Konzert
Dialog der Schönheit in Berlin
Ein ungewöhnliches, bewegendes klassisches Konzert konnte man am Sonnabend,
dem 25. Juni, in Berlin-Steglitz erleben. Es stand unter dem Motto
„Musikalischer Dialog der Kulturen“ und umfaßte ein ebenso anspruchsvolles wie
abwechslungsreiches zweistündiges Programm, mit Werken von Mozart, Bach,
Beethoven, Vivaldi, Tschaikowsky sowie Volksliedern verschiedener Länder,
darunter China, Rußland und Ukraine.
Veranstalter waren das Network for International Cultural Exchange (NICE)
und das Schiller-Institut. Insgesamt 150 Musiker und fast 500 Zuhörer
versammelten sich in der sehr gut besetzten Matthäus-Kirche. Schon die
internationale Zusammensetzung der Ensembles wies auf den Charakter des
Dialogs der Kulturen: Die Musiker - Laien- und Berufsmusiker jeden Alters -
kamen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Skandinavien, Rußland, China,
Korea, den Philippinen, Kuba, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern.
Der Eintritt war frei, damit auch Menschen mit wenig Geld, wie Flüchtlinge,
in den Genuß dieses kulturellen Dialoges kommen konnten. Die meisten Künstler
verzichteten auf eine Gage.
Über den Zweck dieses ungewöhnlichen Konzertes hieß es im Programmheft:
„In einer Zeit, die von Terrorismus, Krieg und Flüchtlingsdramen
überschattet wird, gilt es, an die Überlegenheit menschlicher Kreativität
über die Kräfte der Zerstörung zu erinnern. Und was könnte diese einzigartige
Fähigkeit des Menschen besser demonstrieren, als die großen Werke der
verschiedenen Zivilisationen? Indem wir die Einheit in der Vielfalt erkennen
und das Gemeinsame über das Trennende erheben, können wir die gegenwärtige
profunde, zivilisatorische Krise überwinden. So wird der Dialog der Kulturen
zum Leitmotiv dieses Konzerts.“
Eine weitere Besonderheit war, daß das gesamte Konzert in der
„Verdi-Stimmung“ a’=432 Hz gesungen und gespielt wurde. Das ist einen halben
bis ganzen Ton niedriger, als heute in den meisten Konzertsälen und
Opernhäusern üblich ist, entspricht aber der Absicht der klassischen
Komponisten. Das Schiller-Institut setzt sich seit den 80er Jahren für die
Rückkehr zu dieser natürlichen Stimmung ein. Dies ist im Programmheft
erläutert:
„Mit unserem Konzert wollen wir Verdis Wunsch beherzigen, die Stimmung des
Kammertons wieder dahin zu bringen, wo er sich zu Lebzeiten der klassischen
Komponisten befand. Der Kammerton wurde über die Jahre Schritt für Schritt in
die Höhe getrieben, so daß er heute etwa einen Ganzton höher als vor
zweihundert Jahren liegt. Wenn Bach, Scarlatti, Mozart, Beethoven, Verdi oder
andere Komponisten gewollt hätten, daß ihre Werke einen ganzen Ton höher
gespielt würden, hätten sie diese sicherlich entsprechend höher notiert. Die
spezifischen Charakteristika der menschlichen Singstimme, des menschlichen
Körpers sowie die Proportionen in Natur und Universum legen einen
wissenschaftlichen Kammerton nahe.“
Den feierlichen Auftakt des Programms bildete eine Chorfassung von Ludwig
van Beethovens bekanntem Lied Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre. Schon
hier fiel auf, daß die majestätischen C-Dur-Akkorde des Orchesters in der
Verdi-Stimmung spürbar wärmer, fülliger und sozusagen „erdverbundener“ klingen
als in der gängigen, überhöhten Stimmung.
Es folgte der Russische Kinderchor der Schostakowitsch-Musikschule
Berlin-Lichtenberg, der gerade sein fünfjähriges Bestehen feiert, und die
Kinder eroberten sofort die Herzen der Zuhörer. Unter der Leitung von Irina
Freitag, begleitet von Benjamin Lylloff am Klavier, sangen sie das
volkstümliche Stück Morgen am Meer von Fadeyev, und danach das
fröhliche Neapolitanische Lied aus Tschaikowskys Ballett
Schwanensee in einer Chorfassung, deren schnelle Zungenbrecher am Ende
die Kleinen bravourös meisterten. Mit Unterstützung einiger Männerstimmen
schlossen sie ihren mit viel Applaus belohnten Auftritt mit dem Lied
Schedryk des ukrainischen Komponisten Mykola Leontowytsch, das im
englischsprachigen Raum als das Weihnachtslied Carol of the Bells
berühmt geworden ist.
Sehr stimmungsvoll schloß sich dann ein instrumentaler Satz an, das zarte
Andante Cantabile aus dem Ersten Streichquartett von Tschaikowsky,
arrangiert für Cello solo und Streichorchester, vorgetragen von der Camerata
Geminiani und der jungen Cellistin Olesya Sablina. Die von Gian Marco Sanna
gegründete und geleitete Camerata Geminiani ist das erste Streichorchester in
London und wahrscheinlich in ganz Europa, das grundsätzlich in der
Verdi-Stimmung spielt. Es wurde von einigen Gastkünstlern, darunter Jochen
Heibertshausen am Kontrabaß, kongenial unterstützt. Am Ende des Stücks war es
in der großen Kirche so konzentriert und still, daß man die sprichwörtliche
Stecknadel fallen gehört hätte.
