Die islamische Renaissance war ein Dialog der Kulturen
Von Hussein Askary
Wenn wir die heutige Krise der globalen Zivilisation überwinden wollen, müssen wir die Hochkulturen früherer Zeiten studieren und von ihnen lernen – wie das Beispiel der Islamischen Renaissance vom 8.-13. Jahrhundert zeigt.
Der Zweck dieses Berichtes ist weder, theologischen Diskussionen zu frönen,
noch Pläne für soziale Reformen in islamischen Ländern zu schmieden, auch wenn
dies sicherlich Fragen sind, die die politische und religiöse Führung dieser
Nationen ernst nehmen muß. Der Zweck ist vielmehr, Muslime wie Nichtmuslime
dazu anzuregen, sich mit dem Goldenen Zeitalter der Islamischen Renaissance zu
beschäftigen und sich davon bei der Lösung der heutigen Probleme inspirieren
zu lassen. Auch wenn ich selbst dem muslimischen Glauben angehöre, plädiere
ich für eine säkulare Gesellschaft, für das Leben in einem modernen
Nationalstaat, der allen die Freiheit der Religion garantiert. Die Religion
für politische Zwecke zu mißbrauchen oder die Politik zum Anhängsel der
Religion zu machen, ist in modernen Zeiten immer ein Rezept für
Katastrophen.
* * *
Die islamischen Nationen und die Welt sind in einem schrecklichen Zustand
von Chaos, Blutvergießen und Wahnsinn gefangen. Die Pariser Terroranschläge
vom 13. November, wie die fast täglichen Anschläge in großen Teilen
Südwestasiens und Nordafrikas, ausgeführt von Menschen, die behaupten, sie
kämpften für den islamischen Glauben und die ?muslimische Umma? - die
Gemeinschaft aller muslimischen Völker - haben die Welt näher an einen
religiösen Weltkrieg herangerückt.
Tatsächlich ist die große Mehrheit der Opfer der sogenannten
?islamistischen Terrorgruppen?, wie dem Islamischen Staat im Irak und in der
Levante (ISIL), Al-Kaida und anderen, selbst muslimisch. ?Der Islam wird
gekapert? ist eine häufige Aussage von Muslimen in aller Welt, die die Taten,
die diese Terrororganisationen im Namen des Islam verüben, verabscheuen. Im
Westen werden die Worte Islam und Muslime immer mehr mit Krieg und Terror in
Verbindung gebracht.
Aber die Welt kann es sich heute nicht leisten, noch einmal in die gleiche
Falle zu tappen, die der menschlichen Zivilisation in der Geschichte
Katastrophen beschert hat wie die Kreuzzüge der Jahre 1099-1291, die zusammen
mit dem Mongolensturm in einem weltweiten finsteren Zeitalter resultierten,
oder wie den Religionskriegen in Europa ab 1492, die erst durch den
Westfälischen Frieden von 1648 beendet wurden.
Um das zu verhindern, müssen bestimmte Fragen schnellstens gelöst
werden:
1. Wo liegt der Ursprung der gegenwärtigen Krise?
2. Was sind die Ziele ihrer Urheber?
3. Wie kann man die Krise überwinden, damit die Welt und die Menschheit mit
Beteiligung der Muslime als Bürger ihrer jeweiligen Nationen einen neuen
Sprung im Prozeß der Evolution schaffen?
Wir müssen herausfinden, welche Ideen mehr als eine Generation von Muslimen
und Nichtmuslimen inspirieren können, die jetzt entweder schon unmittelbar
Opfer dieser Religionskriege sind oder die unter dem Druck der Zerstörung
ihrer Nationen durch illegale Kriege, Wirtschaftssanktionen und geopolitische
Manipulationen zu potentiellen Rekruten für diese zerstörerischen Kräfte wie
IS und Al-Kaida geworden sind.
Es gibt eindeutig subjektive Ursachen, die innerhalb der islamischen
Gesellschaften selbst liegen und die kritisch diskutiert und korrigiert werden
müssen. Aber täuschen wir uns nicht: Das allein würde die Welt nicht
grundlegend verändern. Die entscheidende Ursache dieser Krise liegt in der
gegenwärtigen, von den transatlantischen Mächten beherrschten Weltordnung, und
diese Ordnung muß beendet und durch eine ganz andere ersetzt werden.
