Die Fundamente der Zivilisation
Von Bruce Fein
Letzter Redner im ersten Panel „Die SDE als Plattform für die
gemeinsamen Ziele der Menschheit“ auf der Konferenz des Schiller-Instituts am
13.-14. April war Bruce Fein, ehemaliger Unterstaatssekretär im
Justizministerium unter US-Präsident Ronald Reagan.
Danke, daß Sie alle heute gekommen sind. Ich möchte Sie zunächst darauf
aufmerksam machen, warum es einige Bedenken an meiner Glaubwürdigkeit geben
könnte. Erstens sollten Sie wissen, daß ich keinen Fernseher habe, ich bin
nicht auf Facebook oder Twitter unterwegs, ich lese nur gebundene Bücher, also
nichts von Kindle, sondern Bücher wie Plutarchs Leben im richtigen
festen Einband. Ich habe nie TV-Serien wie „American Idol“ gesehen und es
interessiert mich nicht, wer den Super Bowl gewinnt. Ich befasse mich mit
meinem eigenen moralischen Barometer in der Welt. Das sollten Sie einfach zu
meinem Hintergrund wissen.
Die zweite Beobachtung, die ich anstellen will, ist, daß sich die Menschen
heute nicht zum ersten Mal Sorgen um die Gefahren aus dem Weltall machen und
um das, was daraus erwachsen könnte. Man erzählt sich eine Geschichte über
Papst Kalixt III.; man mag sie anzweifeln, aber als die Christen gegen die
osmanischen Türken in Serbien und anderswo kämpften, hat er den Halleyschen
Kometen als Werk des Teufels verflucht, weil er ihn als ein schlechtes Omen
für den Ausgang ansah. Das scheint sich nicht auf die Kampfhandlung ausgewirkt
zu haben, und auch Oliver Cromwell nahm sich dies in der Schlacht von Marston
Moor im englischen Bürgerkrieg zu Herzen. Er wies seine Truppen an: „Betet zu
Gott, aber haltet das Pulver trocken.“ Immer noch sehr erdverbunden.
Ich möchte nun darauf zu sprechen kommen, was ich für notwendig halte, um
die Zivilisation erhaltenswert zu machen, denn wir müssen uns darüber bewußt
sein, daß viele andere Spezies ebenfalls ausgestorben sind, und wir trauern
nicht unbedingt den Dinosauriern nach, weil es den Tyrannosaurus Rex nicht
mehr gibt. Wir sollten uns deshalb sicher sein, daß unsere Gattung
erhaltenswert ist, bevor wir beschließen, alle Gefahren aus dem Weltall
abzuwenden.
Deswegen habe ich mich entschlossen, das sogenannte „Zivilisatorische
Genom-Projekt“ in Angriff zu nehmen. Es unterscheidet sich von dem „Humanen
Genom-Projekt“, denn es befaßt sich mit dem, was wir kollektiv als Menschen
brauchen, um eine Regierung einzusetzen und eine politische und soziale Kultur
zu entwickeln, die überlebenswert ist, welche uns über ein tierähnliches
Dasein erhebt, das sich nur auf Geld, Macht, Sex und leibliches Wohl bzw.
Herrschaft um der Herrschaft willen aus ist. Ein solches tierähnliches Dasein
müssen wir als Menschen ablehnen.
Ich habe einmal versucht, eine Art „Elendsindex der Welt“ aufzustellen -
welchen Anteil daran man Menschen zuschreiben muß, die andere Menschen töten,
unterdrücken und verfolgen, und welcher Anteil auf Tsunamis und anderen
natürlichen Katastrophen beruht. Weit über 95% bezieht sich auf Menschen, die
andere aus Engstirnigkeit, Herrschsucht und anderen äußerst verderblichen
Motiven ermorden, unterdrücken und beherrschen. Wenn wir das gesellschaftliche
Leben auf der Welt verbessern wollen, müssen wir uns kurzfristig darauf
konzentrieren, Menschen daran zu hindern, Unheil für andere zu schaffen. Das
betrifft nicht nur einige Zehntausend, sondern Milliarden. Dabei geht es um
Unterdrückung oder Tötung von Menschen wegen ihres Geschlechts: Sie können
nicht zur Schule gehen; sie werden wegen ihrer rassischen oder religiösen oder
nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit umgebracht, d.h. aus sehr, sehr
engstirnigen und moralisch verwerflichen Motiven.