Die Camerata Geminiani spielte dann Antonio Vivaldis dreisätziges
Concerto für Streicher in A-Dur (RV 158), das ebenfalls die Vorzüge der
natürlichen Stimmung bewies, für welche die Streichinstrumente der besten
Geigenbauer der Geschichte eingerichtet sind. Der Klang des A-Dur-Konzertes
(eine „helle“ Tonart mit drei Kreuzen) war brillant, jedoch niemals grell.
Es folgte der Auftritt des Chinesischen Akademikerchors Berlin, der unter
der Leitung von Ya-ou Xie Volkslieder der alten Seidenstraße sang. Der 1995
gegründete Chor setzt sich aus Chinesen zusammen, die in Berlin studieren,
forschen und arbeiten. Das erste Lied Feng yan gu, („Die
Fengyang-Trommel“), ein Volkslied des Han-Volks aus Anhui Fengyang, wurde -
der Titel legt es nahe - mit Schlagwerk begleitet. Im getragenen Zai na yao
yuan de di fang („In der Ferne“), einem Volkslied der Kasachen aus
Qinghai, überzeugte der Tenor Changbo Wang als Solist mit seiner klangvollen,
anrührenden Stimme. Den heiteren Abschluß bildete A la mu han („Wie
sieht die schöne Alamuhan aus“), ein Volkslied der Uiguren aus Xinjiang, nach
dem der Chor mit viel Applaus bedacht wurde.
Anschließend stand das Doppelkonzert in d-Moll für zwei Violinen
(BWV 1043) von Johann Sebastian Bach auf dem Programm, für das der berühmte
kubanische Geigenvirtuose und Musikprofessor Roberto Valdes als zweiter Solist
neben Sanna gewonnen werden konnte. Die beiden Violinen ließen in dem wohl
schönsten Doppelkonzert der Musikliteratur einen intensiven Dialog erblühen -
virtuos-zupackend in den schnellen Randsätzen und überirdisch schwebend im
Largo. Trotz steigender Temperaturen (das Thermometer draußen zeigte 35
Grad) ließ die Konzentration von Orchester und Publikum nicht nach.
Den Höhepunkt und krönenden Abschluß des Abends bildete dann die Missa
in C KV 317, die „Krönungsmesse“ von Wolfgang Amadeus Mozart, mit dem
durch Bläser und Pauken verstärkten Orchester und dem etwa 70 Sänger starken
Chor des Schiller-Instituts. Die Sänger üben in verschiedenen europäischen
Städten in kleinen Gruppen, bevor sie zum Konzert zusammentreffen.
Besonderes Lob gebührt dem Dirigenten, Ingo Bathow. Bathow, früher u.a. in
den USA und in Rom tätig, ist seit 2003 Präsident des Network for
International Cultural Exchange (NICE) in Berlin, welches die
Völkerverständigung durch den Austausch von Künstlern, Komponisten und
musikalischen Aufführungen fördert. Im Rahmen dieses Austauschs pflegen NICE
und Bathow intensive kulturelle Beziehungen nach China. So dirigierte er den
China National Orchestra Chorus in Beijing.
Bathow traf mit seiner mitreißenden Leitung immer die richtigen Tempi und
Emotionen für die verschiedenen Teile des grandiosen Werks, und er arbeitete
die vielen „Überraschungen“, die Mozart einkomponiert hat, wie plötzliche
forti, piani, Tempowechsel oder Pausen, spannungsvoll heraus. Der Chor
des Schiller-Instituts, der die Stimmen nach der italienischen
Belcanto-Tradition ausbildet, überzeugte mit einem runden, vollen und
gleichzeitig transparenten Klang. Alle vier Chorstimmen waren stets präsent,
die leisen Stellen waren nicht „gesäuselt“ und die lauten nicht
„gebrüllt“.
Die Solostellen für Sopran, allen voran das ergreifende Agnus Dei,
wurden von der Koreanerin Sua Baek wohlklingend und ausdrucksvoll gestaltet;
dies ergänzte der philippinische Tenor Jose Mari Rubio mit seiner
Belcantostimme sehr gut. Das ausgeglichene, abgerundete Soloquartett wurde
vervollständigt durch die japanische Altistin Mayumi Nakamura und den
koreanischen Baß Chanyoung Lee.
Zum Schluß waren auch die Zuhörer eingeladen, mitzusingen - Verdis
berühmten Gefangenenchor Va, pensiero („Flieg, Gedanke”) aus
Nabucco (der Text lag aus). Die Aufführenden wurden mit donnerndem,
langanhaltendem Applaus bedankt, und als Zugabe sangen nochmals alle
gemeinsam; Va, pensiero erfüllte das Gotteshaus zum Ausklang dieses
denkwürdigen musikalischen Dialogs.
Werner Hartmann
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