Die Dynamik der griechischen Krise
Der Notstand der Institutionen zerstört die gesamte Gesellschaft
Von Prof. George Tsobanoglou
George O. Tsobanoglou, Präsident des Forschungsausschusses der
Internationalen Soziologischen Gesellschaft für Sozialtechniken und -praxis,
Griechenland, ist Professor an der Soziologischen Fakultät der Universität der
Ägäis in Mytilini.
Zunächst danke ich dem Schiller-Institut für diese äußerst anregende
Konferenz, und insbesondere Dean Andromidas, der es ermöglicht hat, daß ich
hierher kommen konnte. Ich will gleich zur Sache kommen. Offenbar haben wir in
Bezug auf Griechenland eine sehr komplizierte Lage. Es kommt Verschiedenes
zusammen, was man anpacken könnte, vieles von dem, was hier gestern und heute
diskutiert und vorgestellt wurde: zur Frage der Entwicklung, zum Problem der
Infrastruktur und zur Bedeutung der Einführung eines neuen Finanzsystems, das
definitiv nicht spekulativer Natur ist wie der Kasinokapitalismus, dessen
Wirkung Griechenland jetzt zu spüren bekommt. Ich will versuchen, mich kurz zu
halten.
Eine der nachgewiesenen Tatsachen in der Welt der Sozialwissenschaften ist,
daß Entwicklung sozial sein muß, d.h., daß das soziale Kapital sehr wichtig
ist, damit es auch ökonomisches Kapital gibt. Deshalb haben die Weltbank und
die weltweiten Institutionen in den letzten 25 Jahren anerkannt, daß
wirtschaftliche Entwicklung unmöglich ist ohne die Entwicklung des sozialen
Kapitals, was auch kulturelles Kapital, Bildung und politisches Kapital mit
einschließt. Das muß man berücksichtigen, wenn man sieht, was derzeit in
Griechenland geschieht - was für eine wirtschaftliche Entwicklung wir derzeit
„genießen“.
Zweitens: Wenn wir von einem System von Staaten reden, was die Europäische
Union ja zu sein behauptet, dann muß man verstehen, daß die Stärke einer Kette
der Stärke ihres schwächsten Gliedes entspricht. Griechenland ist Teil der
Kette, und genau in dem, was derzeit in Griechenland geschieht, wird die
Stärke der Europäischen Union geprüft. So zeigt die Unsicherheit der Lage
nicht bloß die Fragilität, sondern möglicherweise auch das Ende einer Politik,
die bisher versagt hat.
Drittens muß man in Bezug auf Griechenland berücksichtigen, daß eine
besondere Lage besteht, nämlich in Hinsicht auf die sogenannte „verborgene
Gesellschaft“. Die meisten oder jedenfalls viele Mittelmeerstaaten hatten, als
sie in die EU eintraten, vorher eine Militärherrschaft erlebt, insbesondere
Portugal, Spanien und Griechenland. Es waren außergewöhnliche Staaten - und
das gilt natürlich in gewisser Weise auch für Süditalien -, außergewöhnlich in
dem Sinne, daß es viele informelle Strukturen gibt, die parallel zum Staat
existieren.
Daher gab es bei dem, was wir erlebten, eine sehr schwache Analyse und
Repräsentation der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Das ist nicht
Schweden, es ist etwas ganz anderes. Deshalb war der Beitritt zur Europäischen
Union anstelle der üblichen rechtlichen Untersuchungen mit verschiedenen
Integrationsmechanismen, sozialen Studien und sozialen Analysen verbunden,
weil man das als Teil des Charakters des Staates betrachtete. So begannen die
Institutionen und Analysen der bürgerlichen Gesellschaft langsam zu wachsen.
Katalonien ist ein Beispiel dafür, auch der Süden Italiens.
In Griechenland geschah dies nicht. Die Opposition gegen das Militärregime
wollte Sozialwissenschaften haben, um die Institutionen einer sozialen
Gesellschaft zu dokumentieren und zu organisieren, z.B. ein Sozialsystem,
Sozialhilfe und soziale Organisation. Dazu kam es aber in Griechenland
eigentlich nicht.
