Was ist die Menschheit als Gattung?
Von Bruce Fein
Bruce Fein ist Verfassungs- und Bürgerrechtler und war unter
Präsident Ronald Reagan (1981-82) Unterstaatssekretär im US-Justizministerium.
Er verfaßte eine Anklageschrift für ein Absetzungsverfahren gegen Präsident
Barack Obama. Bei der Konferenz des Schiller-Instituts am 26.1. 2013 in New
York City hielt er den folgenden Vortrag.
Vielen Dank, daß Sie an dieser äußerst wichtigen Konferenz teilnehmen. Wie
Heinrich V. vor Agincourt sagte - „Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein
Brüder“.1
Nun, unsere Aufgabe ist, denke ich, eine noch etwas größere Herausforderung
als die, vor der Heinrich V. stand, aber bevor wir auf die Details kommen,
möchte ich das Publikum warnen, daß alle die Lobeshymnen, mit denen die
Gastgeber hier die Redner überschütten, nicht unter Eid gehalten werden - das
müssen Sie berücksichtigen.
Die Frage, die wir, so scheint es mir, als erste beantworten müssen, ist:
Was ist die Menschheit? Was unterscheidet die menschliche Gattung von anderen,
tierischen Gattungen? Und diese Frage stellt sich ganz offensichtlich jedem,
der auch nur zehn Sekunden lang Snooki oder Honeys Boo Boo anschaut, weil das
so ungefähr auf der Cro-Magnon-Stufe der Darwinschen Rück-Evolution liegt.
Meine Definition der Menschheit, die diese Gattung von allen anderen
unterscheidet, ist die Begeisterung für die Suche nach der Wahrheit ohne
Hintergedanken. Und ich wiederhole das: die Suche nach der Wahrheit ohne
Hintergedanken. Und Wahrheit ist hier nicht so etwas wie die Suche nach
Newtons Bewegungsgesetzen, sondern, die Wahrheit festzustellen: Was ist -
zwischen Asche zu Asche und Staub zu Staub - Tugend? Was macht das Leben
lebenswert? Was gibt ihm Würde? Das, was wir Toleranz nennen könnten, den
Rechtsstaat anzuerkennen und zu wahren, unsere Sucht, zu herrschen und unsere
Gelüste zu befriedigen, im Zaum zu halten, anstatt ein erwachsenes Leben zu
führen, in der Tugend und Wissen und Zurückhaltung das summum bonum des
Lebens sind - und nicht Reichtum, Sex, Geld, Herrschaft und Macht, die
leiblichen Genüsse.
Das ist meiner Meinung nach die entscheidende Frage, vor der die Menschheit
steht. Haben wir das Recht verwirkt, uns als Männer und Frauen zu bezeichnen -
im Gegensatz zu einer untermenschlichen Gattung, die nach dem Kitzel strebt,
andere Mitglieder der menschlichen Gattung oder Tiere zu töten oder den
größten Teil ihrer Zeit damit verbringt, solche Leute wie Lady Gaga oder Mike
Tyson zu beneiden oder andere Jammergestalten, die zu den Ikonen der Popkultur
gehören?
Erinnern Sie sich daran, daß das keine neue Frage ist. Mark Twain schrieb
schon vor über hundert Jahren: Der Hauptunterschied zwischen einem Hund und
einem Menschen ist der, daß ein Hund, wenn man ihn Hund rettet und ihm etwas
zu fressen gibt, uns dann nicht in die Hand beißt.2
Ich halte es auch für falsch zu meinen, die Herausforderung, das
menschliche Element der Menschheit zu erhalten - anstatt zuzulassen, daß es
den Gelüsten untergeordnet wird - sei überhaupt etwas Neues für diese
Generation. Ich verweise Sie auf das Buch der Prediger, da heißt es:
„Das, was war, ist das, was sein wird. Und das, was getan wurde, ist das, was
getan wird. Und es gibt nichts völlig Neues unter der Sonne.“
Ich glaube, all unsere Untersuchungen machen uns auf die Tatsache
aufmerksam, daß die DNA in der Gattung vom Anfang der Zeit an unverändert
geblieben ist. Sie kennt keine geographischen Grenzen, sie kennt keine
religiösen Grenzen, sie kennte keine Grenzen zwischen den Geschlechtern oder
den sexuellen Orientierungen. Und deshalb ist dieses Streben nach der Essenz
des Lebens - die Gelüste den höheren Tugenden der Weisheit, der Kenntnis und
der Zurückhaltung unterzuordnen - meiner Meinung eine Aufgabe, mit der von
Anfang an jede Generation konfrontiert war.
