Die heutige Weltkrise
Ihre soziale Natur und ihre Herausforderung für die
Sozialwissenschaft
Von Andrej Fursow
Auf der Konferenz des Schiller-Instituts am 13.-14. April in
Frankfurt hielt der russische Historiker Andrej Fursow, Direktor des
geisteswissenschaftlichen Studienzentrums an der Universität Moskau und
Mitglied des Isborsk-Clubs, die folgende Rede.
Liebe Kollegen, zuallererst möchte ich den Organisatoren dieser Konferenz
danken, die mich eingeladen haben, hier zu sprechen.
Ich möchte meine Rede mit einem Zitat des lupenreinen britischen
Imperialisten Winston Churchill beginnen, der 1940 in einem Brief schrieb, daß
„Großbritannien nicht gegen Hitler und noch nicht einmal gegen den
Nationalsozialismus kämpft, sondern gegen den Geist des deutschen Volkes,
gegen den Geist Schillers, so daß dieser Geist niemals wiedergeboren werde.“
Aber jetzt sind wir hier auf dieser vom Schiller-Institut organisierten
Konferenz, und das ist unsere asymmetrische Antwort auf das Britische Empire.
[Applaus].
Ich denke, am Ende unseres letzten Panels sind wir alle müde, so daß ich
mich kurz fassen möchte. Krise ist zum Kodewort unserer Zeit geworden. Doch
die Frage ist: Welche Art von Krise? Es heißt, es sei eine Finanzkrise, eine
Krise des Staates, eine Krise der Bildung - d.h. eine Krise von allem. Aber
was heißt das, sich in einer Krise von allem zu befinden? Eine Krise von allem
bedeutet eine Systemkrise. Es ist eine Krise des Sozialsystems, und das
Sozialsystem ist der Kapitalismus.
Somit haben wir vor allem eine Krise des Kapitalismus, und nur in zweiter
Linie eine Krise der Zivilisation, der Menschheit. Doch was ist der
Kapitalismus? Descartes pflegte zu sagen: „Man definiere den Sinn der Worte.“
Meine Arbeitsdefinition lautet, daß der Kapitalismus ein kompliziertes
institutionelles System ist, welches das Kapital in seinem eigenen
langfristigen und holistischen Interesse begrenzt und für seine räumliche
Ausbreitung sorgt und so die Krise und die Ausbeutung externalisiert.
Kapitalismus: ein expansives System
Das letzte Element ist wichtig, denn der Kapitalismus ist, wie das
Sklavensystem der Antike, ein expansives System. Als sich die globale
Profitrate im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus verringerte, hat sich das
Kapital gewöhnlich Teile bekannter Kapitalbereiche einverleibt und in
kapitalistische Randzonen umgewandelt: Zonen der Rohstoffgewinnung und der
Billigarbeit. Doch als 1991 das sozialistische Lager, einschließlich der
UdSSR, zerfiel und in Rußland eine Art Gangsterkapitalismus begann,
verschwanden die nichtkapitalistischen Zonen. Heute ist der Kapitalismus
überall. Er umfaßt den gesamten Globus. Ein vollständiger Sieg.
Aber jeder Erwerb ist ein Verlust, denn jetzt gibt es keine
Expansionsmöglichkeit mehr. Die Intensivierung des Kapitalismus steht auf der
Tagesordnung.
Das Problem ist, daß der Kapitalismus grundsätzlich ein extensiv
aufgebautes System ist. Zahlreiche Institutionen - der Nationalstaat, die
Zivilgesellschaft, die Politik und die Breitenbildung - begrenzen die
Möglichkeit des Kapitals, den Kern des Systems genauso oder in gleichem Umfang
wie in der Peripherie auszubeuten. Die von mir erwähnten Institutionen
externalisieren die Ausbeutung, etwa vergleichbar mit Solons Reformen im
antiken Athen.
Ich möchte das Ausmaß der Ausbeutung in den sogenannten hochentwickelten
Ländern nicht herunterspielen, doch dafür gibt es eine Grenze, oder genauer
gesagt, diese Grenze gab es in der Zeit von 1945 bis 1975. Nicht zufällig
nannten die Franzosen diese Zeit „die glorreichen 30 Jahre“. Ich sage „gab“,
denn seit den 80er Jahren demontieren die vorherrschenden Gruppen der
kapitalistischen Klasse diese geschützten Institutionen, deren Summe bzw.
deren System den normalen und soliden Kapitalismus oder seine Grundpfeiler
bilden.
