Die Sinnes-Ungewißheit der Wahrheit
Von Megan Beets
Megan Beets vom „Basement“-Wissenschaftsteam des
LaRouche-Aktionskomitees hielt die folgende Rede am 29. Juni 2013 in San
Francisco im Rahmen der abschließenden Diskussionsrunde bei der Konferenz des
Schiller-Instituts „Ein neues Paradigma für die Menschheit: Die Zweite
Amerikanische Revolution“.
Ja, wir arbeiten wirklich in einem Keller („Basement“).
Was ich heute tun möchte, ist ziemlich schwierig und in gewissem Sinne
sogar unmöglich; es wird also nicht ganz gelingen - vor allem, wenn man es mit
der Aufführung von Mozarts „Dissonanzenquartett“ durch das Dirichlet-Quartett
des Schiller-Instituts vergleicht, mit dem die Diskussion heute abend eröffnet
wurde. Und deshalb möchte ich zunächst ein paar Minuten damit verbringen, über
den kreativen Prozeß des menschlichen Geistes zu sprechen.
Der Grund dafür, daß ich mir diese Aufgabe gestellt habe, ist, daß das
wirklich den Kern dessen betrifft, was bei allen Vorträgen und
Diskussionsrunden der heutigen Konferenz das Thema war. Wenigstens implizit.
Und das ist die Tatsache, daß die menschliche Gattung, im Gegensatz zu den
Gattungen der Tiere, die [auf ein bestimmtes Verhalten] festgelegt sind, eine
Gattung des permanenten Fortschritts ist. Die Menschheit ist in der Lage, das
Territorium, das sie bewohnt und beherrscht, immer weiter auszudehnen, den
Umfang der Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen, ständig zu vermehren, den
Verbrauch der Ressourcen und der Macht, die sie hat, ständig zu steigern und
immer weiter ins Sonnensystem und ins Universum hinauszureichen.
Der Mensch hat dieses Potential nicht nur als eine Fähigkeit, sondern es
liegt in seiner Natur. Das ist es, was uns zu Menschen macht. Das ist es, was
wir tun sollen. Und einer der Gründe, warum wir wissen, daß es das ist,
was wir tun sollen, ist, daß es uns froh macht. Das ist es, was eine wirklich
glückliche, erfolgreiche Gesellschaft schafft. Wir haben das in bestimmten
Momenten der amerikanischen Geschichte gesehen - unter Franklin D. Roosevelt,
unter Lincoln, als wir auf dem Mond gelandet sind, unter John F. Kennedy.
Worauf ich heute kommen will, ist, wie das geschafft wurde.
Auf einer Ebene ist das einfach. Es wurde geschafft, weil die Menschen, im
Gegensatz zu den Tieren, die Fähigkeit haben, gültige, universelle Prinzipien
des Universums zu entdecken; Prinzipien, die die Entfaltung der Prozesse um
uns herum steuern - auf dem Planeten, Prozesse, die sich im Sonnensystem
vollziehen, weiter draußen in der Galaxis und hoffentlich auch darüber hinaus.
Der Mensch kann die Gegenwart dieser Prinzipien erraten. Er kann die Natur
dieser Prinzipien so genau kennen, daß er sie in Form neuer Technologien, die
er erschafft, neuer Formen der Organisation seiner Gesellschaft, neuer Formen
des Verhaltens seiner Gattung durch neue Aktivitäten in den wirtschaftlichen
Systemen realisiert. Das Universum belohnt den Menschen, wenn er das tut,
durch eine gesteigerte Fähigkeit, weitere Entdeckungen zu machen und seine
Herrschaft auszuweiten.
Aber worauf ich mich jetzt konzentrieren will, ist die Frage, wie der
Mensch dazu kommt, ein Prinzip entdecken zu können.
Der Fehler der Sinneswahrnehmung
Helga hat vorhin gesagt, daß wir heute in einer schrecklichen, wirklich
schrecklichen Kultur leben, die dominiert ist von Lust, von den Wahrnehmungen
unserer Sinne. Das Problem ist, daß die meisten Menschen in der heutigen
Gesellschaft meinen, daß man etwas dadurch weiß, weil man es spürt - weil man
es sieht, es anfaßt. Die meisten Menschen glauben also heutzutage, daß das,
was uns die Sinneswahrnehmungen geben, die Realität ist - das substantiellste,
das grundlegendste, das stabilste.
Abb. 1: Der Unterschied der Helligkeit zwischen den Quadraten „A“ und „B“
(oben) ist nur ein scheinbarer, wie man im zweiten Bild (unten) sieht
Das ist eben nicht wahr, und ich glaube, ich hoffe, daß die meisten von
Ihnen das erkennen.