Wofür ich mich begeistern kann
Um hier mit offenen Karten zu spielen, werde ich Ihnen etwas über meinen
Hintergrund sagen. Ich wurde in Cambridge/Massachusetts geboren, und meine
erste Bekanntschaft mit der äußeren Welt waren Lexington und Concord, die Alte
Nordbrücke, Paul Reveres Ritt und William Longfellows Gedicht:3
„Listen, my children, and you shall hear
Of the midnight ride of Paul Revere.
On the eighteenth of April in '75;
Hardly a man is now alive
Who remembers that famous day and year.”
Ich habe niemals Videospiele gespielt oder mich dafür interessiert, ich
habe niemals Marihuana geraucht oder Wein getrunken. Aber ich gerate in
freudige Erregung bei Ralph Waldo Emersons „Concord Bridge“:4
„By the rude bridge that arched the flood,
Their flag to April's breeze unfurled,
Here once the embattled farmers stood,
And fired the shot heard round the world.”
Dafür kann ich mich begeistern. Und die leitende Kraft in meinem Leben -
das ist meiner Meinung nach die Antwort auf die Frage, ob wir die Menschheit
retten können - war wirklich, daß ich schon sehr früh in meinem Leben den
„Prozeß gegen Sokrates“ las, wo er sein Leben opfert, um die Idee eines freien
Geistes und der Suche nach der Wahrheit zu verteidigen - was ist Tugend, was
ist Moral, und was nicht? -, indem er den Schierlingsbecher trinkt, statt
klein beizugeben und bei der Verteidigung der Freiheit zurückzuweichen. Das
ist es, was mich begeistert. Das ist das höchste, was man im Leben erreichen
kann.
Im Gegensatz zu dem, was man sieht, wenn man heutzutage durch Washington
geht - und das gilt nicht nur für die Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Wer
sind die Leute, die man feiert und ehrt auf den Statuen im Lafayette-Park,
gegenüber dem Sitz von Präsident Obama im Weißen Haus? Rechtsanwälte, nicht
wahr? Und Leute, die berühmt wurden, indem sie andere Leute töteten. Man wird
Rodins Denker nicht in den Korridoren der Macht in Washington finden.
Wenn wir zurückgehen und lesen, worum es im Trojanischen Krieg ging - worum
wurde da gekämpft? Nicht um Moral - sie kämpften um eine Frau, Helena von
Troja. Das war es, was den Konflikt antrieb.
Und die Leute, die man feiert, und die Helden - sogar in der Ilias
und in der Odyssee, Hektor, Odysseus, Agamemnon -, das sind die
Krieger, Nestor steht mehr im Hintergrund. Der Denker wird nicht respektiert,
man gibt ihm unter all diesen anderen heroischen Kämpfern, die auf den
Podesten stehen, nicht die Ehre.
Und das ist meiner Meinung nach die größte Gefahr für die Menschheit. Denn
wenn eine Gattung sich dafür begeistert, andere zu beherrschen und zu töten,
dann hat sie keine lange Lebenserwartung. Und dieses Problem existierte von
dem Moment an, wo die Menschheit begann, auf der Erde herumzutapsen. Sie
können darüber im Alten Testament lesen und im Neuen Testament. Ich habe
20.000 Bücher gelesen - jede politische Geschichte vom Anfang aller Zeiten an
- und es geht stets um dasselbe: Man hat eine Kultur, die sich aufgrund der
DNA instinktiv dafür begeistert, für jene Art der Chemie, jene Art der
Aufregung, für die wir vorprogrammiert sind, der Kitzel, der mit der
Herrschaft, der Kontrolle einhergeht- zum Mond zu fahren, auf die Berge zu
klettern, jemanden zu töten, andere zu beherrschen. Wir müssen groß
sein, wir müssen die ganze Welt sehen, wir können nicht zulassen, daß irgend
etwas geschieht, ohne daß wir es steuern oder manipulieren können.
