Nikolaus von Kues zeigt uns den Weg zu einer neuen Renaissance
Von Helga Zepp-LaRouche
Helga Zepp-LaRouche, die Vorsitzende des internationalen
Schiller-Instituts, hielt am 17. Mai per Videoschaltung die Eröffnungsrede der
Konferenz zum 25jährigen Bestehen des Citizen Electoral Council (CEC), der
LaRouche-Organisation in Australien. Den Abschluß ihres ausführlichen Berichts
über die angespannte wirtschaftliche und strategische Weltlage bildeten
Ausführungen über die besondere Bedeutung der Ideen und Konzepte des großen
Philosophen Nikolaus von Kues, die wir hier abdrucken.
Ich bin sehr froh, daß ihr Nikolaus von Kues zu einem so bedeutenden Thema
in eurer Konferenz gemacht habt, denn seit ich seine Ideen vor vielen Jahren
entdeckt habe, bin ich fest davon überzeugt, daß seine Ideen die beste
Grundlage dafür sind, um die Welt aus der heutigen Existenzkrise
herauszuführen. Besonders seit seiner De Docta Ignorantia war sich
Nikolaus sehr bewußt darüber, daß er etwas Revolutionäres geschrieben hat, was
zuvor noch niemand gedacht hatte, und daß er mit seinen Schriften eine neue
Ära einleitete. Wenn man sich im Nachhinein betrachtet, was seine Werke
bewirkt haben, sieht man sehr genau, wie richtig er damit lag, denn seine
Schriften markieren die Grenze zwischen dem finsteren Mittelalter und der
Neuzeit.
Er brach bewußt mit der Scholastik, die die damaligen Universitäten
beherrschte, denn die Debatte dort drehte sich nur noch um Fragen wie die, wie
viele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten, und er brach auch mit den
einfältigen mechanistischen Ansichten der Peripatetiker, die damals ebenfalls
tonangebend waren. Er lehrte bewußt eine völlig andere Denkmethode. Seine wohl
berühmteste Idee war die der coincidentia oppositorum (der Zusammenfall
der Gegensätze), welche auf dem Grundsatz beruht, daß das Eine von höherer
Macht ist als das Viele. Ich werde das gleich noch genauer darstellen.
Ebenfalls in der De Docta Ignorantia, aber auch in den Dialogen des
Laien sowie in vielen Predigten wandte er sich klar gegen die
Vorstellung, daß sich der Mensch Wissen durch sinnliche Erfahrung aneignen
könne. In der berühmten Trinitätspredigt von 1444 entwickelte er die Idee, daß
die Vorstellung eines Ziels im menschlichen Geist den Weg bestimmt, auf dem
sich der Geist auf dieses Ziel zu bewegt. Er nannte dies das
praesuponit - die Zukunft definiert die Gegenwart. Genauso, wie der
Geist und der Glauben ein Ziel definiert, bestimmt sich auch, wie man das Ziel
erreicht und welchen Weg man dahin einschlägt. Wissen ist somit nicht die
logische Erweiterung oder Summierung sämtlichen Wissens der Vergangenheit,
sondern das, worauf wir hinzielen, was bereits in unserem Glauben und in
unserem Wollen ist.
Er gelangte zu einem tiefen Verständnis der Schöpfung des Universums,
welches die Grundlage für Keplers spätere Entdeckung der Schwerkraft legte. Er
glaubte an die völlige Einheit von Glauben und Wissenschaft, und diese
Sichtweise ermöglichte Keplers Entdeckungen, mit denen Kepler Kopernikus und
Ptolemäus umstieß. Cusanus hatte bereits dieselbe wunderbare Idee wie Kepler:
Je mehr man sich mit den Gesetzen der Schöpfung beschäftigt, desto klarer wird
die Vorstellung, daß all dies das Werk eines überaus liebenden Schöpfers sein
muß.
Concordantia
Nikolaus hatte schon die Vorstellung, daß das Universum einer ständigen
Veränderung unterliege, daß diese Veränderung eine Aufwärtsentwicklung
darstelle und daß weder die Erde noch die Sonne der Mittelpunkt des Universums
sei - und das war der eigentliche Beginn der modernen Wissenschaft. Er ging
außerdem von einer concordantia im Universum und unter der Menschheit
aus: daß es eine Wesenseinheit gebe zwischen den Gesetzen des Makrokosmos -
dem gesamten Universum - und den Gesetzen des Mikrokosmos, welcher die
menschliche Erkenntnisfähigkeit ist. Diese Konkordanz sei jedoch nur möglich,
wenn sich alle Mikrokosmen auf bestmögliche Weise, d.h. nichtlinear
entwickeln. Dabei basiert aber alle Einheit in der Vielheit auf dem höheren
Prinzip, wonach sich der Gesamtprozeß komplex entwickelt, wie bei einer Fuge,
und die Entwicklung des Einen notwendig ist, um die Entwicklung des Anderen zu
ermöglichen.