Das eigentliche Staatsziel: Entwicklung der Menschen
Denkt man an die Grundlagen, das Genom-Projekt für die Regierung, müssen
wir als erstes Prinzip akzeptieren, was den meisten, wenn nicht allen Menschen
verweigert wird: daß es das eigentliche Ziel des Staates ist, daß Männer und
Frauen ihre Fähigkeiten frei entwickeln können und für ihre Lebensbahn und ihr
Schicksal moralisch verantwortlich sind. Das ist das eigentliche Ziel des
Staates. Es geht nicht um die Höhe der Krankenversicherung oder des BIP oder
der Arbeitslosigkeit; es geht nicht darum, andere zu beherrschen und die
Nummer eins oder Nummer zwei in der Welt zu sein, so wie man Nationen wie
Fußballmannschaften aufreiht und jede Woche eine neue Rangordnung
festlegt.
Das eigentliche Ziel des Staates ist es, die individuelle Herausforderung,
Stärke und Glückseligkeit auf jeweils individuelle Weise zu fördern. Darin
liegt der Erfolg. Erfolg ist nicht, anderen Ländern sagen zu können,
was sie zu tun haben. Erfolg ist nicht, jemand anderem einzutrichtern,
was man selbst für tugendhaft hält. Erfolg ist, wenn man jedem einzelnen eine
faire Möglichkeit gibt, in seinen Bestrebungen voranzukommen. Das ist der
erste Grundsatz, der jeder einzelnen Regierung auf der Welt eingeschärft
werden muß. Auf diese Weise ließe sich der menschliche Elendsindex über Nacht
um ein Vielfaches senken.
Das zweite Genom-Grundprinzip der Zivilisation bezieht sich auf die
Organisation der Regierung. Im Wissen, daß Menschen keine Engel sind, müssen
die Gewalten geteilt oder fragmentiert werden, so daß nicht eine Fraktion die
andere tyrannisieren kann. Unser Gründervater James Madison hat einmal gesagt,
man müsse dafür sorgen, daß „das Streben dem Streben entgegenwirkt.“ Man kann
bei denen, die sich an die Macht klammern, nicht auf Engelseigenschaften
setzen, besonders nicht in der politischen Klasse, die keine Zufallsauswahl
der Bevölkerung ist. Menschen zieht es in die Politik, weil sie gerne andere
beherrschen und egomanisch sind. Sie wollen Beachtung. Deswegen brauchen wir
die gegenseitige Kontrolle.
Wir wissen, was sonst passiert: Man gibt jemandem unbegrenzte Macht,
ungeachtet seines Hintergrunds, wie etwa bei dem derzeitigen Bewohner des
Weißen Hauses, und er maßt sich an, jeden auf dieser Erde umzubringen, von dem
er im Geheimen sagt, er sei eine unmittelbare Gefahr und könnte mit Al-Kaida
unter einer Decke stecken. „Ich brauche keine Kontrolle, ich liege immer
richtig.“ Das sind die Folgen unbegrenzter Macht.
Gegenseitige Kontrolle ist somit unverzichtbar, wenn wir eine Zivilisation
schaffen wollen. Ohne sie folgt Tyrannei. Diese Erkenntnis ergibt sich
einerseits, wenn man zwischen der Gefahr einer zu starken Regierung wählen
muß, die mit einer bestimmten Autorität ausgestattet sein muß, denn im
Naturzustand sind die Geschöpfe nach Hobbes’ Darstellung „armselig, brutal,
gemein und dumm.“ Wir wissen, daß die menschliche Natur ohne Führung verkommen
ist, und wir brauchen eine Regierung, die Raub, Diebstahl und Totschlag
verhindert. Aber in der Wahl zwischen einer zu schwachen und einer zu starken
Regierung werden wir uns für eine schwächere Regierung entscheiden müssen,
denn Regierungen können immer erheblich schlimmer sein als jedes Individuum
oder jede Gruppe von Individuen. Man denke nur an den Massenmord, den
Völkermord unter Mao und Stalin: Hunderte Millionen! Im Vergleich zum
Völkermord, zum Holocaust verblaßt die Zahl von Mordtaten, die ein einzelner
verüben kann.
Deswegen ist das Grundprinzip jeden staatlichen Vorgehens auf Freiheit
ausgerichtet; die Ausnahme sind Übergriffe gegen die Freiheit. Die Regierung
muß immer eine sehr hohe Hürde überwinden, um Übergriffe auf unsere
Freiheit zu rechtfertigen - uns auszuspionieren, uns einzusperren, unsere
Redefreiheit einzuschränken: Sie muß einen sehr, sehr hohen Standard wahren.
