wurden nach Teddy Roosevelt im Westen
der USA keine neuen Städten mehr gebaut. Baut „schlaue Städte“ - moderne
Städte auf der Grundlage modularer Systeme, aber baut schöne Städte!
Das wäre eine echte Herausforderung, wirklich schöne Städte zu bauen, und
nicht noch mehr wie Houston. [Applaus.]
Wir haben deshalb dieses Programm auf den Tisch gebracht: The New Silk
Road becomes the World Landbridge („Die neue Seidenstraße wird zur
Weltlandbrücke“). Und der Grund, warum wir eine Entwicklung für die ganze Welt
vorschlagen, ist der, daß auch „Multipolarität“ nicht die richtige Antwort auf
eine unipolare Welt ist. Denn die Idee, daß es mehrere Pole gibt - daß es
Gruppen von Nationen gibt, die immer noch ihre Interessen gegen andere Gruppen
von Nationen durchsetzen wollen -, trägt immer noch die Saat der Geopolitik in
sich. Und Geopolitik hat schon im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege verursacht,
und wenn es zu einem neuen Weltkrieg kommt, dann wäre das die Vernichtung der
gesamten Menschheit. Denn die Idee, daß man einen begrenzten Krieg irgendwo im
Pazifik oder irgendwo in Europa führen könnte, ist vollkommener Unsinn. Alle
Militärexperten, mit denen wir gesprochen haben - führende Militärs in Europa,
den Vereinigten Staaten und anderswo - sind überzeugt, daß es in der Natur der
Existenz von thermonuklearen Waffen liegt, daß es zu einem allgemeinen,
globalen Krieg kommt, wenn man irgendwo einen Krieg beginnt.
Wir müssen die Geopolitik durch ein neues Paradigma ersetzen - ein neues
Paradigma, das vollkommen anders sein muß, genauso wie das Mittelalter anders
war als das, was wir die Neuzeit nennen. Das Mittelalter, das war Scholastik,
Aberglaube, Flagellanten. Die Leute wurden schlicht verrückt, und sie glaubten
an Aristoteles. Als mit Nikolaus von Kues und einigen großen Denkern Italiens
die Renaissance begann, haben diese ein vollkommen neues Paradigma geschaffen,
in dem die Rolle des Individuums vollkommen anders definiert war: Es schuf den
souveränen Nationalstaat, als die erste Gesellschaft, die dem Gemeinwohl
gewidmet war, und es machte den Fortschritt in Wissenschaft und Kunst in einer
Weise möglich, wie man es bis dahin nicht gekannt hatte.
Genauso brauchen auch wir heute ein völlig neues Paradigma. Wenn wir unser
Denken nicht über das gegenwärtige, engstirnige, sogenannte Eigeninteresse
erheben können, über das angebliche „nationale Interesse“ - das in
Wirklichkeit die Interessen der großen Konzerne und der Wall Street sind -,
dann werden wir als Menschheit nicht überleben. Wir brauchen ein Bild vom
Menschen als der einzigen uns bekannten kreativen Gattung auf der Welt.
In der konfuzianischen Philosophie Chinas gibt es den Begriff des
ren, der fast dasselbe bedeutet wir das Wort agapé oder
Nächstenliebe im christlichen Humanismus: daß man Liebe und harmonische
Beziehungen zu seiner Familie, seinen Nachbarn, seiner Nation und der
internationalen Gemeinschaft der Nationen hegen muß.
Die menschliche Gattung hat es in sehr kurzer Zeit sehr weit gebracht. Wenn
Sie die letzten 10.000 Jahre betrachten, da haben wir eine ganze Reihe
großartiger Geister hervorgebracht: Konfuzius, Platon, Menzius, Nikolaus von
Kues, Kepler, Leibniz, Bach, Schiller, Beethoven, Tagore, Wernadskij,
Einstein, um nur einige zu nennen. Und so sollten alle Menschen sein.
Die „neue Normalität“
Nun werden Sie vielleicht sagen: „Diese Menschen sind sehr außergewöhnlich,
davon gibt es nur einen in jedem Jahrhundert.“ Aber ich denke nicht so.
Ich denke, es wird anders werden, wenn wir uns für eine solche Reform
entscheiden, über die wir hier reden, und wenn man die Armut beseitigt, so daß
keinem Kind und keinem Mensch auf der Erde die Grundbedürfnisse verweigert
werden, wenn man allen Kindern auf der Erde eine universelle Bildung und
Zugang zu den großen Entdeckungen der Vergangenheit gibt, wenn man sie die
klassische Kunst lehrt, wenn man ihnen die Moral beibringt, die mit dem
christlichen Humanismus oder mit dem Buddhismus oder dem Konfuzianismus oder
den anderen großen Kulturen auf der Erde verbunden war. Die Beseitigung von
Hunger und Armut wäre das Beste, was man für die Menschenrechte tun kann! Denn
wer arm und hungrig ist, der kann gar keine Menschenrechte wahrnehmen.
Wir sollten diesen anderen Weg gehen und sagen: „Laßt uns einem Plan für
globale Entwicklung folgen, laßt uns die geopolitischen Kriege beenden,
arbeiten wir zusammen, damit in Zukunft jedes Kind die Aussicht hat,
Wissenschaftler, Lehrer, Künstler, Astronaut oder irgendetwas anderes zu
werden, was den menschlichen Geist entwickelt. Dazu müssen wir, meiner Meinung
nach, zu unseren eigenen Traditionen unserer Hochkulturen zurückgehen. Die
Amerikaner müssen wieder Republikaner werden wie Benjamin Franklin, die
Gründerväter, wie Alexander Hamilton, Lincoln, Roosevelt, Kennedy. In
Deutschland müssen wir zur deutschen Klassik zurückkehren. In anderen Nationen
gibt es ebenfalls Höhepunkte ihrer Kultur, die man wiederbeleben muß.
Dann müssen wir die Beziehungen zueinander vom Standpunkt der tatsächlich
höchsten Form unserer Kultur aufbauen und uns auf die höchste Form der Kultur
der anderen Nation beziehen. Und dann werden wir eine menschliche Welt
haben.
Ich denke, wir sollten die Idee nicht aufgeben, daß die Menschheit
menschlich ist! Und das ist es, wofür wir jetzt kämpfen müssen. Und wenn wir
das tun, dann wird es das „neue Normale“, wie man im modernen Englisch sagt,
sein, daß jeder Mensch ein Genie ist. [Applaus.]
Anmerkung
1. Die Bewegung des 4. Mai geht zurück auf die Studentenproteste
gegen den Versailler Vertrag am 4. Mai 1919 und war Teil der Bewegung für eine
kulturelle Erneuerung Chinas. Sie dient bis heute vielen politischen
Strömungen als Bezugspunkt [die Redaktion].
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