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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die islamische Renaissance war ein Dialog der Kulturen

Von Hussein Askary

Wenn wir die heutige Krise der globalen Zivilisation überwinden wollen, müssen wir die Hochkulturen früherer Zeiten studieren und von ihnen lernen – wie das Beispiel der Islamischen Renaissance vom 8.-13. Jahrhundert zeigt.

Der Zweck dieses Berichtes ist weder, theologischen Diskussionen zu frönen, noch Pläne für soziale Reformen in islamischen Ländern zu schmieden, auch wenn dies sicherlich Fragen sind, die die politische und religiöse Führung dieser Nationen ernst nehmen muß. Der Zweck ist vielmehr, Muslime wie Nichtmuslime dazu anzuregen, sich mit dem Goldenen Zeitalter der Islamischen Renaissance zu beschäftigen und sich davon bei der Lösung der heutigen Probleme inspirieren zu lassen. Auch wenn ich selbst dem muslimischen Glauben angehöre, plädiere ich für eine säkulare Gesellschaft, für das Leben in einem modernen Nationalstaat, der allen die Freiheit der Religion garantiert. Die Religion für politische Zwecke zu mißbrauchen oder die Politik zum Anhängsel der Religion zu machen, ist in modernen Zeiten immer ein Rezept für Katastrophen.

* * *

Die islamischen Nationen und die Welt sind in einem schrecklichen Zustand von Chaos, Blutvergießen und Wahnsinn gefangen. Die Pariser Terroranschläge vom 13. November, wie die fast täglichen Anschläge in großen Teilen Südwestasiens und Nordafrikas, ausgeführt von Menschen, die behaupten, sie kämpften für den islamischen Glauben und die ?muslimische Umma? - die Gemeinschaft aller muslimischen Völker - haben die Welt näher an einen religiösen Weltkrieg herangerückt.

Tatsächlich ist die große Mehrheit der Opfer der sogenannten ?islamistischen Terrorgruppen?, wie dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante (ISIL), Al-Kaida und anderen, selbst muslimisch. ?Der Islam wird gekapert? ist eine häufige Aussage von Muslimen in aller Welt, die die Taten, die diese Terrororganisationen im Namen des Islam verüben, verabscheuen. Im Westen werden die Worte Islam und Muslime immer mehr mit Krieg und Terror in Verbindung gebracht.

Aber die Welt kann es sich heute nicht leisten, noch einmal in die gleiche Falle zu tappen, die der menschlichen Zivilisation in der Geschichte Katastrophen beschert hat wie die Kreuzzüge der Jahre 1099-1291, die zusammen mit dem Mongolensturm in einem weltweiten finsteren Zeitalter resultierten, oder wie den Religionskriegen in Europa ab 1492, die erst durch den Westfälischen Frieden von 1648 beendet wurden.

Um das zu verhindern, müssen bestimmte Fragen schnellstens gelöst werden:

    1. Wo liegt der Ursprung der gegenwärtigen Krise?

    2. Was sind die Ziele ihrer Urheber?

    3. Wie kann man die Krise überwinden, damit die Welt und die Menschheit mit Beteiligung der Muslime als Bürger ihrer jeweiligen Nationen einen neuen Sprung im Prozeß der Evolution schaffen?

Wir müssen herausfinden, welche Ideen mehr als eine Generation von Muslimen und Nichtmuslimen inspirieren können, die jetzt entweder schon unmittelbar Opfer dieser Religionskriege sind oder die unter dem Druck der Zerstörung ihrer Nationen durch illegale Kriege, Wirtschaftssanktionen und geopolitische Manipulationen zu potentiellen Rekruten für diese zerstörerischen Kräfte wie IS und Al-Kaida geworden sind.

Es gibt eindeutig subjektive Ursachen, die innerhalb der islamischen Gesellschaften selbst liegen und die kritisch diskutiert und korrigiert werden müssen. Aber täuschen wir uns nicht: Das allein würde die Welt nicht grundlegend verändern. Die entscheidende Ursache dieser Krise liegt in der gegenwärtigen, von den transatlantischen Mächten beherrschten Weltordnung, und diese Ordnung muß beendet und durch eine ganz andere ersetzt werden.