Der Schlüssel zur Krise
Diese ?Un-Ordnung? der Welt bescherte uns die ?Dschihad?-Kämpfer, die im
Afghanistankrieg 1980-89 vom britischen, amerikanischen und saudischen
Geheimdienst aufgebaut wurden, die britisch-saudischen Anschläge auf die
Vereinigten Staaten am 11. September 2001, die Invasion und Zerstörung des
Irak 2003 und Libyens 2011 und heute den schrecklichen Krieg in Syrien, der
von Verbündeten der Anglo-Amerikaner und der EU wie Saudi-Arabien, Türkei und
Katar geschürt und finanziert wird. Hier liegt der Schlüssel zu der
gegenwärtigen Krise.
Aus diesem ?Dschihad?-Werkzeug der Geopolitik ist heute eine Seuche
geworden, die mit ihrem nihilistischen, satanischen Menschenbild - der Mensch
als blutdürstige Bestie - die ganze Weltzivilisation bedroht. Dieses
bestialische Werkzeug wird in der Region leider immer noch ?pragmatisch?
eingesetzt. Das gleiche gilt für die Destabilisierung Rußlands durch
tschetschenische Rebellen und Chinas durch uigurische Kämpfer; beide Gruppen
werden derzeit im Krieg in Syrien gegen die Regierung in Damaskus eingesetzt
und unterstützen dort ISIL, die Al-Nusra-Front und andere Terrorgruppen, die
den Islam als Geisel genommen und daraus das genaue Gegenteil von dem gemacht
haben, was er in der Ära der Islamischen Renaissance einmal gewesen ist.
Die Ideologie des ?Kampfs der Kulturen? von anglo-amerikanischen Ideologen
wie Samuel Huntington und Bernard Lewis fällt in die gleiche, bestialische
Kategorie. Ihre Behauptung, China, die Islamische Welt und der Westen müßten
früher oder später ?zusammenprallen?, sie könnten nicht gleichrangig
nebeneinander existieren und nicht für den wirtschaftlichen,
wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt zusammenarbeiten, wird durch
das Renaissancewerk, das wir im folgenden beschreiben, gründlich
widerlegt.
Die Realität der islamischen Gesellschaft vom 8. bis zum 13. Jahrhundert
war nicht immer eitel Sonnenschein. Bürgerkriege, blutige Machtkämpfe und
Intrigen waren praktisch der Normalzustand. Aber die meisten Herrscher und
ihre Gelehrten, Berater, Wissenschaftler und Bürger wußten und waren sich
darin einig, daß Wissen Macht bedeutet. Heute hat sich die islamische
Welt in einen blutigen politischen und religiösen Kampf hineinziehen lassen,
Wissen und die Liebe zur Weisheit werden hintangestellt. Viele islamische
Nationen erleben derzeit kulturelle und wirtschaftliche Stagnation, wenn nicht
sogar Niedergang.
Was die barbarischen Ideologen und Politiker des Westens wie Dick Cheney
und Tony Blair und ihre Gegenstücke in Saudi-Arabien, der Islamische Staat und
Al-Kaida, gemeinsam haben, ist der Prozeß der Entmenschlichung der Individuen
und Gruppen. Es ist kein Zufall, daß viele irakische Militärführer von ISIL
ehemalige irakische Soldaten und Offiziere der Republikanischen Garden und
Spezialeinheiten sind, die nach der Irak-Invasion der amerikanischen und
britischen Truppen 2003 in berüchtigten Gefängnissen wie Abu Ghraib oder Camp
Bucca inhaftiert und unvorstellbar entwürdigend und grausam gefoltert wurden.
So wurde dort beispielsweise der ISIL-Führer Abu Bakr al-Bagdadi 2004 im Irak
von den US-Truppen gefangen gehalten.
Diese Gefängnisse wurden wie viele andere CIA-Gefängnisse in aller Welt die
Rekrutierungs- und Gehirnwäschezentren, die eine neue Generation von
Massenmördern hervorbrachten, die genau wie ihre Wächter und Folterer jeden,
der nicht auf ihrer Seite steht, als Untermenschen betrachten, schlimmer noch,
als ein Tier oder Insekt, das man zertreten, verstümmeln oder kaltblütig
verbrennen kann. Die Intoleranz ist der wesentliche Aspekt dieser
bestialischen Mentalität.
Für diese Mentalität gibt es Vorbilder in der Geschichte des Islam,
beispielsweise Theologen wie Ibn Taymiyyah im 14. Jahrhundert, der heute eine
der wesentlichen Inspirationsquellen für die Bewegung der saudischen Wahabiten
und ihre Geschöpfe Al-Kaida und ISIL ist (siehe dazu den nachfolgenden Artikel
in dieser Ausgabe).