Und das Beispiel geben vor allem Länder, die den Status eines Imperiums
haben, die Fähigkeit, aufgrund ihrer militärischen Macht anderswo relativ
ungestraft zu intervenieren. Es ist weniger stark ausgeprägt in Ländern, die
klein sind und nicht die Fähigkeit haben, andere zu zwingen und zu
beherrschen. Und deshalb haben wir in den Vereinigten Staaten zu Beginn, als
wir noch ein kleines Land mit nur 13 Bundesstaaten waren, eine meiner Meinung
nach angemessene Bescheidenheit gezeigt; wir hatten kein großes Militär,
vielleicht sechs Fregatten, die Briten hatten 845 und segelten um die ganze
Welt und führten, wie wir es heute tun, überall Kriege - den Burenkrieg, die
drei Afghanistan-Kriege, die Kriege in Burma und anderswo.
Unser Glaubensbekenntnis in Bezug auf Kämpfe wurde 1821 von John Quincy
Adams verkündet, dem sechsten Präsidenten, der aber damals, 1821, noch
Außenminister war und in seiner Rede vor dem Kongreß5 sagte: „Wir
gehen nicht ins Ausland und suchen dort Monster, um sie zu zerstören.“ Der
Ruhm einer Republik ist die Freiheit. Der Ruhm eines Imperiums ist Herrschaft
und Kontrolle.
Und er sagte, wenn wir es wollten, könnten wir zum Herrn der Welt werden,
aber dann würde unsere Politik sich von einer Politik der Freiheit zu einer
Politik der Herrschaft und des Konfliktes wandeln. Und er dachte, daß dies das
Ende des amerikanischen Experiments wäre, während wir uns durch die
Gewaltenteilung von anderen Ländern unterscheiden könnten.
Verlorene Tradition
Gewiß, heute ist diese Idee verloren gegangen. Selbst die Tötung Osama bin
Ladens - da gab es närrischen Applaus, als hätten wir ein Footballspiel beim
Superbowl gewonnen oder so etwas. Nicht daß Osama bin Laden jemand wäre, dem
man nacheifern sollte, aber es ist eine Tragödie und kein Grund zum Feiern,
daß ein Mensch sich in solch eine Kreatur verwandeln konnte. Und auch, weil
wir uns nicht einmal die Frage gestellt haben, ob wir etwas getan haben, um
eine solch schreckliche, abstoßende Reaktion zu provozieren? Vielleicht
provozieren wir die anderen Menschen dazu, so zu reagieren, weil wir Truppen
in 180 Ländern haben - 200.000 Soldaten, die im Ausland stationiert sind - und
intervenieren, wenn es uns gefällt. Wir verkünden die Doktrin, daß Macht vor
Recht gehe. Und daß wir deshalb, wenn wir es wollen, eine Predator-Drohne
gegen jeden einsetzen können, den wir töten wollen, und daß wir es heimlich
tun können, selbst gegen unsere eigenen Bürger; wir könnten Richter, Jury,
Ankläger und Henker gleichzeitig spielen und das entspreche dann einem
ordentlichen Gerichtsverfahren.
In unseren Augen oder denen des Weißen Hauses mag das so sein, aber
nirgendwo sonst auf der Welt betrachtet man das als rechtsstaatliches
Vorgehen.
Und warum ist das so wichtig? Warum stellen unsere unbekümmerten Verstöße
gegen den Rechtsstaat eine Bedrohung für die Menschheit dar?
In der Geschichte der Zivilisation war der Rechtsstaat die wichtigste Idee,
die über alles andere emporragt - sogar über Newtons Bewegungsgesetze, die
Gravitation und Heisenbergs Unschärfeprinzip, alle diese physischen
Vorstellungen vom Universum. Denn erst mit dem Rechtsstaat hat die Menschheit
anerkannt: Auch ich könnte mich irren. Ich muß auch die andere Seite
hören. Darum geht es im Rechtsstaat. Ereignisse sind vielschichtig, nicht
eindimensional. Andere Leute können sie auch anders sehen. Wir brauchen einen
unparteiischen Richter, der entscheidet, wie die miteinander konkurrierenden
Ambitionen und Spannungen aufgelöst werden. Wir können uns nicht selbst
trauen, wenn wir einen Interessenkonflikt haben.