Denn eine zu starke Regierung vergeht sich an dem eigentlichen Grund, warum
wir überhaupt Zivilisation und Freiheit haben.
Die wahrscheinlich wichtigste Idee in der Geschichte der Zivilisation, die
unserer Regierung eingebleut werden muß, ist die Rechtsstaatsgarantie,
das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren. Die erste wichtige
Erkenntnis des Menschen war: „Ich könnte unrecht haben“ - man könnte ein
Ereignis auf mehr als nur eine Weise betrachten. Nietzsche hat einmal gesagt,
es gebe keine Tatsachen, nur Interpretationen. Darin liegt eine große
Weisheit. Man kann ein Ereignis auf vielerlei Weise interpretieren! Es gibt
kein Monopol auf Weisheit. Man braucht ein faires Verfahren, bevor man
Sanktionen oder irgendeine Strafe verhängt, man muß die andere Seite anhören
und ihr die Möglichkeit der Verteidigung geben. Und ein Unparteiischer muß
entscheiden, der kein persönliches Interesse an einem bestimmten Ausgang
hat.
Die Rechtsstaatlichkeit, jene intellektuelle Bescheidenheit, „ich könnte
unrecht haben“, muß das Kernstück jeder Verfassung und jeder staatlichen
Verfügung sein. Man sieht ja, was ohne rechtsstaatliches Verfahren passiert:
Das ist die Geschichte der Ungerechtigkeit, oder? Anonyme, unwidersprochene
Beschuldigungen könnten jeden ins Gefängnis oder sogar in die Todeszelle
bringen.
Das sind die Grundprinzipien einer Regierung, die für den Erhalt der
Zivilisation entscheidend sind.
Das letzte und vielleicht wichtigste ist die Einsicht, daß Nationen als
Nationen kein unabhängiges Interesse haben, welches über das hinausginge, daß
alle seine Bürger in Freiheit leben können. Es gibt kein nationales Interesse,
die Ressourcen zu kontrollieren, sein Territorium zu erweitern oder die
Ölversorgung zu kontrollieren. Was heißt nationale Sicherheit? Wir beherrschen
doch nicht das Ostchinesische Meer, das Westchinesische Meer, den asiatischen
Raum oder den Nahen Osten. Worum geht es dabei? Eine Nation als Nation ist ein
künstliches Gebilde. Es gibt nur Menschen. Nationen bestehen aus Menschen. Man
spricht von „nationalen Zielen“, doch das eigentliche Ziel besteht darin, das
Individuum dieser Nation in Freiheit leben zu lassen, seine Fähigkeiten zu
entwickeln und ihm die moralische Verantwortlichkeit dafür zu geben, was es
mit seinem Leben anfängt. Darin liegt Erfolg. Der Prozeß selbst ist der
Erfolg.
Diese Fragen, vor denen wir stehen, sind keineswegs neu. Wir sind nicht die
erste Generation, die sich der Notwendigkeit bewußt wäre, den Elendsindex der
Welt zu senken. Das geht auf das Buch der Prediger im Alten Testament zurück,
wo es heißt: „Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach tun wird; und
geschieht nichts Neues unter der Sonne.“
Das bedeutet nicht, daß es keine neuen Technologien gibt. Das wurde nicht
im Zeitalter des Internets geschrieben, und ich bin sicher, daß etwas anderes
an die Stelle des Internets treten wird. Es gibt technologische Veränderungen.
Doch die Motivation der Menschen, die Aufgabe, ein Leben jenseits der
tierischen Existenz zu führen, hat uns von Anfang an begleitet. Wie man auch
in Frankreich sagt: „Je mehr sich die Dinge ändern, um so mehr bleiben sie
gleich.“
Reife Tugenden als kulturelle Norm
Ich habe zumindest mit Blick darauf, wie man Regierungen sieht und aufbaut,
vom Genom-Projekt gesprochen. Aber die Regierung allein ist nicht die
Erfolgsgeschichte, die wir verfolgen sollten. Wir brauchen ebenso eine
politische und soziale Kultur, welche die staatlichen Verfügungen untermauert,
wenn man so will, oder die Regierung in die Schranken weist. Aber die
vielleicht wichtigste soziale, kulturelle Norm, die du und ich - die
Gesellschaft insgesamt - achten und billigen müssen, möchte ich die „reifen
Tugenden“ nennen: Weisheit, Zurückhaltung, Bescheidenheit, Demut und der
Beherrschung um der Beherrschung willen zu widerstehen und seine Seele nicht
für ein Linsengericht zu verkaufen. Das sollte in einer sozialen Kultur
belohnt werden - nicht unbedingt durch Geld, sondern durch Ehrerbietung und
sozialen Status, indem man jenen Beifall spendet, die diese Tugenden zeigen,
und Leute wie Donald Trump oder Bloomberg ächtet, die mit ihrem Reichtum
protzen und gleichzeitig ein philosophisch ganz armseliges Leben führen.