Welches Menschenbild?
Nach einer langen Periode der Entwicklung vom 8.-13. Jahrhundert, die man
als das Goldene Zeitalter der islamischen Zivilisation bezeichnen kann,
stürzte die islamische Zivilisation im Osten nach der ersten Zerstörung
Bagdads durch die Mongolenhorden 1258 in ein finsteres Zeitalter. Davon haben
sich die muslimischen Regionen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
nicht wieder erholt. Das Finstere Zeitalter erfaßte Zentralasien, den Iran,
Irak und die Levante, auch die Türkei, Ägypten und Nordafrika wurden tief in
Mitleidenschaft gezogen. Nur in Al-Andalus - Andalusien in Spanien - überlebte
die islamische Zivilisation noch etwas länger, bis 1492.
Wenn die Welt die gegenwärtige Krise mit Hilfe der gemeinsamen Bemühungen
der BRICS-Staaten und weiser Menschen im Westen überlebt, dann wird die
islamische Welt über ihre Geschichte und den Sinn ihrer Existenz, sowie über
die glänzendsten Zeiten und Aspekte ihres Erbes nachdenken müssen, um die
kulturelle und moralische Stärke aufzubringen, die sie aus subjektiven wie
objektiven Gründen verloren hat.
Das Menschenbild des Koran ist nicht anders als das im Christentum oder im
Judentum. Der Mensch ist ein Geschöpf mit besonderen Eigenschaften, die ihn
von allen anderen Kreaturen abheben, weil er, nach dem jüdisch-christlichen
Glauben, als ?lebendes Ebenbild Gottes? geschaffen wurde oder, dem Koran
zufolge, weil Allah Adam ?von meinem Geiste eingehaucht? hat (Sure
Al-Hidschr - Das Felsengebirge - 15:29, 15. Sure des Heiligen Koran).
Die Menschheit erbt auch die Herrschaft über die Erde (Sure Al-Baqara -
die Kuh - 2:30, 2. Sure des Heiligen Koran), als schöpferischer Stellvertreter
des Schöpfers auf Erden, den der Schöpfer selbst alles Wissen gelehrt hat
(2:31 des Heiligen Koran). Und dem Menschen wird die Aufgabe zuteil, dieses
Wissen zu entfalten.
Von Anfang an haben der Prophet Mohammed und die ?Offenbarung? des Koran in
der Botschaft des Islam die Bedeutung des Lesens und Rezitierens
hervorgehoben. ?Iqra?a? - lese, rezitiere oder verkünde - war nach der
islamischen Tradition das erste Gebot, das der Erzengel Dschibril (Gabriel)
Mohammed durch ?Offenbarung? übermittelte. In wahrhaft prometheischem Geist
empfing der Prophet Mohammed, wie er berichtet, die folgenden Worte:
1. Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
2. den Menschen erschaffen hat aus einem Anhängsel.
3. Lies, und dein Herr ist der Edelste,
4. Der (das Schreiben) mit dem Schreibrohr gelehrt hat,
5. den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
(Sure Al-?Alaq - Das Anhängsel - 96. Sure des Heiligen Koran)
Es gibt auch einen überlieferten Ausspruch (Hadith), der dem
Propheten Mohammed zugeschrieben wird - die Echtheit wird zwar von manchen
bestritten, er ist aber schon in frühen islamischen Schriften weit verbreitet
-, der lautet: ?Suche nach Wissen, und wäre es in China! Wissen zu suchen, ist
die Pflicht eines jeden Muslimen.? Das zeigt klar, wieviel Wert in der frühen
islamischen Gesellschaft auf das Streben nach Wissen und Weisheit gelegt
wurde, und eben das ist der eigentliche Grund für die gewaltige kulturelle,
wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, die sich in dieser Zeit im
islamischen ?Reich? vollzog.
Es ist wohlbekannt, daß der Prophet Mohammed ein Händler war, der in seinem
frühen Leben 25 Jahre lang im Winter vom Jemen nach Mekka reiste, um dort
Händler aus aller Welt zu treffen, aus der Levante, Persien, Rom, und sogar
einige, die über die Seidenstraße aus Indien und China kamen. Seine Kenntnis
der Traditionen und Kulturen dieser Völker hat sich im Koran und in der
Hadith (Tradition) niedergeschlagen. Die hohe Wertschätzung einer auf
Wissen gegründeten Gesellschaft war eine der Triebfedern der islamischen
Renaissance. Eine andere war die Erkenntnis, daß Wissen universal ist, was die
Muslime in die Lage versetzte, aus allen erdenklichen Kulturen, mit denen sie
in Kontakt kamen, ohne Vorurteile gewaltige Mengen an Wissen aufzunehmen. So
konnten sie die Wissenschaft, Philosophie, Technik etc. aus China, Indien,
Persien, Griechenland und Afrika in einem einzigen Schmelztiegel vereinen.