Der Schlüssel zur Krise

Diese ?Un-Ordnung? der Welt bescherte uns die ?Dschihad?-Kämpfer, die im Afghanistankrieg 1980-89 vom britischen, amerikanischen und saudischen Geheimdienst aufgebaut wurden, die britisch-saudischen Anschläge auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001, die Invasion und Zerstörung des Irak 2003 und Libyens 2011 und heute den schrecklichen Krieg in Syrien, der von Verbündeten der Anglo-Amerikaner und der EU wie Saudi-Arabien, Türkei und Katar geschürt und finanziert wird. Hier liegt der Schlüssel zu der gegenwärtigen Krise.

Aus diesem ?Dschihad?-Werkzeug der Geopolitik ist heute eine Seuche geworden, die mit ihrem nihilistischen, satanischen Menschenbild - der Mensch als blutdürstige Bestie - die ganze Weltzivilisation bedroht. Dieses bestialische Werkzeug wird in der Region leider immer noch ?pragmatisch? eingesetzt. Das gleiche gilt für die Destabilisierung Rußlands durch tschetschenische Rebellen und Chinas durch uigurische Kämpfer; beide Gruppen werden derzeit im Krieg in Syrien gegen die Regierung in Damaskus eingesetzt und unterstützen dort ISIL, die Al-Nusra-Front und andere Terrorgruppen, die den Islam als Geisel genommen und daraus das genaue Gegenteil von dem gemacht haben, was er in der Ära der Islamischen Renaissance einmal gewesen ist.

Die Ideologie des ?Kampfs der Kulturen? von anglo-amerikanischen Ideologen wie Samuel Huntington und Bernard Lewis fällt in die gleiche, bestialische Kategorie. Ihre Behauptung, China, die Islamische Welt und der Westen müßten früher oder später ?zusammenprallen?, sie könnten nicht gleichrangig nebeneinander existieren und nicht für den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt zusammenarbeiten, wird durch das Renaissancewerk, das wir im folgenden beschreiben, gründlich widerlegt.

Die Realität der islamischen Gesellschaft vom 8. bis zum 13. Jahrhundert war nicht immer eitel Sonnenschein. Bürgerkriege, blutige Machtkämpfe und Intrigen waren praktisch der Normalzustand. Aber die meisten Herrscher und ihre Gelehrten, Berater, Wissenschaftler und Bürger wußten und waren sich darin einig, daß Wissen Macht bedeutet. Heute hat sich die islamische Welt in einen blutigen politischen und religiösen Kampf hineinziehen lassen, Wissen und die Liebe zur Weisheit werden hintangestellt. Viele islamische Nationen erleben derzeit kulturelle und wirtschaftliche Stagnation, wenn nicht sogar Niedergang.

Was die barbarischen Ideologen und Politiker des Westens wie Dick Cheney und Tony Blair und ihre Gegenstücke in Saudi-Arabien, der Islamische Staat und Al-Kaida, gemeinsam haben, ist der Prozeß der Entmenschlichung der Individuen und Gruppen. Es ist kein Zufall, daß viele irakische Militärführer von ISIL ehemalige irakische Soldaten und Offiziere der Republikanischen Garden und Spezialeinheiten sind, die nach der Irak-Invasion der amerikanischen und britischen Truppen 2003 in berüchtigten Gefängnissen wie Abu Ghraib oder Camp Bucca inhaftiert und unvorstellbar entwürdigend und grausam gefoltert wurden. So wurde dort beispielsweise der ISIL-Führer Abu Bakr al-Bagdadi 2004 im Irak von den US-Truppen gefangen gehalten.

Diese Gefängnisse wurden wie viele andere CIA-Gefängnisse in aller Welt die Rekrutierungs- und Gehirnwäschezentren, die eine neue Generation von Massenmördern hervorbrachten, die genau wie ihre Wächter und Folterer jeden, der nicht auf ihrer Seite steht, als Untermenschen betrachten, schlimmer noch, als ein Tier oder Insekt, das man zertreten, verstümmeln oder kaltblütig verbrennen kann. Die Intoleranz ist der wesentliche Aspekt dieser bestialischen Mentalität.

Für diese Mentalität gibt es Vorbilder in der Geschichte des Islam, beispielsweise Theologen wie Ibn Taymiyyah im 14. Jahrhundert, der heute eine der wesentlichen Inspirationsquellen für die Bewegung der saudischen Wahabiten und ihre Geschöpfe Al-Kaida und ISIL ist (siehe dazu den nachfolgenden Artikel in dieser Ausgabe).

Welches Menschenbild?