Diese Bescheidenheit - auch ich könnte mich irren - ist die höchste
Idee in der Geschichte der Menschheit. Zu glauben, daß es die Welt nur in
Grundfarben gebe, ohne Halbdunkel, ohne Schattierungen - das ist es, was zu
Krieg und Kämpfen führt. Die Menschen glauben einfach, sie hätten die letzte
Wahrheit erkannt und jeder, der nicht mit ihnen übereinstimmt, sei ein Feind.
Anstatt zu denken: „Nein, in der Menschheit sitzen wir alle in einem
Boot.“
Erinnern Sie sich an John Donne: „So frage nicht, für wen die Glocke
schlägt, denn sie schlägt für dich.“6 Wir alle sind Teil der
Menschheit, und wir wollen, daß alle zu den Gewinnern gehören. Wir
wollen die Welt nicht aufteilen durch geographische Grenzen, Sekten,
Geschlechter oder den Wunsch, daß einige untergeordnet und andere überlegen
sind. Jeder muß eine faire Chance im Leben haben. Jeder muß in den Genuß des
Rechts und des Rechtsstaats kommen. Wir haben keine Schadenfreude. Wir
verspotten keine Leute, weil sie gefallen sind, oder weil sie in Umstände
hineingeboren wurden, die weniger vorteilhaft sind als unsere eigenen.
Und diese Idee in unserer Gattung, daß wir alle Stämmen angehören - es ist
so, wie ich sage, das sind die Metaphern, die man benutzt; die Metaphern eines
Spiels, eines Footballspiels in den Vereinigten Staaten: das blaue Team und
das rote Team, der Spielmacher oder der Rückraumspieler. Ist das für Kinder,
die im Sandkasten spielen und beschließen, wessen Burg die andere überlebt?
Das ist ein infantiles, kindisches Denken, aus dem man mit etwa zwölf Jahren
herauswachsen sollte, bevor man zum Teenager wird. Aber jetzt weiden sich
selbst 50-, 60-, 70jährige an der Idee, die Politik und das Leben seien wie
ein Spiel.
Aber das stimmt nicht. Es ist etwas Höheres, wenn es mehr bedeuten soll als
bloß Überleben um des Überlebens willen. Und wenn wir fragen, was notwendig
ist, um die Menschheit zu retten, dann geht es nicht darum, ob die Menschheit
überleben kann im Sinne ihrer Atmung. Sie ist nicht in dem Sinne ausgestorben,
wie die Dinosaurier ausgestorben sind, wie haben immer noch eine Gattung, die
so ausschaut wie Menschen. Aber wenn sie nicht bewegt und motiviert ist von
den höheren Tugenden des Wissens, der Weisheit und der Zurückhaltung, dann ist
das nicht mehr die Menschheit! Der Name ist vielleicht noch der gleiche, aber
dem Begriff ist jegliche Substanz genommen.
Die Aufgabe bleibt es, Mensch zu bleiben
Und ich denke, wenn wir unser eigenes Leben betrachten, das Schicksal
unserer Gattung, das Schicksal unseres Landes, daß es falsch wäre anzunehmen,
es gäbe da einen Endpunkt, ein Problem, und eine Art Silberkugel, die all
dieses Elend, die Mängel, Schwächen, Krankheiten, Pathologien der Menschheit
beseitigt. Denn meine Einschätzung ist, daß bei dieser ganzen Übung der Prozeß
das wichtigste ist - der Prozeß ist das Resultat. Die Art, wie wir selbst das
Leben betrachten, wie wir andere Menschen behandeln. Mit Würde, mit
Rücksichtnahme, indem wir zu unseren Prinzipien stehen, andere Meinungen
haben, ohne unfreundlich zu werden, den Rechtsstaat wahren, bestimmte Dinge
haben, für die wir zu kämpfen und zu sterben bereit sind - auch zur
Selbstverteidigung. Sie mögen gegen unsere Grundprinzipien verstoßen, aber wir
könnten uns auch irren. Unser Lebensstil gefällt anderen vielleicht nicht so
gut wie uns selbst. Und wir erlauben es dann den anderen Völkern, eigene Wege
zu gehen. Der Geist der Nächstenliebe, Vergebung, Selbstkritik, Zurückhaltung
- wir könnten uns irren. Nicht jene Arroganz und Hochmütigkeit, die wir in den
Vereinigten Staaten jeden Tag sehen, noch markanter als anderswo, weil wir
damit durchkommen, ohne jene Resonanz oder Abschreckung, die das anderen
Ländern, die kleiner sind, nicht erlauben.