Der Bezug auf China war nicht bloß eine Metapher. Keine 20 Jahre nach dem
Tode des Propheten Mohammed wurden diplomatische Beziehungen zu China
aufgenommen. Sein Mitstreiter Saad Ibn Abi-Waqqas besuchte 650 den
chinesischen Kaiser aus der Tang-Dynastie. Nach dem Bericht des Yusuf Abdul
Rahman respektierte der chinesische Kaiser Yung-Wei ?die Lehren des Islam und
betrachtete sie als vereinbar mit den Lehren des Konfuzius?. Um seine
Bewunderung des Islam zu zeigen, genehmigte der Kaiser den Bau der ersten
Moschee Chinas, der Huaisheng-Moschee in Guangzhou. Diese Moschee existiert
noch heute. Waqqas? Besuch ist nicht sicher dokumentiert, sicher ist jedoch,
daß die Moschee im 7. Jahrhundert erbaut wurde.
Die Seidenstraße: das antike Bild der Zukunft
Die antike Seidenstraße und die islamische Zivilisation und ihr Dialog
zwischen Ost und West waren eng miteinander verbunden. Auch heute wecken die
von China und seinen Verbündeten in der BRICS-Gruppe, Rußland und Indien,
angeführten Bestrebungen um eine Erneuerung der Seidenstraße die Hoffnung, daß
die Spirale der Gewalt und Zerstörung gestoppt und umgekehrt werden kann.
Statt eines Kampfes der Kulturen können wir einen ?Dialog der Kulturen?
anstreben, wie es der frühere iranische Präsident Mohammad Chatami nannte,
oder die Harmonie der Interessen zwischen den Nationen, oder das, was Chinas
Präsident Xi Jinping als ?Win-Win-Strategie? bezeichnet.
Die historische Seidenstraße und auch die Neue Seidenstraße müssen als
Vehikel zum Aufbau von Zivilisationen betrachtet werden. Die Präsidentin des
Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche, die in China als ?Seidenstraßen-Lady?
bekannt ist, hat immer wieder betont, und auch meine Kollegen und ich haben
anhand des Konzept des ?Infrastrukturkorridors? gezeigt, daß es bei der Neuen
Seidenstraße um viel mehr geht, als bloß Waren zwischen Punkt A im Osten und
Punkt B im Westen (bzw. umgekehrt) auszutauschen, und das galt auch für die
alte Seidenstraße.
Die Seidenstraße ist vielmehr ein Vehikel für den wissenschaftlichen,
technischen und kulturellen Austausch, und ein Mittel, den Menschen entlang
der Strecke von A nach B neue Instrumente zur Steigerung ihrer Produktivität,
ihrer Kreativität und dadurch auch ihres Lebensstandards an die Hand zu geben.
Dies wiederum versetzt sie in die Lage, ihre spezifische nationale Kultur und
Kreativität zu nutzen, um selbst neue Instrumente zu erfinden und zu schaffen
und sie an die anderen Gesellschaften entlang dieser Strecke
weiterzugeben.
Einführung neuer Technologien
Die Errungenschaften der islamischen Gesellschaft vom 8. bis zum 13.
Jahrhundert (bei einigen Schwankungen) dank der Einführung der chinesischen
Technik zur Papierherstellung aus Holzmasse und anderen Zellulosefasern sind
eines der herausragenden Beispiele für diesen Prozeß der kulturellen
Transformation.
In der Realwirtschaft, der physischen Wirtschaft, wie sie Lyndon LaRouche
nennt, ist einer der wesentlichen Maßstäbe zur Beurteilung einer
Volkswirtschaft, wie die Einführung einer neuen Technik oder eines neuen
wissenschaftlichen Prinzips in einem Bereich des Wirtschaftsprozesses die
Produktivität des Gesamtsystems erhöht. Die Papierherstellung ist eine solche
Technik, deren Verbreitung über drei Kontinente (durch die islamische
Gesellschaft) eine so gewaltige Wirkung auf die menschliche Gesellschaft
hatte, daß es noch viele Jahre und viele Experten brauchen wird, um ihre
Auswirkungen auf die Produktivität der menschlichen Gesellschaft in den
letzten elf Jahrhunderten zu messen.