Es entwickelten sich viele religiöse Institutionen, wie die
Sozialtheologie, aber die Sozialwissenschaften - wie beispielsweise die
Soziologie, die Sozialgeographie, Psychologie, Demographie und die
Sozialstatistik - sind nur sehr schwach entwickelt und werden von den großen
Universitäten des Landes, etwa in Thessaloniki oder Athen, nicht betrieben.
Athen ist die einzige Hauptuniversität in Europa ohne soziologische Fakultät
und ohne geographische Fakultät. Die Psychologie ist Teil der Pädagogik, und
das umfaßt vieles, was man für die Sozialverwaltung, die sozialen Aspekte des
Staates braucht, im Unterschied zur Polizei oder ähnlichem. Gleichzeitig
existieren etwa die Kriminologie oder die Rechtssoziologie praktisch gar
nicht. Das sind aber wesentliche Elemente für eine soziale
Regierungspolitik.
Praktisch wurde dieses Fehlen etwas ausgeglichen, aber es wurde niemals
darüber diskutiert, und es gab bei uns viele andere Berufe, die sich mit dem
sozialen Europa befaßten. Aber die griechischen Kommunalverwaltungen sind
wahrscheinlich die einzigen, die keinen Etat für Sozialausgaben haben. Wenn
ein Bürgermeister Geld ausgeben will, um den Armen eine Mahlzeit zu geben,
hindern ihn Vorschriften der griechischen Verwaltung. Er muß das entweder der
Kirche überlassen oder er muß das Geld aus dem Etat für den Straßenbau nehmen.
Die sozialen Bedürfnisse werden also auf etwas Physisches reduziert.
Diese verkehrten Verhältnisse haben natürlich eine Anomalie geschaffen,
denn wenn alles Soziale unter einem physischen Apparat zusammengefaßt wird,
dann gibt es praktisch keine Belege für ein existierendes Sozialsystem.
Deshalb ist Armut in Griechenland ein bloßes literarisches Konzept. Natürlich
kann jeder eine arme Person beschreiben, aber es gibt keine institutionelle
Grundlage dafür. In der Europäischen Union gibt es wohl andere Einrichtungen,
wie z.B. ein Grundeinkommen, aber in Griechenland ist das eine Fiktion. Wenn
man hier 30% Armut und eine Jugendarmut von 35% hat, dann ist die Vorstellung
sehr schwer durchzusetzen, daß man beispielsweise billigere Preise für Milch
braucht und Milch in den Schulen austeilen muß, weil das eine Grundversorgung
ist. Die Armut zeigt sich durch die Unterstützung der Bildung über das
Schulsystem, und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln ist wesentlich, um
tatsächlich zu verstehen, was Armut ist, und sie ist Teil eines
Sozialsystems!
Aber in Griechenland konnte das überhaupt nicht sichtbar werden. Wir haben
also die Eurostat-Statistik, daß ein Drittel der Bevölkerung arm ist, aber
eigentlich befaßt sich nur die Kirche mit der Armut, durch private Hilfe,
durch private und freiwillige Nahrungsmittelspenden beispielsweise der
Supermärkte, was privat verwaltet wird. So gibt es beispielsweise eine
Fernsehstation namens Sky, die einem Schiffseigner gehört, der so ähnlich
handelt wie eine philanthropische Einrichtung aus dem 19. Jahrhundert. Aber
genau so arbeitet das soziale Europa in Griechenland.
Soziale Einrichtungen müssen schließen
Was haben wir jetzt, und warum geschieht es?
Die Schulden in Griechenland lagen bei 120% des BIP, als die Krise begann.
Derzeit liegen sie bei 190%. Gleichzeitig wurden 25% des Reichtums des Landes
ausgelöscht, und wir haben eine erzwungene Verringerung der Überschüsse, die
dann das Land verlassen. Im Grunde wird bei den Rettungspaketen Griechenland
nur wie ein leeres Gefäß benutzt, das die Schulden bezahlen und eine Menge an
Profiten an äußere Quellen abführen wird.
Ich sollte wohl ein bißchen näher darauf eingehen, was ich hier als
„Überschüsse“ bezeichne. In der feudalen Ära trieben die Landbesitzer die
Pacht von ihren Bauern natürlich mit Gewalt ein. Hier haben wir einen
besonderen Unterschied. Was ist der Überschuß?