Und in diesem Prozeß des Lebens liegen das Herz und die Seele der
Menschheit.
Erinnern Sie sich an die berühmten Worte von Shakespeares Hamlet?
„Was ist der Mensch,
Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut
Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter.
Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf,
Voraus zu schaun und rückwärts, gab uns nicht
Die Fähigkeit und göttliche Vernunft,
Daß ungebraucht sie in uns schimmle.“7
Und das ist vielleicht Shakespeares berühmtestes Schauspiel. Und er fragt
hier: Nun, was ist der Zweck unserer Zeit hier auf der Erde, bevor unser
Nachleben beginnt? Und das, scheint mir, ist es, worum es bei der Menschheit
geht.
Nun, wie können wir dann das, was wir in unserem täglichen Leben sehen,
wenigstens bessern, alle unseren großen Nachteile, was man „suboptimales
Leben“ nennt, daß die Massen existieren, leben und gedeihen können und sich am
allgemeinen Streben beteiligen?
Thoreau8 schrieb in Walden, daß die Masse der Menschen
ein Leben in stiller Verzweifelung führt. Ich bin mir nicht sicher, daß dies
Leben in stiller Verzweiflung sind, aber ich glaube, Sie alle hier im Publikum
und wir hier auf dem Podium haben eine Verpflichtung, zu versuchen, bei der
großen Mehrheit - die, wie ich meine, ihrer Natur nach mehr dazu neigt, ihren
Gelüsten zu folgen, statt sich dafür zu begeistern, wie Sokrates zur
Verteidigung der Freiheit des Geistes den Schierlingsbecher nimmt - durch
Anleitung und Vorbild und indem wir ein untadeliges Leben führen die besseren
Aspekte ihres Charakters hervorzulocken und anzuregen, sie dafür zu begeistern
und ihr einzuschärfen, daß sie sich anschließt und dieses Land wieder auf
seinen republikanischen Stand erhebt, den es trotz vieler Mängel in seinen
Anfängen genoß.
Die Rolle der Anführer
Und hier will ich etwas untersuchen, was meiner Meinung nach ein Paradox
ist, wenn man so will, jedenfalls in den Vereinigten Staaten und einigen
anderen Ländern, die ich als akephal bezeichnen möchte - führerlos, angeführt
durch Nicht-Führer.
Wenn ich mir heute hier das Publikum anschaue, dann ist das in mancher
Hinsicht ein Triumph der Idee der Gleichheit, der weit über das hinausgeht,
was 1776 existierte, als der Schuß abgefeuert wurde, den man in der ganzen
Welt hörte. Denn die Menschen hier mit ihren unterschiedlichen Hautfarben, die
verschiedenen Geschlechter, die hier sind - das gab es 1776 nicht. Wenn eine
solche Versammlung stattfand, dann waren bloß weiße Männer, wahrscheinlich
angelsächsische Protestanten im Raum. Die anderen hatten dann bloß einen
abgegrenzten Status.