Armselig! Das sind moralische Jammergestalten, und sie sollten auch so
behandelt werden!
Und wir brauchen eine Kultur, in der die Gier nach Sex, Geld, Macht und
leiblichem Wohl als kindisch abgelehnt wird, als etwas, woraus man schon im
Sandkastenalter herausgewachsen ist - all jene schlechten Angewohnheiten, die
wir tagtäglich in der politischen Welt sehen. Die jämmerlichsten Gestalten
üben heute Gewalt aus, was in den Augen der Welt zu dem derzeitigen
Höchststand des Elendsindex geführt hat.
Auch in unserem Privatleben müssen wir uns mit Sokrates klarmachen, daß
„ein Leben ohne Selbsterforschung gar nicht verdient, gelebt zu werden“. Ein
bloßes Sein um seiner selbst willen ist nicht gut genug. Wir müssen uns
fragen: Warum sind wir hier? Warum leben wir auf diesem Planeten? Was können
wir tun, um das Leben angenehmer zu machen - ehrenhafter, als lediglich nach
Befriedigung unserer Lüste zu streben? Wie können wir eine höhere Lebensform
erreichen?
Vor dieser Herausforderung steht die Zivilisation heute, so wie auch
gestern, und sie wird vor dieser Herausforderung auch morgen stehen. Jedes
Kind wird doch mit der gleichen DNA geboren, oder? Dabei spielt es keine
Rolle, ob man in Neuseeland oder Sibirien, in den Vereinigten Staaten oder
Somalia lebt. Alle Menschen haben den gleichen Ausgangspunkt, die gleiche DNA.
Und mit den gleichen moralischen Herausforderungen muß sich jede Generation
erneut auseinandersetzen. Alles, was wir als heute lebende Generation tun
können, ist, daß wir für die noch nicht Geborenen jene Normen von Freiheit,
Ehre und Moral erhalten, welche ihnen die gleichen Möglichkeiten wie uns
bieten, gegen das Böse anzukämpfen, das in der Menschheit weiterbesteht.
Das ist meines Erachtens unsere Verpflichtung, wenn wir nach zwei Tagen
diese Konferenz beenden. Wir kontrollieren nicht die Welt. Was wir
kontrollieren, ist uns selbst, Was wir kontrollieren ist das, was unser Leben
motiviert. Innerhalb unseres Rahmens, innerhalb unserer Fähigkeit, andere zu
motivieren, können wir ein ehrenwertes Leben führen, das Unterdrückung und die
Beschäftigung mit kindischen Zielen ausschließt, welche zum Zerfall unserer
Gattung geführt hat. Wir befinden uns schon seit langer Zeit am Rande eines
Atomkriegs; viele von Ihnen haben wahrscheinlich noch die Kubakrise erlebt,
als wir tatsächlich dachten, die Erde würde sehr bald zugrunde gehen.
Aber denken Sie daran, Sie selbst haben Ihr Schicksal und Ihr moralisches
Leben in der Hand, niemand kann jemand anderes dafür verantwortlich
machen.
Vielleicht haben wir keinen Erfolg. Die Geschichte der Menschheit zeigt,
daß Menschen mit den größten und edelsten Ideen nicht immer Erfolg hatten.
Viele von ihnen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt; viele von ihnen kamen
um, ohne für ihren Mut und ihr Heldentum belohnt worden zu sein. Wir müssen
uns damit abfinden, daß dies auch uns geschehen könnte, denn alle Zuhörer hier
wissen, daß wir nicht die Mehrheit sind. Die Mehrheit sitzt in der Wall
Street, in den Rüstungsbetrieben, sie haben riesige Reichtümer angehäuft. Sie
üben eine ungeheure politische Macht aus. Sie haben das Monopol auf staatliche
Gewalt.
Aber was sie nicht haben, was allerdings wir haben, ist eine philosophische
Seele, die ungeachtet aller Verlockungen, die uns von einer höheren Lebensform
ablenken soll, voranschreitet.
Vielen Dank
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