In den letzten 30 Jahren erleben wir die Auflösung des Nationalstaates, die
Verdrängung der Zivilgesellschaft, die Entpolitisierung des politischen
Bereichs und die gezielte Primitivisierung und Schwächung der Breitenbildung,
besonders auch der Hochschulausbildung. In Amerika fand dies in den 70er und
80er Jahren statt; in Rußland erleben wir dies heute. Aber dank der
sozialistischen Fundamente haben jene, die unsere Bildung zu zerstören suchen,
nur teilweise Erfolg. Dieser Kahlschlag ist das Wesen der sogenannten
neoliberalen Revolution oder vielmehr Gegenrevolution, denn sie läuft der
Haupttendenz der 30 Nachkriegsjahre, aber auch der gesamten europäischen
Geschichtsperiode seit der Renaissance zuwider.
Bewußter Gegenfortschritt
Es ist nicht nur ein Rückschritt; es ist Gegenfortschritt und zwar bewußter
Gegenfortschritt.
Wir leben seit 30 Jahren in der Krise. Und diese Krise, die neoliberale
Konterrevolution, ist menschengemacht. Sie ist bzw. war künstlich, denn
offenbar scheint die Krise seit Anfang des 21. Jahrhunderts ihren Herren, den
Gebietern des Krisenrings, aus den Händen zu gleiten. Das läßt sich indirekt
an den Konflikten verschiedener Teile der globalen Elite, an den Aktivitäten
ihrer geschlossenen Organisationen und an den Äußerungen hoher Amtsträger
erkennen. Es genügt, sich daran zu erinnern, was Christine Lagarde auf dem
Treffen von IWF und Weltbank im Oktober in Tokio sagte und was die Kernaussage
des Managements von Morgan Stanley in einem Bericht vom Juni letzten Jahres
gewesen ist.
Das maßgebliche Dokument der neoliberalen Gegenrevolution war der Bericht
„Krise der Demokratie“, der 1975 auf Betreiben der Trilateralen Kommission von
Samuel P. Huntington, Brian J. Crozier und Joji Watanuki geschrieben wurde.
Das Dokument ist sehr aufschlußreich. Die Autoren schrieben, daß das einzige
Heilmittel für die Übel der Demokratie nicht ein Mehr an Demokratie, sondern
die Schwächung der Demokratie wäre. In dem Bericht heißt es, daß ein
demokratisches politisches System gewöhnlich nur wirksam funktionieren könne,
wenn einige Personen und Gruppen ein gewisses Maß an Apathie und
Nichtmitwirkung zeigten. Damit waren die Mittelklasse und die Oberschicht der
Arbeiterklasse gemeint.
Die demokratische Belebung, so hieß es in dem Bericht, sei eine allgemeine
Herausforderung für die bestehenden öffentlichen und privaten
Obrigkeitsstrukturen, und die Hauptschlußfolgerung bestand darin, daß der
Einfluß der Öffentlichkeit verringert werden müsse. Dieses Dokument war somit
in Wirklichkeit eine Reaktion auf den Aufstieg der Mittelschicht und der
Arbeiterklasse aufgrund der Industrialisierung in den 30 Nachkriegsjahren.
Entindustrialisierung, Entrationalisierung und Entvölkerung
Die Lösung war ganz einfach: Deindustrialisierung - die
Deindustrialisierung des nordamerikanischen Kerngebiets und eine Offensive
gegen die Mittelschicht und die Arbeiterklasse. Ausdruck davon waren
Thatcherismus und Reaganomics.
Die Deindustrialisierung des Westens, die in den 1980er Jahren begann, war
ideologisch seit langer Zeit - seit den 1860er bis 1880er Jahren in
Großbritannien - in Vorbereitung. In den 1950er und 1960er Jahren kam noch die
Umweltbewegung dazu. Die Umweltbewegung der 60er Jahre wurde von der
Rockefeller Foundation organisiert und ebnete der späteren
Deindustrialisierung den Weg.