Cusanus nimmt eine Konkordanz im Universum und für die Menschheit auf
Grundlage des Entwicklungsprinzips an, welches auch heute die Grundlage für
eine bessere Weltordnung sein muß. Wir brauchen absolut souveräne Nationen als
sich entwickelnde Mikrokosmen - was auch die Idee seiner Concordantia
Catholica ist -, auf der Grundlage eines repräsentativen Systems. Die
Regierung und die Regierten müssen in einer reziproken Beziehung zueinander
stehen, wobei sich die Regierung auf bestmögliche Weise um das Gemeinwohl der
Regierten kümmert und die Repräsentanten die Interessen der Regierten
wahrnehmen und ebenso das Gemeinwohl der Regierung verkörpern.
Das ist eine sehr bedeutsame Idee, denn das Konzept eines repräsentativen
Systems wurde erstmals auf umfassende Weise in der amerikanischen Verfassung
verwirklicht. Jeder Mikrokosmos kann deshalb sein ganzes Potential nur dann
entwickeln, wenn er die bestmögliche Entfaltung der anderen Mikrokosmen
unterstützt. Eine erste politische Umsetzung hiervon erfolgte im Westfälischen
Frieden von 1648, wobei der Grundsatz des „Interesses des anderen“ genau aus
dieser cusanischen Idee stammte und auf diese Weise 150 Jahre Religionskrieg
in Europa beendete. Auf die heutige Politik übertragen bedeutet dies, daß die
bestmögliche Entwicklung einer Nation die bestmögliche Entwicklung aller
Nationen erfordert.
Die „gemeinsamen Ziele der Menschheit“
Für Australien bedeutet dies konkret, daß es im Eigeninteresse Australiens
liegt, daß sich China auf bestmögliche Weise entwickelt, aber auch Japan und
alle anderen Länder Südostasiens, und umgekehrt. Das ist offensichtlich nur
möglich, wenn alle diese Länder durch die gemeinsamen Ziele der Menschheit
miteinander verbunden sind.
Was sind die „gemeinsamen Ziele der Menschheit“? Dazu gehört
offensichtlich, daß der elende, unwürdige Zustand, in dem sich eine Mehrheit
der Zivilisation infolge der Politik des Empires befindet, überwunden werden
muß. Elend und Hunger müssen beseitigt werden, was durch die Umsetzung all der
unterschiedlichen Projekte der Weltlandbrücke absolut möglich ist. Das kann
auch die Grundlage für Frieden in den Beziehungen zu Rußland, zu China, zu
Japan und vielen anderen Ländern sein.
Das ist nur möglich, weil das Eine von einer höheren Macht ist als das
Viele. Und die Menschheit als Ganze ist eine höhere Idee als die vielen
verschiedenen Kulturen und Religionen. Diese Grundidee stammt aus einer
anderen Schrift des Nikolaus, De pace fidei, die er nach dem Fall von
Konstantinopel schrieb, worin er 17 weise Männer aus unterschiedlichen
Nationen, Kulturen und Religionen Gott um Ratschlag fragen läßt. Während
andere in einer frühen Form über einen Zusammenstoß der Kulturen sprachen,
äußerte er die Idee, daß es nur einen Gott, eine Wahrheit und eine Religion
gebe, und er sprach bereits von uno religio in rituum varietate, einer
Religion mit unterschiedlichen Riten, was für einen Kardinal des 15.
Jahrhunderts eine ungewöhnlich fortschrittliche Idee war.
Die Erschaffung des physischen Universums erfolgt Nikolaus zufolge durch
die Kreativität des Menschen, und er geht sogar soweit, zu sagen - und das
war, wie gesagt, im 15. Jahrhundert -, daß nach dem Auftreten des Menschen der
fortdauernde Schöpfungsprozeß nur durch die schöpferischen Handlungen
des Menschen stattfinde, was ungeheuer wichtig ist.
Er benutzte auch den Begriff manuductio, womit er pädagogisch
erklären wollte, wie sich die ganze Entwicklung abspielt. Er verwendete dabei
das Bild der Metamorphose eines Baumes: Im Geiste beginnt alles mit einem
Samenkorn, das dann in einem vielfältigen Erkenntnisprozeß zur vollen
Entfaltung eines Baumes mit reichen Früchten führt, die wiederum weiteren
Samen und weitere Bäume hervorbringen.