In Griechenland denkt man nicht an die Kosten der sozialen Reproduktion,
beispielsweise was die Gesundheit oder die Grundhilfe für ältere Menschen
angeht, etwa durch Renten, oder für alle diejenigen, die nicht versichert sind
- 30% der griechischen Bevölkerung sind nicht versichert. Dinge wie
Krankenversicherung oder die Versicherung für arme Kinder. Kinder müssen
geimpft werden. Im letzten Jahr hatten offenbar 5000 Kinder in Athen kein
Geld, damit man sie impfen konnte, was lächerlich ist.
Das, was man die biologischen und sozialen Grundbedürfnisse nennen kann,
ist also komplett privatisiert! Und all das wird nun im Namen der Sparpolitik
gestrichen!
Im Frühjahr wurde im Rahmen des Schuldenschnitts mit der Beteiligung des
Privatsektors öffentlichen Einrichtungen Geld weggenommen - so meiner
Universität, die gar keine private Einrichtung ist. Sie haben 80% unseres
Forschungsbudgets genommen, um die Schuldenlast der Banken zu erleichtern! Sie
nahmen Geld von Sozialeinrichtungen, Geld, das sie angelegt hatten, viele
private Sozialeinrichtungen, die sich um behinderte Kinder kümmern,
beispielsweise in Piräus und viele andere in anderen Teilen Griechenlands. Sie
mußten Steuern auf ihren Besitz zahlen, obwohl sie ihre Dienstleistungen durch
Mieteinnahmen finanzieren, und werden jetzt von der Regierung besteuert. Ich
kenne jemand, der bei einer solchen Einrichtung arbeitet, und von ihm weiß
ich, daß sie 600.000 Euro bezahlen mußten, so als wären sie ein normales
Wirtschaftsunternehmen! Die Tatsache, daß es sich um eine gemeinnützige
Einrichtung für arme, behinderte Kinder handelte, spielte gar keine Rolle!
Das gleiche geschah mit behinderten Kindern im ganzen Land. Man nahm ihnen
die Mittel, das Geld, das ihnen zur Verfügung steht, um Nahrungsmittel zu
beschaffen oder Unterricht durchzuführen! Eine Initiative in Athen, die seit
70 Jahren bestand, mußte letzten Monat ihre Arbeit einstellen; sie können die
Bedürfnisse der Menschen nicht mehr erfüllen, weil sie Steuern bezahlen
müssen!
Man macht also keinen Unterschied bei sozialen Einrichtungen. Auch wenn es
sich um private Einrichtungen handelt, die sich um die Bedürfnisse von
Menschen in Not kümmern, werden sie behandelt, als arbeiteten sie für den
Profit. Es ist also eine große Heuchelei, wenn die Europäische Union eine
große „Mitteilung“ verfaßt, die am 18. April vorgelegt wurde, die Mitteilung
183, in der sie erklärt, was sie alles für Griechenland tut! Und in einem
Abschnitt dieser Erklärung heißt es: „Griechenland könnte sein derzeit
ungenutztes Potential der Sozialwirtschaft, den freiwilligen Sektor, durch
Unterstützung aus dem europäischen Sozialfonds nutzen, der eine wichtige
Unterstützung darstellt, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und der wachsenden
Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen nachzukommen.“ Das ist lächerlich!
Das hat absolut keine Wirkung auf den Sozialsektor. In Griechenland ist der
Sozialsektor eine Anekdote! Die sozialen Einrichtungen können nicht
arbeiten!
Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn man in einer solchen Krise dem
freiwilligen, gemeinnützigen Sektor nicht erlaubt, seine Ressourcen
einzusetzen, weil man ihn besteuert, als handele es sich um private, auf den
Profit ausgerichtete Unternehmen! Genossenschaftliche Hotels werden besteuert
wie private, auf Profit ausgerichtete Hotels, und das in Gebieten, die extrem
arm und unterentwickelt sind! Die Sozialwirtschaft wird also zur privaten
Wirtschaft, deren Besitz privatisiert und besteuert wird. Es ist eine
Katastrophe.