Ich möchte Ihnen - gewissermaßen zum Spaß, aber auch, weil es meiner
Meinung nach den Punkt, um den es geht, unterstreicht - das folgende Bild
zeigen [Abbildung 1a (oben)].
Zwei dieser Quadrate sind mit Buchstaben bezeichnet. Das eine, als „B“
bezeichnete, sehen sie hier links neben dem Zylinder. Da andere, als „A“
bezeichnete, ist hier links oben. Sie haben also eine Art Schachbrett - dunkel
und hell gefärbte Quadrate. „A“ ist ein dunkles Quadrat und „B“ ist ein helles
Quadrat, nicht wahr? Was ist, wenn ich Ihnen sage, daß das Quadrat „A“ und das
Quadrat „B“ tatsächlich in genau dem gleichen Grauton gefärbt sind?
Das zweite Bild bitte [Abbildung 1b (unten)]. Gehen wir ein paarmal
vor und zurück. Sie können sehen, wenn ich die beiden zusammenlege, daß es
tatsächlich gar keinen Unterschied gibt. Aber es gibt offensichtlich
doch einen Unterschied.
Ich verwende das hier nicht, weil es uns das letzte Wort über den Fehler
der Sinneswahrnehmung gibt, sondern weil ich denke, daß es ausreicht, um die
Einsicht zu provozieren, daß an der Wahrnehmung durch die Sinne überhaupt
nichts selbstverständlich ist. Wahrscheinlich ist das, was Sie mit den Sinnen
wahrnehmen, das instabilste und das unzuverlässigste an Ihnen überhaupt.
Keplers ,Harmonie’
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele geben - eigentlich sind es zwei Beispiele
der gleichen Sache, um Ihnen zu erschließen, was der eigentliche Sinn des
Menschen für die Wahrheit ist und wie er Prinzipien erlebt.
Das erste Beispiel, das ich anführen will, ist Johannes Kepler. Kepler hat
1619 mit der „Weltharmonik“1 eine der bis heute wichtigsten
wissenschaftlichen Abhandlungen veröffentlicht.
Um das in den richtigen Kontext zu stellen: 1619 hatte gerade der
Dreißigjährige Krieg begonnen, der letzte Akt des 100jährigen
Religionskrieges, der Europa zerstörte und erst [1648] durch den Westfälischen
Frieden beendet wurde.
Die Weltharmonik ist seine Darstellung des Entwicklungsgangs seiner
Entdeckung der universellen Gravitation, die er zehn Jahre zuvor erstmals
publiziert hatte, 1609, in seinem Werk Die Neue Astronomie. Das
wichtige an dem, was Kepler in seiner Weltharmonik präsentiert, worauf
ich hinweisen will, ist die Art und Weise, wie er zu dieser Entdeckung kommt.
Was er in diesem Werk darstellt, ist tatsächlich etwas ganz erstaunliches.
Von der Sonne aus - die, wie Kepler zehn Jahre zuvor bewiesen hatte, eine
physische Kraft auf die Bewegung der Planeten ausübt -; wenn man von der Sonne
aus die Bewegung der Planeten im Sonnensystem betrachtet, die schnellsten und
die langsamsten Bewegungen der Planeten, die die Sonne umkreisen, dann ergibt
sich, daß diese Bewegungen im gleichen Verhältnis zueinander stehen wie die
Saiten eines Musikinstruments, die die Dur-Tonleiter und die Moll-Tonleiter
ergeben.
Mit anderen Worten, die Bewegungen der Planeten entsprechen vollkommen den
Verhältnissen des musikalischen Systems, das die Menschen entwickelt haben, um
ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen. Es gibt eine Tonleiter im Sonnensystem -
jedenfalls beinahe,2 wenn man die Verhältnisse der Bewegungen der
Planeten betrachtet. Nur sind sie nicht präzise in den mathematisch gleichen
Verhältnissen, die uns die Tonleiter in der Musik gibt, die Noten der
Tonleiter.
Nun, wie löst Kepler dieses Problem? Er löst es, indem er seine
Beobachtungstafeln nimmt, und anstatt die Daten zu verändern oder zu
versuchen, eine neue Theorie zu erfinden, nimmt er die Tabellen der
beobachteten Daten und schließt sie - er legt sie zur Seite.