Nach einer langen Periode der Entwicklung vom 8.-13. Jahrhundert, die man als das Goldene Zeitalter der islamischen Zivilisation bezeichnen kann, stürzte die islamische Zivilisation im Osten nach der ersten Zerstörung Bagdads durch die Mongolenhorden 1258 in ein finsteres Zeitalter. Davon haben sich die muslimischen Regionen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder erholt. Das Finstere Zeitalter erfaßte Zentralasien, den Iran, Irak und die Levante, auch die Türkei, Ägypten und Nordafrika wurden tief in Mitleidenschaft gezogen. Nur in Al-Andalus - Andalusien in Spanien - überlebte die islamische Zivilisation noch etwas länger, bis 1492.

Wenn die Welt die gegenwärtige Krise mit Hilfe der gemeinsamen Bemühungen der BRICS-Staaten und weiser Menschen im Westen überlebt, dann wird die islamische Welt über ihre Geschichte und den Sinn ihrer Existenz, sowie über die glänzendsten Zeiten und Aspekte ihres Erbes nachdenken müssen, um die kulturelle und moralische Stärke aufzubringen, die sie aus subjektiven wie objektiven Gründen verloren hat.

Das Menschenbild des Koran ist nicht anders als das im Christentum oder im Judentum. Der Mensch ist ein Geschöpf mit besonderen Eigenschaften, die ihn von allen anderen Kreaturen abheben, weil er, nach dem jüdisch-christlichen Glauben, als ?lebendes Ebenbild Gottes? geschaffen wurde oder, dem Koran zufolge, weil Allah Adam ?von meinem Geiste eingehaucht? hat (Sure Al-Hidschr - Das Felsengebirge - 15:29, 15. Sure des Heiligen Koran). Die Menschheit erbt auch die Herrschaft über die Erde (Sure Al-Baqara - die Kuh - 2:30, 2. Sure des Heiligen Koran), als schöpferischer Stellvertreter des Schöpfers auf Erden, den der Schöpfer selbst alles Wissen gelehrt hat (2:31 des Heiligen Koran). Und dem Menschen wird die Aufgabe zuteil, dieses Wissen zu entfalten.

Von Anfang an haben der Prophet Mohammed und die ?Offenbarung? des Koran in der Botschaft des Islam die Bedeutung des Lesens und Rezitierens hervorgehoben. ?Iqra?a? - lese, rezitiere oder verkünde - war nach der islamischen Tradition das erste Gebot, das der Erzengel Dschibril (Gabriel) Mohammed durch ?Offenbarung? übermittelte. In wahrhaft prometheischem Geist empfing der Prophet Mohammed, wie er berichtet, die folgenden Worte:

    1. Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,

    2. den Menschen erschaffen hat aus einem Anhängsel.

    3. Lies, und dein Herr ist der Edelste,

    4. Der (das Schreiben) mit dem Schreibrohr gelehrt hat,

    5. den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.

    (Sure Al-?Alaq - Das Anhängsel - 96. Sure des Heiligen Koran)

Es gibt auch einen überlieferten Ausspruch (Hadith), der dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird - die Echtheit wird zwar von manchen bestritten, er ist aber schon in frühen islamischen Schriften weit verbreitet -, der lautet: ?Suche nach Wissen, und wäre es in China! Wissen zu suchen, ist die Pflicht eines jeden Muslimen.? Das zeigt klar, wieviel Wert in der frühen islamischen Gesellschaft auf das Streben nach Wissen und Weisheit gelegt wurde, und eben das ist der eigentliche Grund für die gewaltige kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, die sich in dieser Zeit im islamischen ?Reich? vollzog.

Es ist wohlbekannt, daß der Prophet Mohammed ein Händler war, der in seinem frühen Leben 25 Jahre lang im Winter vom Jemen nach Mekka reiste, um dort Händler aus aller Welt zu treffen, aus der Levante, Persien, Rom, und sogar einige, die über die Seidenstraße aus Indien und China kamen. Seine Kenntnis der Traditionen und Kulturen dieser Völker hat sich im Koran und in der Hadith (Tradition) niedergeschlagen. Die hohe Wertschätzung einer auf Wissen gegründeten Gesellschaft war eine der Triebfedern der islamischen Renaissance. Eine andere war die Erkenntnis, daß Wissen universal ist, was die Muslime in die Lage versetzte, aus allen erdenklichen Kulturen, mit denen sie in Kontakt kamen, ohne Vorurteile gewaltige Mengen an Wissen aufzunehmen. So konnten sie die Wissenschaft, Philosophie, Technik etc. aus China, Indien, Persien, Griechenland und Afrika in einem einzigen Schmelztiegel vereinen.