Arabisch war vom 8. bis zum 15. Jahrhundert die lingua franca von
Zentralasien über Südwestasien und Nordafrika bis Spanien. Die Einführung des
Papiers aus China in diese transkontinentale Kultur machte die weitere
Assimilation und Verbreitung von Kenntnissen um Größenordnungen leichter,
billiger und schneller.
Die Geschichte der Erfindung und Verbreitung des Papiers ist ein
wunderbares Beispiel, wie die Kulturen von China, Indien, Persien, Arabien und
Europa direkt und indirekt zusammenwirkten, um die Grundlagen der menschlichen
Kenntnisse, Kultur und Wirtschaft anzuheben.1
Der Vorteil des Papiers ist, daß es flexibel ist, Farbe wirksamer aufnimmt,
wenig wiegt und wenig kostet. Beamte des islamischen Reichs erkannten, daß
Texte und Siegel, die auf Papier geschrieben oder geprägt wurden, nur sehr
schwer zu fälschen oder zu entfernen waren. Den Händlern auf der Seidenstraße
waren papierene Kreditbriefe und Zahlungsanweisungen lieber als die Gold- und
Silbermünzen, die ein Sicherheitsrisiko waren.
Eine weitere wichtige Eigenschaft des Papiers ist, daß es überall auf der
Welt produziert werden kann, unabhängig vom Klima oder der Geographie. Was man
dazu braucht, ist Zellulose, die am reichlichsten vorhandene natürliche
Verbindung, sowie Wasser für den Produktionsprozeß und für das Betreiben der
Papiermühlen. In Zentralasien, im Irak, in Ostsyrien und Ägypten waren alle
diese Elemente vorhanden, was dazu beitrug, daß dort vom 8. bis zum 13.
Jahrhundert die größten Papiermühlen der Welt betrieben wurden.
Islam und Tang-Dynastie: ein Konflikt bringt eine neue Kultur hervor
Die Tang-Dynastie in China erreichte ihre größte Blüte und politische und
militärische Ausdehnung vom Ende des 7. Jahrhunderts bis zur Mitte des 8.
Jahrhunderts n. Chr.; diese Zeit gilt als das Goldene Zeitalter des Reichs.
Seine Hauptstadt Chang?an (heute Xi?an) war in den 760er Jahren mit 800.000
bis 1.000.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der Welt, Chinas
Gesamtbevölkerung wurde auf etwa 50 Millionen Menschen geschätzt.
Dies ermöglichte es der Dynastie, ein gewaltiges Heer aufzustellen, dem es
gelang, den Einfluß des Reichs nach Westen in die von Turkvölkern bewohnten
Steppen Zentralasiens auszudehnen und den Handel entlang der Seidenstraße zu
beherrschen und zu nutzen. Viele kleinere Königreiche und Städte zahlten
Tribut an die Tang-Kaiser und lieferten die Reichtümer des fruchtbaren
Fergana-Tals, das von dem Fluß Syrdarja bewässert wird, der heute durch
Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan fließt.
Gleichzeitig expandierte auch das islamische Kalifat der Omajaden, sowohl
nach Westen durch Nordafrika bis zur Iberischen Halbinsel als auch ostwärts
bis Transoxanien, der Region jenseits des Oxus-Flusses (Amudarja). Nach dem
Aufstieg der Abbasiden-Dynastie, die im Jahr 750 die Omajaden stürzte, standen
sich China und das Islamische Reich in dieser Region gegenüber. Im Juli 751
kam es im Tal des Talas-Flusses zu einer gewaltigen Schlacht, in der ein
großes chinesisches Heer mit hohen Verlusten geschlagen wurde. Der Legende
zufolge nahmen die Muslime Tausende chinesische Soldaten gefangen, unter denen
viele Handwerker und unter anderem auch ?Papiermacher? waren.
Die Schlacht am Talas setzte der Westausdehnung der Tang-Dynastie ein Ende.
Interessanterweise war aber beiden Reichen daran gelegen, den Handel entlang
der Seidenstraße fortzusetzen und in Sicherheitsfragen zu kooperieren, da
beide Seiten die Turkvölker in der Grenzregion zwischen ihren beiden Reichen
als Bedrohung empfanden. Nach Angaben des chinesisch-muslimischen Gelehrten
Bai Shouyi wurde der diplomatische Austausch durch Missionen - zwischen 752
und 798 waren es 13 Missionen - und Geschenke fortgesetzt.