Wohin wendet er sich, um die Realität zu suchen? Er wendet sich seiner
Erfindungskraft zu und stellt sich vor, er sei der Schöpfer des Sonnensystems:
Wenn er die Sonne wäre, die Ursache der zahlreichen Bewegungen, die sich rund
um ihn herum entfalten - wie würde er dann die Bewegungen dieser Gruppe von
Planeten bestimmen, so daß in jedem Moment jede Bewegung soweit wie möglich in
Harmonie zu allen übrigen Bewegungen steht und jede dieser zahlreichen
Bewegungen Ausdruck einer einzigen Idee der Sonne ist?
Er nimmt die musikalische Tonleiter und weist den verschiedenen Planeten
bestimmte Noten der Tonleiter zu. Dann fängt er an, sie so einzurichten, daß
sie diesem Kriterium entsprechen. Er läßt einen Planeten etwas schneller
umlaufen oder einen anderen etwas langsamer, so daß die größte Kohärenz
zwischen all diesen Teilen entsteht.
Und dann schafft er - aus seiner Vorstellung heraus - eine Tabelle, welche
Bewegungen die Planeten seiner Idee zufolge haben sollten. Schließlich
nimmt er dann wieder seine Tabelle der tatsächlichen Beobachtungen und stellt
fest, daß sie ganz genau übereinstimmen.
Was er in seiner Vorstellung geschaffen hatte - nach den Prinzipien der
Schönheit, der Harmonie, nach Ideen, die er aus der musikalischen Kultur der
sich entwickelnden polyphonen Musik um ihn herum übernommen hatte -, führt ihn
zu einem System, das er niemals aus irgendeiner Form der Mathematik hätte
ableiten können. Und trotzdem paßte es so genau auf die Bewegung der Planeten,
daß dies geradezu einen Aufruhr in der Oligarchie auslöste.
Wie funktioniert ein Streichquartett?
Ich möchte, daß Sie einmal darüber nachdenken, wie Kepler seine Entdeckung
gemacht hat. Es war nicht durch etwas, was er [durch seine Sinnesorgane]
wahrnahm, sondern indem er den Prozeß der Schöpfung nachfühlte.
Ich möchte, daß Sie mit dieser Idee über das nachdenken, was Sie bei der
Eröffnung dieser Diskussionsrunde erlebt haben, nämlich klassische Musik. Und
ich möchte, daß Sie, neben vielen anderen Dingen, auch darüber nachdenken, was
wir über die klassische Musik sagen könnten, den Prozeß eines Streichquartetts
oder eines anderen Ensembles.
Tatsächlich stellt sich einem Streichquartett die gleiche Herausforderung
wie einem Wissenschaftler. Wenn es daran geht, ein Stück aufzuführen, dann hat
es zunächst lediglich ein Stück Papier mit Noten darauf - Daten. Und das
Problem ist, daß Musik nicht im Klang liegt. Es gibt noch etwas anderes. Und
man kann das ganz deutlich zeigen, wenn man zwei verschiedene Aufführungen des
gleichen Stücks vergleicht. Sie hatten die gleichen Noten, die von
verschiedenen Leuten gespielt werden. Und trotzdem kann die eine ganz
langweilig sein, ein kompletter Fehlschlag. Gewöhnlich ist das diejenige, die
von Leuten gespielt wird, die technisch am präzisesten und pünktlichsten sind.
Und das andere, technisch betrachtet die gleichen Töne, ist ganz anders, sehr
lebendig und bewegend.
Ich möchte, daß Sie darüber als Musiker nachdenken, als jemand, der so
etwas aufführt - und ich hatte im Lauf der vergangenen Woche das Glück, die
Proben mitzuerleben, als sie sich für die Aufführung heute abend vorbereitet
haben: Nur wenn man die Musik so behandelt, wie Kepler das Sonnensystem
behandelt hat, mit anderen Worten, an das Musikstück als ein einziges,
kohärentes Ganzes herangeht, in dem jeder Ton, jede Melodie, jede Note
Ausdruck der Entfaltung einer einzigen kohärenten Idee ist, nur so kann man
das Stück zum Leben erwecken und tatsächlich eine bewegende, erfolgreiche
Aufführung zustandebringen.