Der Bezug auf China war nicht bloß eine Metapher. Keine 20 Jahre nach dem Tode des Propheten Mohammed wurden diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen. Sein Mitstreiter Saad Ibn Abi-Waqqas besuchte 650 den chinesischen Kaiser aus der Tang-Dynastie. Nach dem Bericht des Yusuf Abdul Rahman respektierte der chinesische Kaiser Yung-Wei ?die Lehren des Islam und betrachtete sie als vereinbar mit den Lehren des Konfuzius?. Um seine Bewunderung des Islam zu zeigen, genehmigte der Kaiser den Bau der ersten Moschee Chinas, der Huaisheng-Moschee in Guangzhou. Diese Moschee existiert noch heute. Waqqas? Besuch ist nicht sicher dokumentiert, sicher ist jedoch, daß die Moschee im 7. Jahrhundert erbaut wurde.

Die Seidenstraße: das antike Bild der Zukunft

Die antike Seidenstraße und die islamische Zivilisation und ihr Dialog zwischen Ost und West waren eng miteinander verbunden. Auch heute wecken die von China und seinen Verbündeten in der BRICS-Gruppe, Rußland und Indien, angeführten Bestrebungen um eine Erneuerung der Seidenstraße die Hoffnung, daß die Spirale der Gewalt und Zerstörung gestoppt und umgekehrt werden kann. Statt eines Kampfes der Kulturen können wir einen ?Dialog der Kulturen? anstreben, wie es der frühere iranische Präsident Mohammad Chatami nannte, oder die Harmonie der Interessen zwischen den Nationen, oder das, was Chinas Präsident Xi Jinping als ?Win-Win-Strategie? bezeichnet.

Die historische Seidenstraße und auch die Neue Seidenstraße müssen als Vehikel zum Aufbau von Zivilisationen betrachtet werden. Die Präsidentin des Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche, die in China als ?Seidenstraßen-Lady? bekannt ist, hat immer wieder betont, und auch meine Kollegen und ich haben anhand des Konzept des ?Infrastrukturkorridors? gezeigt, daß es bei der Neuen Seidenstraße um viel mehr geht, als bloß Waren zwischen Punkt A im Osten und Punkt B im Westen (bzw. umgekehrt) auszutauschen, und das galt auch für die alte Seidenstraße.

Die Seidenstraße ist vielmehr ein Vehikel für den wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Austausch, und ein Mittel, den Menschen entlang der Strecke von A nach B neue Instrumente zur Steigerung ihrer Produktivität, ihrer Kreativität und dadurch auch ihres Lebensstandards an die Hand zu geben. Dies wiederum versetzt sie in die Lage, ihre spezifische nationale Kultur und Kreativität zu nutzen, um selbst neue Instrumente zu erfinden und zu schaffen und sie an die anderen Gesellschaften entlang dieser Strecke weiterzugeben.

Einführung neuer Technologien

Die Errungenschaften der islamischen Gesellschaft vom 8. bis zum 13. Jahrhundert (bei einigen Schwankungen) dank der Einführung der chinesischen Technik zur Papierherstellung aus Holzmasse und anderen Zellulosefasern sind eines der herausragenden Beispiele für diesen Prozeß der kulturellen Transformation.

In der Realwirtschaft, der physischen Wirtschaft, wie sie Lyndon LaRouche nennt, ist einer der wesentlichen Maßstäbe zur Beurteilung einer Volkswirtschaft, wie die Einführung einer neuen Technik oder eines neuen wissenschaftlichen Prinzips in einem Bereich des Wirtschaftsprozesses die Produktivität des Gesamtsystems erhöht. Die Papierherstellung ist eine solche Technik, deren Verbreitung über drei Kontinente (durch die islamische Gesellschaft) eine so gewaltige Wirkung auf die menschliche Gesellschaft hatte, daß es noch viele Jahre und viele Experten brauchen wird, um ihre Auswirkungen auf die Produktivität der menschlichen Gesellschaft in den letzten elf Jahrhunderten zu messen.