Und die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz hat enorme Fortschritte gemacht
gegenüber der Zeit vor Jahrhunderten. Sie machte enorme Fortschritte, trotz
der Tatsache, daß es am Anfang dieser Bemühungen so erscheinen mußte, als
stünde man am Fuß des Mount Everest und sagte: „Mein Gott, das ist ein weiter
Weg nach oben, werden wir je dort ankommen?“
Boston, nahe Cambridge/Massachusetts, war der Ort, an dem William Lloyd
Garrison 1831 das Magazin Liberator gründete. Herr Garrison war ein
sogenannter Abolitionist9, das galt damals als eine ziemlich
extremistische Position. Denn alle wirtschaftlichen und politischen Mächte
waren damals für die Sklaverei, jedenfalls im Süden würde sie nicht beseitigt
werden. Er griff die Sklaverei an als einen Bund mit der Hölle. Und anfänglich
teerte und federte man ihn, und er wurde aus Boston vertrieben, aber er war
standhaft. Ich muß hier nicht jeden einzelnen Schritt auf diesem Wege
nacherzählen, aber die letzte Nummer des Liberator erschien 1865, als
der 13. Verfassungszusatz, den sie vielleicht kennen, wenn Sie den Film
Lincoln gesehen haben, ratifiziert und die Sklaverei abgeschafft wurde.
Aber ich kann Ihnen sagen, daß er, als er begann, als ein hoffnungsloser
Träumer verspottet wurde. „Das werden Sie niemals erreichen, Herr
Garrison.“
Und für die Frauen unter meinen Hörern: Sie erinnern sich vielleicht an
1848, Seneca Falls10, an Elizabeth Cady Stanton, Susan B. Anthony
und andere. Wir mußten wirklich die Stimmen für etwas gewinnen, was Abigail
Adams ihrem John schon früh geraten hatte, als über die Erklärung der
Unabhängigkeit beraten wurde, aber es dauerte noch gut 70 Jahre [1920], bis
der 19. Verfassungszusatz ratifiziert und das Wahlrecht für Frauen eingeführt
wurde. Susan B. Anthony wurde übrigens verhaftet, weil sie das Verbrechen
beging, wählen zu wollen. Was für eine Herausforderung für die Orthodoxie!
Ähnlich war es, als die Bemühungen begannen, die religiöse Verfolgung zu
beenden, was damals unmöglich und völlig aussichtslos erschien. Viele verloren
ihr Leben auf dem Scheiterhaufen - einer von ihnen war [Giordano] Bruno, aber
er war nur einer von denen, die beim Streben nach religiöser Toleranz ums
Leben kamen.
Wir können uns also nicht entmutigen lassen von dem, was für alle von uns,
die nicht wie Ichabod Crane11 geschlafen haben, offensichtlich ist,
daß wir wie alle Generationen vor uns vor einer Krise stehen, um unsere
Identität als Menschen zu bekräftigen - und nicht als Tiere und Wilde, die
einen Kitzel darin finden, ihre Gelüste zu befriedigen, in dem instinktiven
Streben nach Herrschaft und Kontrolle und leiblichen Genüssen.
Nun, was bedeutet das? Es scheint mir, daß wir in den Vereinigten Staaten
von der Idee abkommen müssen, daß Führer überflüssig seien, um die Menschheit
vom Abgrund der Zerstörung wegzuführen. Wir haben in diesem Zug keine lange
Lebenserwartung, wenn wir nicht umsteigen. Denn die Fähigkeit, uns selbst zu
vernichten, ist heute viel mächtiger als zu Anfang, als die Schlachten
begrenzt waren, einfach durch die primitive Art der Waffen. Während wir heute
ein verrücktes und fanatisches politisches System haben, das Menschen an der
Spitze hält, die nach Herrschaft streben und die ganze Welt sehr schnell
zerstören können.
Wir in den Vereinigten Staaten haben dieses Paradox. Als diese lobenswerten
Dinge geschahen und die Überreste dieser Elemente einer Kaste beseitigt
wurden, die die Frauen, bestimmte religiöse, ethnische, rassische Gruppen
unterdrückt hielt - wir haben jetzt eine viel gleichberechtigtere Gesellschaft
unter dem Gesetz als jemals zuvor -, haben wir eine Kultur des kleinsten
gemeinsamen Nenners entwickelt. Das war völlig vorhersehbar. Denn Ideen und
Talent sammeln sich im Allgemeinen an den Orten, welche die Quelle
wirtschaftlichen Wohlstands und politischer Macht sind. Und um Wohlstand und
politische Macht zu gewinnen, gilt es heute als vorausschauend, an den
kleinsten gemeinsamen Nenner zu appellieren. Ich will hier nicht elitär
klingen, was manche heute als ein Schimpfwort betrachten, auch wenn Thomas
Jefferson vor Jahrhunderten noch von einer Aristokratie der Verdienste
sprechen konnte, ohne deshalb ausgelacht zu werden. Wenn Sie heute das Wort
Aristokratie verwenden - oh Gott! Das ist jemand, der uns in vorbiblische
Zeiten zurückführen will.