Der Aufstand des An Luschan, ein Wendepunkt
Aber die dramatischste Entwicklung, die China und die islamische Welt näher
aneinander rückte, war die Unterstützung des Kalifen Abu Dschafar al-Mansour -
der 767 Bagdad gründete und erbaute - für den Tang-Kaiser, um den verheerenden
Aufstand des An Luschan niederzuschlagen. An Luschan war ein chinesischer
General sogdischer (zentralasiatischer) Herkunft. Sein Aufstand begann 755 und
endete 763 mit einem Sieg der Tang-Dynastie.
Ein entscheidender Moment war die Eroberung der Hauptstadt Chang?an durch
die Rebellen im Jahr 756, wodurch viele Einwohner der Stadt, darunter auch
Kaiser Suzong, nach Osten fliehen mußten. Kaiser Suzong bat daraufhin
Al-Mansour um Unterstützung, der ihm 5000 arabische Soldaten schickte - einige
Berichte sagen sogar 25.000 -, um den chinesischen Kaiser zu unterstützen. Sie
halfen, die Hauptstadt zurückzuerobern und die Rebellen zurückzudrängen. Viele
dieser muslimischen Soldaten blieben in China, und sie sollen die Ahnen der
heutigen Hui-Moslems in China sein. Weiterhin reisten muslimische Händler nach
China, und die damals vom Konfuzianismus beeinflußten Tang-Kaiser tolerierten
die Ausbreitung ihrer Religion.
Diese Zusammenarbeit führte zu einem engeren kulturellen Austausch, der
jene wissenschaftliche und kulturelle Revolution in Gang setzte, die wir die
Islamische Renaissance nennen.
Die Renaissance von Bagdad
Unter der Regierung des Sohnes von Harun al-Raschid, dem Kalifen Al-Ma?mun
(regierte von 813-833) wurde aus Bagdad ein wissenschaftliches und
philosophisches ?Forschungszentrum der Welt?. Jedes wichtige wissenschaftliche
oder philosophische Manuskript, egal aus welchem Teil der Welt und in welcher
Sprache, fand den Weg in das ?Haus der Weisheit?, das Al-Ma?mun in Bagdad
geschaffen hatte. Dort wurde es übersetzt, studiert, kopiert und, wenn es sich
um eine Entdeckung oder ein Experiment handelte, repliziert und ohne
Beschränkungen weiterverbreitet. (Das ist eine ganz eigene Geschichte, über
die ich in einem Aufsatz in EIR vom 18.10.2013 berichtet
habe.2)
Der interkulturelle Dialog und die Bereicherung in den Wissenschaften, der
Musik und der Philosophie, nebst Fortschritten in den wirtschaftlichen
Aktivitäten wie der Architektur, der Hydraulik und der Navigation, sowie neue
Formen der Kartographie erreichten in dieser Ära geradezu atemberaubendes
Ausmaß, was durch die Einführung der Papierherstellung aus China und die
Erweiterung der Seidenstraße enorm erleichtert wurde.
Die griechische Geometrie und Mathematik wurde im Haus der Weisheit mit dem
indischen Zahlensystem (das wir heute als die ?arabischen Zahlen? kennen)
verbunden durch Mohammad Ibn Musa al-Chararizmi - latinisiert Algoritmi -, den
Vater der Algebra, dessen Name durch den Begriff des Algorithmus unsterblich
gemacht wurde. Griechische und persische Bücher über Medizin wurden übersetzt,
und auf dieser Grundlage schufen Wissenschaftler wie Abu Ali Ibn Sina
(Avicenna) ein ganzes System der medizinischen Ausbildung. Ibn Sinas Buch
Al-Qanun fil Tib (Der Kanon der Medizin, fertiggestellt um 1025)
war jahrhundertelang das wichtigste medizinische Lehrbuch in der islamischen
Welt und sogar in Europa. Die Kunst, sphärische Land- und Sternkarten zu
erstellen, die auf griechischen und chinesischen Methoden gründete, wurde in
Bagdad verfeinert und von hier aus in viele Teile der Welt verbreitet.