Arabisch war vom 8. bis zum 15. Jahrhundert die lingua franca von Zentralasien über Südwestasien und Nordafrika bis Spanien. Die Einführung des Papiers aus China in diese transkontinentale Kultur machte die weitere Assimilation und Verbreitung von Kenntnissen um Größenordnungen leichter, billiger und schneller.

Die Geschichte der Erfindung und Verbreitung des Papiers ist ein wunderbares Beispiel, wie die Kulturen von China, Indien, Persien, Arabien und Europa direkt und indirekt zusammenwirkten, um die Grundlagen der menschlichen Kenntnisse, Kultur und Wirtschaft anzuheben.1

Der Vorteil des Papiers ist, daß es flexibel ist, Farbe wirksamer aufnimmt, wenig wiegt und wenig kostet. Beamte des islamischen Reichs erkannten, daß Texte und Siegel, die auf Papier geschrieben oder geprägt wurden, nur sehr schwer zu fälschen oder zu entfernen waren. Den Händlern auf der Seidenstraße waren papierene Kreditbriefe und Zahlungsanweisungen lieber als die Gold- und Silbermünzen, die ein Sicherheitsrisiko waren.

Eine weitere wichtige Eigenschaft des Papiers ist, daß es überall auf der Welt produziert werden kann, unabhängig vom Klima oder der Geographie. Was man dazu braucht, ist Zellulose, die am reichlichsten vorhandene natürliche Verbindung, sowie Wasser für den Produktionsprozeß und für das Betreiben der Papiermühlen. In Zentralasien, im Irak, in Ostsyrien und Ägypten waren alle diese Elemente vorhanden, was dazu beitrug, daß dort vom 8. bis zum 13. Jahrhundert die größten Papiermühlen der Welt betrieben wurden.

Islam und Tang-Dynastie: ein Konflikt bringt eine neue Kultur hervor

Die Tang-Dynastie in China erreichte ihre größte Blüte und politische und militärische Ausdehnung vom Ende des 7. Jahrhunderts bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr.; diese Zeit gilt als das Goldene Zeitalter des Reichs. Seine Hauptstadt Chang?an (heute Xi?an) war in den 760er Jahren mit 800.000 bis 1.000.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der Welt, Chinas Gesamtbevölkerung wurde auf etwa 50 Millionen Menschen geschätzt.

Dies ermöglichte es der Dynastie, ein gewaltiges Heer aufzustellen, dem es gelang, den Einfluß des Reichs nach Westen in die von Turkvölkern bewohnten Steppen Zentralasiens auszudehnen und den Handel entlang der Seidenstraße zu beherrschen und zu nutzen. Viele kleinere Königreiche und Städte zahlten Tribut an die Tang-Kaiser und lieferten die Reichtümer des fruchtbaren Fergana-Tals, das von dem Fluß Syrdarja bewässert wird, der heute durch Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan fließt.

Gleichzeitig expandierte auch das islamische Kalifat der Omajaden, sowohl nach Westen durch Nordafrika bis zur Iberischen Halbinsel als auch ostwärts bis Transoxanien, der Region jenseits des Oxus-Flusses (Amudarja). Nach dem Aufstieg der Abbasiden-Dynastie, die im Jahr 750 die Omajaden stürzte, standen sich China und das Islamische Reich in dieser Region gegenüber. Im Juli 751 kam es im Tal des Talas-Flusses zu einer gewaltigen Schlacht, in der ein großes chinesisches Heer mit hohen Verlusten geschlagen wurde. Der Legende zufolge nahmen die Muslime Tausende chinesische Soldaten gefangen, unter denen viele Handwerker und unter anderem auch ?Papiermacher? waren.

Die Schlacht am Talas setzte der Westausdehnung der Tang-Dynastie ein Ende. Interessanterweise war aber beiden Reichen daran gelegen, den Handel entlang der Seidenstraße fortzusetzen und in Sicherheitsfragen zu kooperieren, da beide Seiten die Turkvölker in der Grenzregion zwischen ihren beiden Reichen als Bedrohung empfanden. Nach Angaben des chinesisch-muslimischen Gelehrten Bai Shouyi wurde der diplomatische Austausch durch Missionen - zwischen 752 und 798 waren es 13 Missionen - und Geschenke fortgesetzt.