Aber Tatsache ist - und das ist eine Wahrheit, die wir daraus ableiten
können, wenn wir alle politischen Gesellschaften der letzten 4000 Jahre
betrachten -, daß es nur relativ wenige Leute außerhalb der glockenförmigen
Kurve gibt, die ein Talent zur Führung haben, um die besseren Seiten unserer
Natur anzusprechen. Aber weil wir heute eine so egalitäre Kultur haben, gibt
es den stillschweigenden, wenn nicht sogar unterbewußten Glauben, daß Weisheit
und Richtigkeit durch Selbstentzündung aus der Mehrheit hervorgehen - so als
könne die Mehrheit per Abstimmung darüber entscheiden, was die
Lichtgeschwindigkeit ist, oder über die Newtonsche Physik abstimmen
könnte.
Aber das stimmt einfach nicht. Wenn die Mehrheit irgend etwas glaubt oder
behauptet, dann ist das wahrscheinlich ein guter Hinweis darauf, daß es
falsch ist. Es gab Zeiten, da glaubte die Mehrheit an Hexen und an
Hexerei. Jahrhundertelang glaubte die Mehrheit an das geozentrische Weltbild,
und Galileo wurde unter Hausarrest gestellt, weil er den Mut hatte, zu
vermuten, daß es falsch sei. Aber heute bringt die Mehrheitskultur Leute ins
Rampenlicht, die nur an Vorstellungen appellieren und sie zu erfüllen suchen -
„Ich bin eine Hockey-Mama, ich bin Joe der Klempner. Ich bin so wie ihr,
deshalb solltet ihr mich wählen. Ich brauche nichts zu wissen.“ Tatsächlich
ist es gefährlich, etwas zu wissen - fragt Rick Perry12. „Wir
sollten D-Studenten [die schlechtesten] holen, das ist es, was wir wirklich
wollen.“ Oder Sarah Palin - „Wir brauchen keine Zeitungen, Denken ist
schlecht. Nur Elitisten denken.“ Können Sie sich vorstellen, was Sokrates
erleben würde, wenn er eine Sekunde vor Herrn Perry oder Sarah Palin
stünde?
Das ist leider nur die Spitze des Eisbergs. Es ist etwas, was unsere
gesamte politische Kultur durchdringt. Wir brauchen Menschen, die Führung als
das respektieren und ehren, was sie ist, Menschen, die einen George Washington
zum Anführer wählen würden, oder Sokrates, und erkennen, daß sie Anleitung
brauchen. Nicht, weil sie weniger gleich wären vor dem Gesetz, sondern wegen
der glockenförmigen Kurve. Die meisten Leute sind nicht dazu geeignet,
Anführer zu sein, die anderen dazu begeistern, den höchsten Prinzipien zu
folgen, sich ohne Hintergedanken für die Suche nach Wissen und Wahrheit zu
begeistern. Das ist etwas, wofür unser System vorprogrammiert ist.
Und wenn man heute die Welt überschaut, und ich vermute, daß das schon von
Anfang an so war, und das berechnet, was ich den menschlichen Elends-Index
nenne - Unterdrückung, Entbehrungen und anderes - dann besteht dieser
menschliche Elends-Index zum größten Teil daraus, daß Menschen andere Menschen
abschlachten, unterdrücken, töten, unterwerfen und einschüchtern. Nur ein
ganz, ganz kleiner Teil der Toten kommt von Tsunamis, Asteroiden, Hurrikanen.
Auch wenn wir sie nicht ganz ausschließen können, ist ihr Anteil winzig.