Der wichtigste Aspekt dieser enormen Entwicklung ist, daß sie ein
vorurteilsloses Gemeinschaftsprojekt vieler Kulturen, Religionen und Nationen
war. Ibn Sina war Perser, al-Chwarizmi war Türke und Qusta Ibn Luga, der
wichtigste Übersetzer der griechischen und lateinischen Manuskripte im Haus
der Weisheit, war ein melchitischer Christ griechischer Abstammung. Sie alle
aber lebten und wirkten in Bagdad und sprachen Arabisch. Eine sehr amüsante
Ironie in dieser Hinsicht ist, daß der Mann, der als erster die gesamte
arabische Grammatik in einem Buch zusammengestellt und kodifiziert hat, kein
Araber war, sondern der Perser Sibawayh (665-696). Sibawayh - dessen Name im
Farsi ?Geruch des Apfels? bedeutet - wurde in Persien geboren, zog aber schon
als Kind mit seiner Familie nach Basra (heute Irak). Später ging er nach
Bagdad, um sich der dortigen blühenden Wissenschaftsgemeinde anzuschließen.
Sein Lehrer in Basra war al-Chalil al-Farahidi, ein Musiker und Linguist, der
als erster das gesamte metrische System der arabischen Poesie kodifizierte und
niederschrieb, und auch Bücher über Phonetik und Aussprache verfaßte.
Die größte Bibliothek der Abbasiden wurde 991 in Bagdad unter dem Kalifen
Baha-ul-Dawla von einem persischen Minister namens Sabur Ibn Ardaschir
errichtet. Sie umfaßte mehr als 10.000 Bände über vielfältigste
wissenschaftliche Gegenstände. Aber die größte aller Bibliotheken entstand in
Spanien, in Cordoba, unter der Herrschaft des Kalifen al-Hakam II. (reg.
961-76), einem Nachkommen der Omajaden. Bücher waren al-Hakims große
Leidenschaft und er begann schon als Heranwachsender, sie zu sammeln. Er wurde
von den besten Gelehrten seiner Zeit unterrichtet. Al-Hakims Bibliothek
enthielt 400.000 Bücher. Allein der Katalog der Titel umfaßte 44 Bände. Harold
Bloom schreibt, auch wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, ?hätte sie
selbst bei einem Zehntel der Größe jede Bibliothek der Christenheit immer noch
um einen Faktor 50 oder mehr übertroffen?. Außerdem stand diese Bibliothek
genauso wie die in Toledo auch für Außenstehende offen. Muslimische, jüdische
und christliche Gelehrte, Astronomen, Ärzte und Theologen trafen sich in
speziellen Lese- und Konferenzräumen der Bibliothek, um sich auszutauschen und
zu diskutieren. Später wurde unter den Fatimiden (im 10. und 11. Jahrhundert)
in Ägypten eine ähnliche Bibliothek nach dem Vorbild von Bagdad gegründet, die
fast ebenso groß war wie die in Cordoba.
Wirtschaftliche Wirkung
Viele der wissenschaftlichen Entdeckungen, die in den
Forschungseinrichtungen gemacht wurden, fanden Eingang in den wirtschaftlichen
Fortschritt der Gesellschaft. Die Städte und die Landwirtschaft mit Wasser zu
versorgen, erforderte gewaltige Infrastrukturprojekte, wie der Bau von
Kanälen, Wasserrädern und hydraulischen Anlagen, um Wasser anzuheben und in
die Städte zu pumpen, etc. Wissenschaftler wie die Banu-Musa-Brüder, die im
Haus der Weisheit in Bagdad lebten und arbeiteten, entwarfen zahlreiche
Maschinen zum Pumpen von Wasser und für den Verkehr. Ihre Werke wurden
abgeschrieben und in Buchform veröffentlicht. Die Verfügbarkeit von Papier in
den islamischen Ländern förderte die Verbreitung weiterer Handwerke und Künste
- Metallbearbeitung, Keramik und insbesondere Textilien -, denn ?die Künstler
konnten Entwürfe auf Papier erstellen, die die Handwerker bei ihrer Arbeit
anwenden konnten?. Besonders nützlich war dies in der Architektur, weil man
die sich wiederholenden Muster, die für die arabische Architektur
charakteristisch sind, über Musterbücher weitergeben konnte.
Dank des gewaltigen Fortschritts der landwirtschaftlichen und industriellen
Entwicklung blühte der Handel auf. Die islamische Welt war vom Indus und
Zentralasien bis zu den Pyrenäen in Europa ein ?gemeinsamer Markt?. Händler
reisten mit ihren Waren über weite Entfernungen, und sie führten auf ihren
Reisen lieber keine Gold- und Silbermünzen mit sich. In den Handelszentren der
Seidenstraße, in Afrika und im Mittelmeerraum waren vielmehr Kreditpapiere -
Kreditbriefe (Suftadscha) oder Schecks (persisch Sakka oder
arabisch Sakk) - weit verbreitet. Solche Papiere fand man u.a. unter
den Geniza-Papieren, die Ende des 19. Jahrhunderts im Genizah (Lagerraum) der
Ben-Ezra-Synagoge in Alt-Kairo in Ägypten, einer Sammlung von fast 300.000
Manuskripten, entdeckt wurden.