Eine Explosion ist möglich
Und diese Katastrophe hat einen globalen Charakter, denn ich denke, wenn
jeder auf der Welt verstünde, was hier vor sich geht - das hat nichts damit zu
tun, daß wir in Europa sind - wenn irgendwo auf der Welt so etwas geschieht,
dann sollten die Menschen dagegen protestieren. Vielleicht kann man die Zeit
unter Carlos Menem in Argentinien mit dem vergleichen, was derzeit in
Griechenland im Namen der „europäischen Sparsamkeit“ geschieht.
Die soziale Antwort auf die Krise wird praktisch blockiert. Deshalb äußert
sich die Krise in Griechenland ganz anders als vor Jahren in Zypern, als dort
die türkische Armee einmarschierte. Damals entwickelten sich in Zypern soziale
Hilfsinstitutionen. Die Reaktion vieler europäischer Länder auf diesen Angriff
ist anders.
In Griechenland fehlen uns die Mittel, uns zu verteidigen. Warum? Weil wir
auch ein äußerst korruptes politisches System haben. Es gibt viele Skandale.
Niemand zahlt Steuern, tatsächlich wird die Steuerhinterziehung sogar von der
Verwaltung organisiert. Wir haben bei unseren Steuern kein
Mitspracherecht!
Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Als letzte Woche die Zahlen über die Armut
veröffentlicht wurden, war die einzige Organisation, die auf diese Zahlen
reagierte, eine private Einrichtung aus Österreich, die SOS-Kinderdörfer. Und
noch eine von Niarchos gegründete private gemeinnützige Stiftung, das ist eine
der großen sozialen Stiftungen in Griechenland, aber auch eine der großen
Reeder-Familien. Die Reaktion war, daß sie planen, was sie gegen die Armut
tun. Aber ich weiß, daß viele Griechen besondere Gelder als Sozialhilfe
erhalten. Unsere Steuern wurden verdoppelt, man besteuert uns, um alle diese
sozialen Krisen zu bekämpfen, aber das Geld fließt nicht dorthin, wo es
hingehen soll! Wir werden vollkommen überrumpelt, weil das System nicht
glaubwürdig ist. Sie haben überhaupt keine Glaubwürdigkeit. Dieses Geld wird
gestohlen - wir wissen, wo es hingeht, es fließt mit Sicherheit aus dem Land,
es ist ein Faß ohne Boden. Aber wir sind nicht digital, wir haben physische
Grenzen, es gibt Grenzen dafür, wie lange man das fortsetzen kann!
Und ich sehe kommen, daß Griechenland explodieren könnte wie Argentinien
2001, wenn das so weitergeht, denn wir haben ein korruptes politisches System,
wir werden durch Steuern völlig ausgeblutet, von denen, die es bezahlen
könnten, und gleichzeitig kommen jeden Tag tausend neue Arbeitslose hinzu.
Technisch betrachtet liegt die Arbeitslosigkeit bei 25%, aber da sind
diejenigen nicht eingerechnet, die arbeiten, aber nicht bezahlt werden. Es
gibt nämlich eine halbe Million Menschen, die arbeiten, aber nicht bezahlt
werden, weil der Staat den Unternehmen Geld schuldet: 10 Milliarden schuldet
der Staat griechischen Unternehmen, aber er wartet auf die Rettungspakete, um
sie zu bezahlen. Aber das Rettungspaket wird nicht reichen, es ist nur ein
halbes Prozent von dem, was der Staat bräuchte, um es in die reale Wirtschaft
zu pumpen. Denn die Rettungsgelder gehen ja eigentlich nicht an
Griechenland.
Gleichzeitig treiben die hohe Arbeitslosigkeit und die hohe Inflation die
Menschen in die Verzweiflung. 150.000 Menschen haben das Land verlassen. 5000
griechische Ärzte sind in Deutschland, 25.000-50.000 Griechen suchen einen Job
in Berlin. Überall stößt man auf Griechen, die versuchen, eine Arbeit zu
finden, weil auch sie gezwungen waren, ihre Geschäfte zu schließen. In diesem
Jahr haben 30% aller Unternehmen geschlossen!