Die gleiche Rolle kam der Jugendkultur und verschiedenen
Minderheitsbewegungen und natürlich der Entrationalisierung des Denkens und
Verhaltens zu. In den 80er Jahren erlebten wir den Aufstieg irrationaler
Kulte, die Verschlechterung der Breitenbildung, und an die Stelle von Science
Fiction trat reine Phantasie. Die Harry-Potter-Serie ist ein sehr
bezeichnendes Beispiel dafür, wie die Zukunft aussehen soll, ein Abbild der
Realität, in der es keine Demokratie mehr, sondern nur noch eine Hierarchie
gibt, in der Macht nicht auf rationalen Entscheidungen, sondern auf Magie
beruht.
Die neoliberale Gegenrevolution, mit der die Einkommen zugunsten
vorherrschender Gruppierungen und zu ungunsten der Mittelschicht und der
Arbeiterklasse umverteilt wurden, war Teil eines viel größeren
geo-historischen Projekts oder Komplotts, wenn man so will: Des Projekts, die
Geschichte anzuhalten. Die Umverteilung der Einkommen und die
Entdemokratisierung der Gesellschaft verlangten eine zivilisatorische
Kehrtwende, die ich die drei E’s nennen will: Entindustrialisierung,
Entrationalisierung und Entvölkerung.
Letztere spielt nicht nur vom wirtschaftlichen Standpunkt oder vom
Standpunkt der Ressourcen eine wichtige Rolle. Es ist viel leichter, 2 Mrd.
Menschen zu kontrollieren, anstatt 7 oder 8 Mrd. Das Entvölkerungsprojekt wird
von den gleichen Strukturen finanziert, die bereits die Umweltbewegung u.a.
finanziert haben.
Die neoliberale Gegenrevolution war eine eigenständige Krise, aber sie war
als gelenkte Krise gedacht. Doch Anfang des 21. Jahrhunderts scheint der
Prozeß, wie ich schon sagte, außer Kontrolle geraten zu sein. Hegel pflegte
solche Situationen als Perfidie der Geschichte zu bezeichnen.
Es gibt somit eine doppelte Krise: Eine menschengemachte und geplante, und
dann eine neue, chaotische Krise.
Die Schwächen der Sozialwissenschaft
Um mit der Krise umzugehen, braucht man Willen und Vernunft bzw. zuerst
Vernunft, um zu verstehen, und zweitens den Willen, um die Vernunft wirksam
werden zu lassen. In unserem Fall ist die Vernunft die Sozialwissenschaft,
aber das Problem besteht darin, daß die Sozialwissenschaft in ihrem jetzigen
Zustand für die Herausforderungen unserer Epoche nicht hinreichend ist. Der
Hauptvertreter der Sozialwissenschaft ist der Fachmann, der immer mehr über
immer weniger weiß. Und es gibt eine Enttheoretisierung des Wissens. Wissen
verkommt immer mehr zu empirischen, statistischen Fallstudien ohne Theorie,
ohne wissenschaftliche Vorstellungskraft usw.
Erstens, die fachliche Verflechtung von Ökonomie, Soziologie und
Politologie - unser Erbe aus dem 19. Jahrhundert - erfaßt eigentlich nicht die
soziale Realität als Ganze, sondern nur Teile davon. Die analytische
Grundeinheit der Soziologie ist die Zivilgesellschaft, aber wenn diese
schrumpft, heißt das, daß die soziologische Wissenschaft uns immer weniger
sagen kann über die Welt, die wir verlassen, und über die Welt, in die wir
hineingehen.
Fernand Braudel sagte einmal: „Der Kapitalismus ist der Feind des Marktes.“
Der Kapitalismus schwanke vielmehr zwischen Monopol und Markt, und jetzt sieht
man, daß die transnationale Monopolbildung den Markt verdrängt.
Ich möchte Sie an eine Forschungsarbeit von Andy Coghlan und Debora
MacKenzie erinnern, die im Oktober 2011 auf der Webseite des New
Scientist veröffentlicht wurde. Diese Forschergruppe zeigte, daß 147
Firmen, ein Prozent aller Unternehmen, 40% der Weltwirtschaft kontrollieren.