Der Aufstand des An Luschan, ein Wendepunkt

Aber die dramatischste Entwicklung, die China und die islamische Welt näher aneinander rückte, war die Unterstützung des Kalifen Abu Dschafar al-Mansour - der 767 Bagdad gründete und erbaute - für den Tang-Kaiser, um den verheerenden Aufstand des An Luschan niederzuschlagen. An Luschan war ein chinesischer General sogdischer (zentralasiatischer) Herkunft. Sein Aufstand begann 755 und endete 763 mit einem Sieg der Tang-Dynastie.

Ein entscheidender Moment war die Eroberung der Hauptstadt Chang?an durch die Rebellen im Jahr 756, wodurch viele Einwohner der Stadt, darunter auch Kaiser Suzong, nach Osten fliehen mußten. Kaiser Suzong bat daraufhin Al-Mansour um Unterstützung, der ihm 5000 arabische Soldaten schickte - einige Berichte sagen sogar 25.000 -, um den chinesischen Kaiser zu unterstützen. Sie halfen, die Hauptstadt zurückzuerobern und die Rebellen zurückzudrängen. Viele dieser muslimischen Soldaten blieben in China, und sie sollen die Ahnen der heutigen Hui-Moslems in China sein. Weiterhin reisten muslimische Händler nach China, und die damals vom Konfuzianismus beeinflußten Tang-Kaiser tolerierten die Ausbreitung ihrer Religion.

Diese Zusammenarbeit führte zu einem engeren kulturellen Austausch, der jene wissenschaftliche und kulturelle Revolution in Gang setzte, die wir die Islamische Renaissance nennen.

Die Renaissance von Bagdad

Unter der Regierung des Sohnes von Harun al-Raschid, dem Kalifen Al-Ma?mun (regierte von 813-833) wurde aus Bagdad ein wissenschaftliches und philosophisches ?Forschungszentrum der Welt?. Jedes wichtige wissenschaftliche oder philosophische Manuskript, egal aus welchem Teil der Welt und in welcher Sprache, fand den Weg in das ?Haus der Weisheit?, das Al-Ma?mun in Bagdad geschaffen hatte. Dort wurde es übersetzt, studiert, kopiert und, wenn es sich um eine Entdeckung oder ein Experiment handelte, repliziert und ohne Beschränkungen weiterverbreitet. (Das ist eine ganz eigene Geschichte, über die ich in einem Aufsatz in EIR vom 18.10.2013 berichtet habe.2)

Der interkulturelle Dialog und die Bereicherung in den Wissenschaften, der Musik und der Philosophie, nebst Fortschritten in den wirtschaftlichen Aktivitäten wie der Architektur, der Hydraulik und der Navigation, sowie neue Formen der Kartographie erreichten in dieser Ära geradezu atemberaubendes Ausmaß, was durch die Einführung der Papierherstellung aus China und die Erweiterung der Seidenstraße enorm erleichtert wurde.

Die griechische Geometrie und Mathematik wurde im Haus der Weisheit mit dem indischen Zahlensystem (das wir heute als die ?arabischen Zahlen? kennen) verbunden durch Mohammad Ibn Musa al-Chararizmi - latinisiert Algoritmi -, den Vater der Algebra, dessen Name durch den Begriff des Algorithmus unsterblich gemacht wurde. Griechische und persische Bücher über Medizin wurden übersetzt, und auf dieser Grundlage schufen Wissenschaftler wie Abu Ali Ibn Sina (Avicenna) ein ganzes System der medizinischen Ausbildung. Ibn Sinas Buch Al-Qanun fil Tib (Der Kanon der Medizin, fertiggestellt um 1025) war jahrhundertelang das wichtigste medizinische Lehrbuch in der islamischen Welt und sogar in Europa. Die Kunst, sphärische Land- und Sternkarten zu erstellen, die auf griechischen und chinesischen Methoden gründete, wurde in Bagdad verfeinert und von hier aus in viele Teile der Welt verbreitet.