Als ich darüber nachdachte, was ich Ihnen heute abend sagen will, erinnerte
ich mich an eine lustige Anekdote von Norbert Brainin, der ein enger Freund
von Lyndon und Helga Zepp-LaRouche war. Er war der erste Geiger des berühmten
Amadeus-Quartetts. Er wurde einmal in einem Interview gefragt: „Herr Brainin,
Sie sind der Leiter des Amadeus-Quartetts. Ich würde gerne wissen: Wenn Ihr
Quartett übt und Sie haben eine Meinungsverschiedenheit, entscheiden Sie dann,
was getan wird? Sind Sie derjenige, der die letzte Entscheidung trifft?“
Und Brainin schaute dann etwas verwirrt und sagte: „Nun, das liegt nicht
bei mir, es liegt bei der Musik. Wir lernen von der Musik. Wir mögen manchmal
verschiedener Meinung sein, aber letztendlich bin nicht ich es, der die
Entscheidung trifft. Wir müssen sie in der Musik finden.“
Und es gibt tatsächlich in einem sehr realen Sinne einen richtigen Weg, ein
Musikstück aufzuführen. Nicht wie eine Formel, die man aufschreiben könnte,
aber es gibt eine richtige, wahrheitsgetreue Aufführung für ein Musikstück.
Und man findet sie nur in der Art und Weise, wie sie sich in Keplers Prozeß
der Nachschöpfung des Sonnensystems äußert. Und nur dann, wenn wir als
Interpreten oder Musiker das kreative Erlebnis des ursprünglichen Komponisten
nachempfinden, kommen wir dem nahe.
Vereinigung von Wissenschaft und Kunst
Ich möchte noch ein paar Dinge speziell über das Streichquartett
sagen.
Erstens besteht ein Streichquartett - im Unterschied zu einem
Wissenschaftler wie beispielsweise Kepler - aus vier Personen, vier
verschiedenen Köpfen. Und das wirft meiner Meinung nach die Frage auf, worin
liegt die Vorstellungskraft eines Streichquartetts? In wessen Körper finden
wir seinen Geist? Nun, das können wir offensichtlich nicht. Wo also existiert
der kreative Prozeß eines Streichquartetts?
Bedenken Sie dann die Tatsache, daß es auch nicht nur vier Personen sind,
die hier miteinander kommunizieren, sondern es sind vier Personen, die mit dem
Geist des Komponisten kommunizieren. Und es sind vier Personen, die mit Ihnen
allen kommunizieren. Ich denke, daß die Art der Erfahrung, die man mit solchen
Aufführungen klassischer Musik macht, tatsächlich zu den grundlegendsten
Ausdrücken des Geists der Menschheit gehört, zu den grundlegendsten
Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Das durchbricht vollkommen die
Grenzen der Zeit und die Grenzen des Raums.
Womit ich enden will, ist der Gedanke, der dies wirklich verkörpert - ich
glaube, dazu müssen wir uns alle entschließen - daß diese klassische Kultur,
dieses Engagement für den kreativen Prozeß des Menschen, um mit dem zu
brechen, was uns durch die gegenwärtige Kultur aufgedrängt wird, daß der
Mensch bloß ein Tier sei, daß er auf seine Sinneswahrnehmungen beschränkt sei,
daß es so etwas wie einen ständigen Entwicklungsprozeß nicht gebe: Wir
müssen uns entschließen, diese Kultur zu verwerfen. Wir müssen uns zu
einer wirklichen Wiederbelebung und Renaissance der klassischen Kultur
entschließen und dazu, einen Sieg zu erringen, um eine Politik von jener Art
zu gewinnen, wie sie heute im Laufe des Tages diskutiert wurde, um die
Kriegsgefahr zu bannen, den Finanzkollaps zu stoppen, mit dem Bau von NAWAPA
zu beginnen - und wenn Sie ihre Phantasie spielen lassen, mit dem Bau jener
Kultur, die uns dies verspricht. Ich glaube, daß diese Politik nicht bloß mit
einer klassischen Kultur einhergehen wird, ich meine vielmehr, daß beide nicht
voneinander zu trennen sind.
Und eine solche Evolution, die durchzusetzen diese Organisation, unsere
Vereinigung und hoffentlich auch Sie alle entschlossen sind, für die
Menschheit herbeizuführen, wird notwendigerweise die Wissenschaft und die
Kunst miteinander vereinen, als höchsten Ausdruck dessen, was es heißt, ein
Mensch zu sein.
Vielen Dank.
Anmerkungen
1. Vgl. die Abhandlungen über Keplers Weltharmonik durch das
Basement-Wissenschaftsteam (in englischer Sprache) auf den Interseiten
http://science.larouchepac.com/kepler/harmony/ und
http://science.larouchepac.com/kepler/harmony-old/
2. Entsprechende graphische Darstellungen finden Sie auf der Internetseite
des LaRouche-Aktionskomitees unter
http://science.larouchepac.com/kepler/harmony-old/site.php?goto=proposition48.html
|