Technisch betrachtet, ist das Unternehmensklima das gleiche wie im Irak
oder wie in Afghanistan. Ich meine, die Geschäftswelt glaubt nicht, daß man in
Griechenland Geschäfte machen kann, und deshalb gibt es für sie keinen Grund,
dort irgend etwas zu investieren. Selbst das Geld, das wir angeblich borgen
sollen, wird nicht dazu verwendet, Infrastruktur aufzubauen. In die Bildung?
Nein! Meine Universität ist geschlossen. Warum? Weil sie 40 Leute entlassen
haben, die verschwinden sollen. Die lokale Bevölkerung ist im Streik, weil
einfach herumgekürzt wird ohne irgendwelche Pläne, wie man Einrichtungen für
den kollektiven Verbrauch schaffen kann, Einrichtungen, über die der Staat
oder die Kommunen weiter arbeiten können - nicht bloß die sozialen Dienste,
sondern überhaupt um Einrichtungen im Interesse der Allgemeinheit zu
erhalten.
Sonderinteressen und Bankenelite
Im Grunde haben wir in Griechenland in den kommunalen Verwaltungen niemals
wirklich ein System für das Gemeinwohl geschaffen. Wir hatten immer nur ein
System von Sonderinteressen, und darin liegt das Problem. Diese
Sonderinteressen haben ein Bündnis mit der herrschenden Bankenelite
geschlossen, und jetzt schüren sie ein Feuer, statt es zu löschen, und das
breitet sich aus. Griechenland ist also derzeit völlig lahmgelegt. Unabhängig
davon, was am Montag geschehen wird [es stand die Entscheidung der Eurogruppe
an, ob Griechenland weiteres Geld erhält], ist Griechenland in einem Notstand.
Und ich glaube natürlich alles, was hier über die Reform der Banken gesagt
wurde. Glass-Steagall muß mit Griechenland beginnen, und ich denke, das muß
ganz klar gesagt werden, denn wir leiden Not, wir sind der Inbegriff dessen,
was beschrieben wurde, aber bei uns haben wir es in viel reinerer Form. Und
diese Reinform bringt in gewissem Sinn das System um. Die Tatsache, daß wir
keine Empfehlungen haben, weil die Berichte lax sind, ist auch ein Teil des
Problems.
Ich könnte Ihnen eine Menge Tabellen über die Arbeitslosenzahlen zeigen,
und was da abläuft. Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht. Wir haben keinen
Arbeitsmarkt. Wir hatten ein System des Nepotismus. Es gibt in Griechenland
viele qualifizierte Leute, aber sie finden keine angemessene Arbeit. Die
Vetternwirtschaft und das Fehlen einer Herrschaft von Begabten und
Leistungsfähigen war Teil des Problems. Der frühere Premierminister Papandreou
versprach, etwas zu tun, um mehr Verantwortlichkeit zu schaffen, aber das ist
nie geschehen.
Wir haben also in Griechenland ein klassisches, traditionelles System, in
dem Sonderinteressen über die Karrieren entscheiden. Deshalb ist das System in
seiner Anwendung in Griechenland noch reiner, weil es keinen Widerstand gibt.
Die qualifizierten Arbeitkräfte sind gegangen. Hätten wir nicht die Öffnung
des Arbeitsmarktes in Europa gehabt, dann wäre Griechenland jetzt wie Ägypten
oder Tunesien, daran besteht kein Zweifel, denn der Druck im Land wäre gleich.
Aber die qualifizierten Arbeitskräfte, die die Veränderung bewirken könnten,
gehen anderswohin, und dadurch wird Druck abgelassen, deshalb hatten wir nicht
die Explosionen und Regimewechsel, wie sie andere Länder des Mittelmeerraums
erlebt haben. Aber es gibt eine Grenze, wie lange das so weitergehen kann.
Denn das Humankapital wird verbraucht.
Möglichkeiten für Griechenland
Mir scheint, daß Griechenland, weil es ein strategisches Land ist, viele
Möglichkeiten hat. Es ist Europas Tor nach Asien. Die Wirtschaft ist jetzt
keine transatlantische mehr, es ist eine eurasische Wirtschaft. Deshalb wurde
meiner Einschätzung nach zwischen den Chinesen und den Deutschen, die die
Europäische Union anführen, eine Absprache getroffen, wie man die Ressourcen
verteilen und einige Verkehrsnetze aufbauen will. Und die Griechen hält man
dabei vielleicht nicht für sehr nützlich.