Eine neue philosophische Methode
Nikolaus war sich darüber bewußt, daß er eine epochale neue philosophische
Methode entwickelt hatte, und außerdem entwarf er - vor allem im zweiten Buch
der De Docta Ignorantia - ein Konzept, das man als Ontologie des
Universums bezeichnen könnte. Er sagte sogar, die Erfüllung des Universums
ist die menschliche Erkenntnisfähigkeit und Kreativität. Das ist die
vis creatrix, die Schöpferkraft, die sich im Menschen als imago viva
Dei, dem lebendigen Abbild Gottes, ausdrückt, welche das Universum
antreibt.
In De Docta Ignorantia sagt er: „Alle unsere Vorfahren bezeugten
einstimmig, daß der Glaube der Anfang des Erkennens sei. In jedem Gebiet des
Könnens werden gewisse Dinge, die allein durch den Glauben begriffen werden,
als erste Prinzipien vorausgesetzt; aus ihnen gewinnt man die Einsicht in das,
was behandelt werden soll.“
Das ist eine sehr interessante Idee, denn sie besagt, daß, wenn
Wissenschaft und Glauben das gleiche sind, und wenn man an etwas glaubt, das
Teil der göttlichen Schöpfungsordnung ist, dann wird es der Geist suchen und
in seiner Untersuchung wird man wie ein Vogel auf das Ziel zufliegen, wobei
der Vogel dies eher instinktiv tut. Aber wenn das Ziel definiert ist, folgt
der Weg dorthin aus dem Ziel.
In diesen Gedanken findet man zum ersten Mal in der gesamten
Geschichtsschreibung und Literatur eine Auseinandersetzung darüber, wie die
Methode der Hypothesenbildung tatsächlich funktioniert, wie man im Denken eine
Flanke entwickelt, wie man mit dieser höheren Idee einen poetischen oder
musikalischen Einfall als das Ziel erzeugt, das dann genauso weiterentwickelt
werden kann, so wie ein großer Komponist eine musikalische Idee bekommt, bevor
er seine Komposition beginnt, oder wie ein Dichter eine poetische Idee
bekommt, bevor er ein Gedicht schreibt. Das ist eine sehr wichtige Methode,
die zur Grundlage werden muß, um der politischen und wirtschaftlichen Ordnung
unserer heutigen Welt wieder einen Zusammenhalt zu geben.
Bei Nikolaus von Kues findet man all diese wichtigen und vor allem schönen
Ideen. So auch den Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Dabei
argumentiert er, der Umstand, daß die Seele alle Künste hervorbringt - die
Wissenschaften, die Geographie, die Musik - und diese für immer bestehen
bleiben, bedeutet, daß das, wodurch diese Dinge entstehen, offenbar eine
höhere Macht darstellt als die geschaffenen Dinge, und da diese geschaffenen
Dinge unsterblich sind, muß die Seele, der Schöpfer, ebenfalls unsterblich
sein.
Nikolaus hatte ebenfalls die schöne Idee, daß der Mensch an jedem Punkt der
Entwicklung der Menschheit mit wissenschaftlicher Strenge den nächsten
notwendigen Erkenntnisdurchbruch bestimmen kann. Ist das nicht genau das, was
wir heute sagen, daß die Zukunft des Menschen in seiner Identität als
Raumfahrer liegt? Mit all dem Wissen, das wir über die Gefahren aus dem
Weltraum haben - über Asteroiden und andere Gefahren in unserem Sonnensystem
im Laufe der nächsten 1-2 Mrd. Jahre -, können wir das Ziel definieren, um die
nächsten wissenschaftlichen Durchbrüche zu erreichen, die den Fortbestand der
Menschheit garantieren. Nikolaus hatte diese Vorstellung schon im 15.
Jahrhundert, und deswegen glaube ich, je mehr man ihn studiert, desto
glücklicher und erleuchteter wird man.
Sollte sich das Britische Empire mit seiner Finanzpolitik und seiner
Militärdoktrin durchsetzen, dann wird die Menschheit sehr wahrscheinlich
untergehen, und wir hätten uns als nicht schlauer erwiesen als die
Dinosaurier. Aber ich bin ganz grundsätzlich optimistisch, denn das Universum
ist so schön, die Gesetze der Schöpfung sind so mächtig und der Plan des
Schöpfers ist so schön und stark, daß dies nicht eintreten wird, wenn wir das
richtige tun.
Setzen wir also alles in unser Kraft stehende in Bewegung, um die
derzeitige epochale Umbruchzeit zu nutzen, um die politische und
wirtschaftliche Ordnung mit den Gesetzen des Universums wieder in
Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir das schaffen, bietet sich der
Zivilisation die allerbeste Zukunft, und ich meine, wir befinden uns inmitten
dieses Kampfes. Glass-Steagall ist jetzt eine realistische Perspektive, und
deshalb sollten wir mit aller Macht daran gehen, Glass-Steagall auf der ganzen
Welt zu verwirklichen und darauf aufbauend eine neue Renaissance einzuleiten.
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