Übermittlung nach Europa
Neben Werken der griechischen Philosophie und Wissenschaft, die aus
arabischen Büchern zurückübersetzt wurden, gelangten auch viele andere
Errungenschaften der islamischen Renaissance hauptsächlich über das islamische
Spanien nach Europa. Die Christen in Spanien und Frankreich hatten eine ganz
andere Einstellung zum Islam und der arabischen Kultur als die byzantinischen
Christen. Vor allem begannen christliche Theologen, systematisch arabische
Bücher zu übersetzen. Petrus Venerabilis, der Abt des Klosters Cluny, reiste
für mehrere Jahre nach Spanien und kehrte 1141 von dort nach Frankreich
zurück. Er gab die Übersetzung von mindestens fünf wichtigen Büchern, darunter
des Koran, aus dem Arabischen ins Lateinische in Auftrag.
Eine weitere wichtige Persönlichkeit im islamisch-christlichen Dialog war
Raimundus Lullus. Er wurde 1231 in Palma auf Mallorca geboren, das damals
unter der Herrschaft des christlichen Königreichs Aragon stand. Er reiste in
das islamische Spanien und nach Nordafrika und lernte Arabisch, um die Werke
der arabischen Theologen und Philosophen zu studieren und zu übersetzen. Auch
wenn Petrus Venerabilis eigentlich die Absicht hatte, die ?Häresien? des Islam
zu widerlegen, und Lullus die Muslime zum Christentum bekehren wollte, änderte
ihre Methode die europäische Kritik des Islam grundsätzlich: statt ihn bloß
von außen zu betrachten, studierten sie ihn von Innen, indem sie die
Originalwerke übersetzten und lasen.
Inspiriert von Franz von Assisi kam Lullus zu dem Schluß, daß Muslime,
Juden und Christen an die gleichen ?Attribute? des Schöpfergottes glauben und
daß man den Muslimen mit Vernunft und Dialog statt mit Waffengewalt begegnen
sollte. Kardinal Nikolaus von Kues griff diese Argumente 1453 in seiner
bahnbrechenden Schrift De Pace Fidei (Über den Frieden im
Glauben) wieder auf, kurz nachdem die Osmanen Konstantinopel erobert
hatten. Lullus hob die Bedeutung der Sprachausbildung an den großen
Universitäten in Europa hervor. Nicht zuletzt seinem Einfluß ist es zu
verdanken, daß das Konzil von Vienne (1311-12) die Einrichtung von Lehrstühlen
für Hebräisch, Arabisch und Chaldäisch (Aramäisch) an den Universitäten von
Bologna, Oxford, Paris und Salamanca sowie am Hof des Papstes anordnete.
Die Geschichte der Islamischen Renaissance sollte eine Inspirationsquelle
für alle Menschen sein, die gegen die Barbarei solcher satanischen Kräfte wie
den Islamischen Staat und seine Hintermänner kämpfen, um einen Frieden zu
schaffen, dabei aber auch an die Zukunft ihrer Gesellschaften und Nationen
denken. Wie kann eine Welt offensichtlich verschiedener Kulturen, Religionen
und Traditionen zusammengeführt werden, um etwas Gemeinsames, Schönes,
Großartiges zu schaffen?
Wie Lyndon LaRouche dazu kürzlich in einem Gespräch mit Mitarbeitern sagte:
Eine gebildete Gesellschaft ist eine, in der die Gesellschaft insgesamt, auch
wenn die große Mehrheit ihrer Menschen keine Genies sind, sich durch gewisse
intellektuelle und moralische Fähigkeiten auszeichnet, und sich darüber bewußt
ist, daß man sich an den Genies der Vergangenheit und der Gegenwart
orientieren und in ihre Fußstapfen treten muß. Die größten Muslime der
Renaissanceperiode blickten auf zu den größten Genies der anderen Kulturen -
wie etwa der griechischen - und lernten von ihnen, und dabei brachten sie dann
ihre eigenen Genies hervor. Heute sollten wir zu ihnen aufblicken und in ihre
Fußstapfen treten.
Anmerkung
1. Siehe Jonathan M. Bloom, Paper before Print, The History and Impact
of Paper in the Islamic World, Yale University Press, 2001.
2. http://www.larouchepub.com/other/2013/4041baghdad_melting_pot.html
|