Das müssen wir ändern, wenn wir die Menschheit retten wollen. Und ich sage,
es ist nicht so, daß wir einen Endpunkt erreichen werden, wo wir sagen können:
„Wir haben das gelobte Land erreicht, hoffen wir, daß wir darauf nicht 40
Jahre lang warten müssen wie Moses.“ Sondern es ist der Prozeß, das Wissen und
das Ringen. Ja, wir mögen in unserem Leben scheitern, aber das ist die einzige
Art zu leben, die es wert ist, gelebt zu werden. So will ich leben, wegen dem,
was es über uns als Menschen und uns als Individuen und über das aussagt,
wofür man sich an uns erinnern wird.
Ich möchte schließen mit einem Verweis auf die Rede des Thukydides zum Tode
des Perikles. Er ermahnte die Menschen, nicht zu glauben, das höchste und
beste Grab sei irgend ein napoleonisches Mausoleum oder ein Mausoleum wie das
Lenins, das für immer auf dem Roten Platz steht - er sagt, das Grabmal, nach
dem wir alle streben sollten, ist es, für immer im Leben und im Herzen der
Menschen weiterzuleben, die leben und die noch geboren werden.
Und das müssen wir tun, wenn wir die Menschheit retten wollen. Diese
Begeisterung ist es, für die wir leben und die wir unseren Kindern einimpfen
müssen, den Teenagern, den Erwachsenen. Und wenn das geschieht, dann werden
wir alle Übel der Menschheit schon bald überwinden.
Sogar in Bezug auf die Armut. Wie schon Seneca sagte: Ein Mensch, der nach
mehr Reichtum strebt, selbst wenn er ein Mike Bloomberg ist, ist eigentlich
sehr arm. Ein Mensch, der zufrieden ist mit seinem spärlichen Besitz, ist
eigentlich sehr reich. Das war es, was König Lear entdeckte, nachdem er sein
Königreich und sein Schloß an Gonerill und Regan verloren hatte, und Cordelia
entdeckte. Er wurde reich, als er allen Besitz verlor.
Vielen Dank.
Anmerkungen
1. William Shakespeare, Heinrich V., 4. Aufzug, 3. Szene
(Übersetzung von August Wilhelm Schlegel):
„Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Märe,
Und nie von heute bis zum Schluß der Welt
Wird Krispin-Krispian vorübergehn,
Daß man nicht uns dabei erwähnen sollte,
Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder.“
2. Mark Twain, Pudd’nhead Wilson (dt. „Knallkopf Wilson“): „Wenn man
einen verhungernden Hund aufliest und ihn wieder aufpäppelt, dann wird er dich
nicht beißen. Das ist der Hauptunterschied zwischen einen Hund und einem
Menschen.“
3. William Longfellow, Paul Reveres Ride, ungefähr:
„Hört zu, meine Kinder, und höret die Mär
Vom nächtlichem Ritt des Paul Revere
Im Jahr 75, am 18. April;
Kaum ein Mensch ist jetzt noch am Leben,
Der heute noch könnt’ davon Kunde geben.“
4. Waldo Emersons Concord Hymn, ungefähr:
„An der rohen Brück’, die den Fluß überspannt,
Die Flagg’ in der muntren Aprilbrise wallt,
Standen hier die Farmer, zum Kampfe gespannt,
Zu feuern den Schuß, der die Welt umhallt.“
5. Originaltext siehe
http://millercenter.org/scripps/archive/speeches/detail/3484
6. John Donne (1572-1631), Meditation 17 („Niemand ist eine Insel“).
7. William Shakespeare, Hamlet, 4. Akt, 4. Szene., Übersetzung von August
Wilhelm Schlegel.
8. Henry David Thoreau (1817-1862), US-amerikanischer Schriftsteller und
Philosoph.
9. Er trat ein für die Abschaffung der Sklaverei.
10. Am 19.-20. Juli 1848 fand in Seneca Falls/New York die erste große
Versammlung der westlichen Hemisphäre statt, die eine Resolution für das
Wahlrecht der Frauen beschloß.
11. Ichabod Crane ist die Hauptfigur in Washington Irvings Novelle The
Legend of the Sleepy Hallow (dt. „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“)
(1820).
12. Der Nachfolger George W. Bushs als Gouverneur von Texas.
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