Klassische Musik ist die Musik der Welt
Von Elvira Green
Elvira Green war Mezzosopranistin an der Metropolitan Opera in
New York und ist seit acht Jahren Künstlerische Dozentin an der North Carolina
University, wo sie einst ihre Studien begonnen hatte. Sie ist eine Schülerin
der 2004 verstorbenen Pianistin und Gesangslehrerin Sylvia Olden Lee und
unterstützte deren Kampagne für die Gründung eines Nationalen
Musikkonservatoriums.
Darf ich alle, die hier im Publikum sitzen, einmal bitten, ihre Hände
hochzuheben, so hoch sie können, und ihrem Nachbarn „Hi“ zu sagen. Etwas
lauter bitte. - Ach, das war ja so sacht.
Ich bin sehr froh, heute nachmittag hier zu sein und etwas aus dem Erbe
eines wunderbaren Menschen mit Ihnen zu teilen.
Zwei Frauen, die auf diesem Planeten gelebt haben, haben mich zu dem
gemacht, was ich heute bin. Die eine ist meine Großmutter, Elvira Katherine
Pennington Watson, die andere ist Sylvia Olden Lee. Erlauben Sie mir, Ihnen
etwas vorzulesen. Es ist mein Tribut an Sylvia Olden Lee anläßlich ihrer
Ehrung durch den Nationalen Opernverband.
Während wir hier reden, zeichnet die Geschichte auf: Eine meisterhafte
Musikerin, eine zierliche Frau mit orchestralen Fingern, ein symphonischer
Geist und ein wahres lebendes Genie. Interpreten von Musik in allen Gestalten,
die die Ehre hatten, bei Frau Lee zu studieren, wissen, was für eine
vollkommene Künstlerin sie ist. Es wird niemals genug Worte geben, um meinen
Dank für sie auszudrücken, dafür, daß sie mir das Handwerkszeug der Opern und
der Klassik vermittelt hat, eine unerschöpfliche Anzahl von Charakteren zu
kreieren. Es gibt keinen schöneren Dank für meine Aufführungen, als wenn
gesagt wird: „Man merkt, daß Sie mit Sylvia Olden Lee gearbeitet haben!“
Frau Lee bat mich eines Morgens - sie fragte eigentlich nie, sie sagte
bloß: „Wir gehen heute hier hin, heute machen wir das und das.“ So lud sie
mich ein, mit ihr zu einem Treffen dieser wundervollen Vereinigung zu kommen,
um über das Nationale Musikkonservatorium zu sprechen. Das war damals für mich
eine wunderbare Gelegenheit, meinen Horizont zu erweitern und noch weiter zu
öffnen in Bezug darauf, worum es bei der Musik geht - was sie für eine Kultur
bedeutet, was es bedeutet, wenn Menschen etwas vor sich hinsummen, was es
bedeutet, wenn jemand sich die Zeit nimmt, sich fein anzuziehen - oder auch
nicht -, um sich eine Aufführung irgendwelcher Art anzuhören - ob kultiviert
oder weniger kultiviert -, um etwas Kultur zu lernen. Auch wir können das.
Sie gab mir zu verstehen, daß diese Welt der klassischen Musik nicht nur
einen Namen hat und auch nicht 100.000 Namen. Es ist die Musik der
Welt, geschaffen von einer Welt von Menschen. Und ich möchte jetzt vielleicht
noch drei oder vier Minuten nehmen, um über meine Welt als Fürsprecherin
junger Menschen in den Künsten zu reden.
Seit einiger Zeit - sagen wir, sicherlich mehr als eine Woche -
[Heiterkeit] bin ich viele Male um die Welt gereist, auch mit dem
Schiller-Institut, um mit Kindern aus allen Schichten und allen
Lebensbedingungen zu musizieren. Wir waren in einer kleinen Stadt und
besuchten ein Waisenhaus - vielleicht ist jemand hier, der sich daran erinnert
-, und da war ein ganz kleines Mädchen, das die Musik hörte und zu uns in den
Raum kam. Da kam sofort ihr [Pflege-]Vater und zog sie buchstäblich am Arm
wieder weg. Sie hat nicht geschrieen oder geweint. Als er sie losließ, kam sie
zurück. Er holte sie wieder. Dann ließ er sie los und sie kam wieder zurück.
Und er kam mit ihr, und sie sang nur: „Mary had a little lamb“. Sie hatte uns
etwa fünf Minuten lang Kinderlieder singen hören. Ich weiß nicht, welche
Sprache sie sprach, aber das war egal. Es war die Sprache der Musik.
Das ist es, was wir für junge Menschen tun. Ich befasse mich seit mehr als
20 Jahren mit diesem besonderen Aspekt der Musik, der klassischen Kunst, und
veranstalte einen Opern-Sommerkurs für 7-17jährige. Sie sind drei Wochen lang
da und sie lernen nicht bloß, wie man eine Oper singt, sondern auch
Schauspielern. Sie lernen, auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch,
Spanisch, Russisch zu singen - ich spreche alle diese Sprachen ein wenig. Am
ersten Tag, wenn sie kommen, wissen sie noch nicht, daß sie lernen werden,
eine Oper zu singen. Sie lernen die Geschichte kennen. Sie lernen einander
kennen. Sie sprechen darüber, wo sie herkommen, und sie spielen zusammen in
einer schönen Welt, in der die Kultur der klassischen Musik lebt.
Wenn der Tag vorüber ist, schreiben sie in ihr Tagebuch: „Ich kann es gar
nicht abwarten, morgen wiederzukommen.“
Ich denke, die Kultur der klassischen Musik lebt wirklich und gedeiht. Und
warum denke ich das? Weil ich darauf bestehe, daß es so sein soll. Und so war
es auch bei den jungen Menschen, mit denen ich in all diesen Jahren gearbeitet
habe. Einige von ihnen sind inzwischen erwachsen und wurden internationale
Opernsänger oder Kulturunternehmer in der Welt der Musik oder des Films oder
der Oratorien - alle die Möglichkeiten, ihre Kultur der Musik mit anderen zu
teilen, ihr Verständnis, was es bedeutet, wenn man sagt: Ich singe Opern, ich
singe Konzerte, ich singe Händel und Mozart und Dvorak und William Grant Still
und alle diese wunderbaren Werke.
Wir lieben Musik. Und wir lieben die klassische Musik.
(Als Abschluß ihres Vortrags sang sie dann das Spiritual „I am a Pilgrim of
Sorrow“.)
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