Der wichtigste Aspekt dieser enormen Entwicklung ist, daß sie ein vorurteilsloses Gemeinschaftsprojekt vieler Kulturen, Religionen und Nationen war. Ibn Sina war Perser, al-Chwarizmi war Türke und Qusta Ibn Luga, der wichtigste Übersetzer der griechischen und lateinischen Manuskripte im Haus der Weisheit, war ein melchitischer Christ griechischer Abstammung. Sie alle aber lebten und wirkten in Bagdad und sprachen Arabisch. Eine sehr amüsante Ironie in dieser Hinsicht ist, daß der Mann, der als erster die gesamte arabische Grammatik in einem Buch zusammengestellt und kodifiziert hat, kein Araber war, sondern der Perser Sibawayh (665-696). Sibawayh - dessen Name im Farsi ?Geruch des Apfels? bedeutet - wurde in Persien geboren, zog aber schon als Kind mit seiner Familie nach Basra (heute Irak). Später ging er nach Bagdad, um sich der dortigen blühenden Wissenschaftsgemeinde anzuschließen. Sein Lehrer in Basra war al-Chalil al-Farahidi, ein Musiker und Linguist, der als erster das gesamte metrische System der arabischen Poesie kodifizierte und niederschrieb, und auch Bücher über Phonetik und Aussprache verfaßte.

Die größte Bibliothek der Abbasiden wurde 991 in Bagdad unter dem Kalifen Baha-ul-Dawla von einem persischen Minister namens Sabur Ibn Ardaschir errichtet. Sie umfaßte mehr als 10.000 Bände über vielfältigste wissenschaftliche Gegenstände. Aber die größte aller Bibliotheken entstand in Spanien, in Cordoba, unter der Herrschaft des Kalifen al-Hakam II. (reg. 961-76), einem Nachkommen der Omajaden. Bücher waren al-Hakims große Leidenschaft und er begann schon als Heranwachsender, sie zu sammeln. Er wurde von den besten Gelehrten seiner Zeit unterrichtet. Al-Hakims Bibliothek enthielt 400.000 Bücher. Allein der Katalog der Titel umfaßte 44 Bände. Harold Bloom schreibt, auch wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, ?hätte sie selbst bei einem Zehntel der Größe jede Bibliothek der Christenheit immer noch um einen Faktor 50 oder mehr übertroffen?. Außerdem stand diese Bibliothek genauso wie die in Toledo auch für Außenstehende offen. Muslimische, jüdische und christliche Gelehrte, Astronomen, Ärzte und Theologen trafen sich in speziellen Lese- und Konferenzräumen der Bibliothek, um sich auszutauschen und zu diskutieren. Später wurde unter den Fatimiden (im 10. und 11. Jahrhundert) in Ägypten eine ähnliche Bibliothek nach dem Vorbild von Bagdad gegründet, die fast ebenso groß war wie die in Cordoba.

Wirtschaftliche Wirkung

Viele der wissenschaftlichen Entdeckungen, die in den Forschungseinrichtungen gemacht wurden, fanden Eingang in den wirtschaftlichen Fortschritt der Gesellschaft. Die Städte und die Landwirtschaft mit Wasser zu versorgen, erforderte gewaltige Infrastrukturprojekte, wie der Bau von Kanälen, Wasserrädern und hydraulischen Anlagen, um Wasser anzuheben und in die Städte zu pumpen, etc. Wissenschaftler wie die Banu-Musa-Brüder, die im Haus der Weisheit in Bagdad lebten und arbeiteten, entwarfen zahlreiche Maschinen zum Pumpen von Wasser und für den Verkehr. Ihre Werke wurden abgeschrieben und in Buchform veröffentlicht. Die Verfügbarkeit von Papier in den islamischen Ländern förderte die Verbreitung weiterer Handwerke und Künste - Metallbearbeitung, Keramik und insbesondere Textilien -, denn ?die Künstler konnten Entwürfe auf Papier erstellen, die die Handwerker bei ihrer Arbeit anwenden konnten?. Besonders nützlich war dies in der Architektur, weil man die sich wiederholenden Muster, die für die arabische Architektur charakteristisch sind, über Musterbücher weitergeben konnte.

Dank des gewaltigen Fortschritts der landwirtschaftlichen und industriellen Entwicklung blühte der Handel auf. Die islamische Welt war vom Indus und Zentralasien bis zu den Pyrenäen in Europa ein ?gemeinsamer Markt?. Händler reisten mit ihren Waren über weite Entfernungen, und sie führten auf ihren Reisen lieber keine Gold- und Silbermünzen mit sich. In den Handelszentren der Seidenstraße, in Afrika und im Mittelmeerraum waren vielmehr Kreditpapiere - Kreditbriefe (Suftadscha) oder Schecks (persisch Sakka oder arabisch Sakk) - weit verbreitet. Solche Papiere fand man u.a. unter den Geniza-Papieren, die Ende des 19. Jahrhunderts im Genizah (Lagerraum) der Ben-Ezra-Synagoge in Alt-Kairo in Ägypten, einer Sammlung von fast 300.000 Manuskripten, entdeckt wurden.