Das ist sehr aufschlußreich, denn es bedeutet, daß die moderne Wirtschaft,
deren analytische Grundeinheit der Markt ist, mehr verdeckt als sie zeigt. Die
Politik und der Nationalstaat werden immer schwächer, was bedeutet, daß die
politische Wissenschaft mit ihren analytischen Grundeinheiten Politik und
Staat die realen Machtbeziehungen besonders auf globaler Ebene nicht nur nicht
angemessen konzeptionalisieren, sondern noch nicht einmal richtig abbilden
kann.
Zweitens gibt es mit der politischen Wissenschaft noch ein weiteres ernstes
Problem. Wirkliche Macht ist gewöhnlich eine geheime oder halbgeheime
Schattenmacht. Die herkömmliche politische Wissenschaft verfügt weder über die
Konzepte noch über die Methoden, um diese Art Macht zu analysieren. Je
demokratischer die Fassade der westlichen Gesellschaft im 19. und 20.
Jahrhundert wurde, um so weniger reale Macht hatte sie. Die Macht wanderte in
geschlossene Clubs, supranationale Strukturen usw. ab.
Was ich hier sage, ist banal und trivial, aber die politische Wissenschaft
in ihrem jetzigen Zustand kann die realen Machtverhältnisse nicht analysieren.
Integriert man diese Strukturen als analytische Einheiten in die herkömmliche
politische Wissenschaft, wird diese gesprengt.
Eine neue Sozialwissenschaft
Deswegen brauchen wir eine neue Sozialwissenschaft, um die reale Welt zu
studieren, und nicht das, was die vermeintliche Fachwelt als real definiert.
Eine neue Sozialwissenschaft mit neuen Fachbereichen, neuen Konzepten und
einem gesellschaftlichen Rückhalt, mit dem ein neuer Typ von Wissenschaftlern
entstehen kann, hat die besten Chancen, das 21. Jahrhundert zu gewinnen oder
zumindest die Versuche zu vereiteln, uns von unserem europäischen Erbe
abzuschneiden.
Offensichtlich läßt sich eine neue Wissenschaft nur durch neuartige
Strukturen schaffen. Welche Organisationen analysieren die heutige Realität?
Das sind vor allem wissenschaftliche Organisationen und die Analyseabteilungen
der Geheimdienste, aber beide stecken in einer tiefen Krise. Wir erleben heute
eine Krise sowohl der wissenschaftlichen Organisationen als auch der
Analyseabteilungen der Geheimdienste.
Die Wissenschaft scheint nicht fähig zu sein, große Informationsmengen zu
verarbeiten, und fühlt sich unbeholfen, Informationsströme zu analysieren. Die
Lücke zwischen Informationsströmen, besonders professionellen Strömen, und dem
Durchschnittsniveau eines gewöhnlichen Wissenschaftlers wird größer. Statt
Wissenschaftlern haben wir, wie ich schon sagte, Fachleute, die immer mehr
über immer weniger wissen. Das Gesamtbild erinnert einen an die Lage der
Scholastik am Ende des 15. Jahrhunderts: Die Verengung der Forschung auf
Fallstudien und keine universelle Sprache zwischen den verschiedenen
Wissensbereichen.
Was die Analyseabteilungen der Geheimdienste angeht, so scheinen sie
unfähig zu sein, in einer Welt zu arbeiten, in der fast alle wichtigen
Informationen öffentlich zugänglich sind. Dadurch verändert sich ihr gesamtes
Geschäft.
Es müssen deshalb grundsätzlich neue Strukturen geschaffen werden. Darin
müssen die besten Seiten wissenschaftlicher Strukturen und die geheimer
Organisationen miteinander verbunden werden. Letztere müssen die reale und
nicht eine imaginäre Welt analysieren, wobei sie auch auf indirekte Hinweise
achten müssen.
Die Sozialwissenschaft vernachlässigt gewöhnlich indirekte Hinweise, die
jedoch sehr wichtig sind. Wie die Wissenschaft müssen sie sich gleichzeitig
auf die Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten von Massenprozessen
konzentrieren. Solche Strukturen dürfen nicht bloß analytische Einheiten,
sondern müssen auch organisatorische Waffen im Kampf um die Zukunft sein.
Ich weiß sehr gut, daß es einfacher ist, diese Dinge auszusprechen, als
solche Organisationen tatsächlich zu schaffen, aber man muß es versuchen.
Vielen Dank.
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