Übermittlung nach Europa

Neben Werken der griechischen Philosophie und Wissenschaft, die aus arabischen Büchern zurückübersetzt wurden, gelangten auch viele andere Errungenschaften der islamischen Renaissance hauptsächlich über das islamische Spanien nach Europa. Die Christen in Spanien und Frankreich hatten eine ganz andere Einstellung zum Islam und der arabischen Kultur als die byzantinischen Christen. Vor allem begannen christliche Theologen, systematisch arabische Bücher zu übersetzen. Petrus Venerabilis, der Abt des Klosters Cluny, reiste für mehrere Jahre nach Spanien und kehrte 1141 von dort nach Frankreich zurück. Er gab die Übersetzung von mindestens fünf wichtigen Büchern, darunter des Koran, aus dem Arabischen ins Lateinische in Auftrag.

Eine weitere wichtige Persönlichkeit im islamisch-christlichen Dialog war Raimundus Lullus. Er wurde 1231 in Palma auf Mallorca geboren, das damals unter der Herrschaft des christlichen Königreichs Aragon stand. Er reiste in das islamische Spanien und nach Nordafrika und lernte Arabisch, um die Werke der arabischen Theologen und Philosophen zu studieren und zu übersetzen. Auch wenn Petrus Venerabilis eigentlich die Absicht hatte, die ?Häresien? des Islam zu widerlegen, und Lullus die Muslime zum Christentum bekehren wollte, änderte ihre Methode die europäische Kritik des Islam grundsätzlich: statt ihn bloß von außen zu betrachten, studierten sie ihn von Innen, indem sie die Originalwerke übersetzten und lasen.

Inspiriert von Franz von Assisi kam Lullus zu dem Schluß, daß Muslime, Juden und Christen an die gleichen ?Attribute? des Schöpfergottes glauben und daß man den Muslimen mit Vernunft und Dialog statt mit Waffengewalt begegnen sollte. Kardinal Nikolaus von Kues griff diese Argumente 1453 in seiner bahnbrechenden Schrift De Pace Fidei (Über den Frieden im Glauben) wieder auf, kurz nachdem die Osmanen Konstantinopel erobert hatten. Lullus hob die Bedeutung der Sprachausbildung an den großen Universitäten in Europa hervor. Nicht zuletzt seinem Einfluß ist es zu verdanken, daß das Konzil von Vienne (1311-12) die Einrichtung von Lehrstühlen für Hebräisch, Arabisch und Chaldäisch (Aramäisch) an den Universitäten von Bologna, Oxford, Paris und Salamanca sowie am Hof des Papstes anordnete.

Die Geschichte der Islamischen Renaissance sollte eine Inspirationsquelle für alle Menschen sein, die gegen die Barbarei solcher satanischen Kräfte wie den Islamischen Staat und seine Hintermänner kämpfen, um einen Frieden zu schaffen, dabei aber auch an die Zukunft ihrer Gesellschaften und Nationen denken. Wie kann eine Welt offensichtlich verschiedener Kulturen, Religionen und Traditionen zusammengeführt werden, um etwas Gemeinsames, Schönes, Großartiges zu schaffen?

Wie Lyndon LaRouche dazu kürzlich in einem Gespräch mit Mitarbeitern sagte: Eine gebildete Gesellschaft ist eine, in der die Gesellschaft insgesamt, auch wenn die große Mehrheit ihrer Menschen keine Genies sind, sich durch gewisse intellektuelle und moralische Fähigkeiten auszeichnet, und sich darüber bewußt ist, daß man sich an den Genies der Vergangenheit und der Gegenwart orientieren und in ihre Fußstapfen treten muß. Die größten Muslime der Renaissanceperiode blickten auf zu den größten Genies der anderen Kulturen - wie etwa der griechischen - und lernten von ihnen, und dabei brachten sie dann ihre eigenen Genies hervor. Heute sollten wir zu ihnen aufblicken und in ihre Fußstapfen treten.


Anmerkung

1. Siehe Jonathan M. Bloom, Paper before Print, The History and Impact of Paper in the Islamic World, Yale University Press, 2001.

2. http://www.larouchepub.com/other/2013/4041baghdad_melting_pot.html