Sie benutzen das Land, und sie haben ein phantastisches Geschäft gemacht.
Die Landwirtschaftsbank wurde für 95 Mio. Euro an eine private Bank verkauft.
Die Idee war vor der Krise gewesen, eine öffentliche Bank zu gründen, die die
Landwirtschaftsbank und die Postbank umfassen sollte, aber tatsächlich hat die
Bankenlobby gewonnen! So wurde einer Privatbank, der Bank von Piräus, die noch
vor sechs Monaten selbst nicht existenzfähig war, die Landwirtschaftsbank für
einen Bruchteil ihres Wertes verkauft, ähnlich der größte Teil des privaten
Landes, das ging aufgrund der Schuldenkrise an eine private Bank.
Griechenland hat, wie Sie vielleicht wissen, eine Menge Mineralien, es ist
ein strategisches Land, es hat beispielsweise eine Menge Gold; es könnte der
größte Goldproduzent Europas sein, dank kanadischer Investitionen. Es ist auch
eine strategische Verbindung in Südeuropa und verbindet Asien mit Europa, mit
Wien und dem Korridor nach Kiew und Moskau.
Und es hat noch etwas anderes, und damit will ich schließen: In der Mitte
Griechenlands gibt es eine Region, die man Thessalien nennt. Das ist
tatsächlich der erste Ort in Europa, wo jemals Brot gebacken wurde, vor
Tausenden von Jahren, nahe Meteora, einem der Mönchsklöster auf den
Felsenspitzen.
Thessalien war einmal der Grüngürtel Griechenlands und erzeugte Weizen,
Tierfutter, Mais. In der Zeit der Europäischen Union wurde es in einen
Baumwollgürtel verwandelt. Griechenland produziert wahrscheinlich mehr
Baumwolle als Ägypten. Und ich vermute, der Plan war: „Wir müssen dann keine
Baumwolle aus anderen Ländern wie Ägypten oder Syrien importieren.“ So wurde
Griechenland zum größten Baumwollproduzenten Europas. Aber diese Megastruktur
verursachte eine ökologische Katastrophe: Das Grundwasser ist so stark
abgesunken, daß man jetzt bis zu 600 m in die Tiefe bohren muß, um Wasser zu
finden. Dieser Teil Griechenlands ist jetzt wie die Niederlande, denn er liegt
jetzt aufgrund dieses Problems der Absenkung 20 cm unter dem
Meeresspiegel.
Gleichzeitig wollte man Ressourcen aus einem Fluß ableiten, dem Achelous,
aus dem auch Athen mit Wasser versorgt wird. Es wurde viel Geld ausgegeben, um
den Fluß umzulenken, um Wasser für die Baumwollproduktion nach Thessalien zu
leiten, weil Baumwolle vier oder fünfmal mehr Wasser als andere Erzeugnisse
braucht. Gleichzeitig importiert Griechenland Weizen, es importiert
Viehfutter. Und zur gleichen Zeit wurden auch noch alle Fabriken geschlossen,
die wir zur Verarbeitung von Baumwolle und Textilien hatten.
In dem Moment also, wo wir anfingen, Rohstoffe zu produzieren, haben wir
aufgehört, sie zu verwenden. In Griechenland importieren wir die Kleidung aus
anderen Ländern, wir haben keine Produktion. 90% unserer Kleidung werden
inzwischen importiert. Wir sind also ein Land wie Indien im 19. Jahrhundert im
Verhältnis zu England: Wir exportieren an globale Akteure Baumwolle, die dann
verarbeitet und wieder nach Griechenland importiert wird. Gleichzeitig haben
wir noch ein Umweltproblem.
Wir importieren eine Menge Nahrungsmittel, wie z.B. Weizen, wir importieren
beispielsweise für 2,5 Mrd. Euro Fleisch aus Frankreich, weil wir auf diese
Weise die Viehhaltung im eigenen Land ruiniert haben. Und gleichzeitig
importiert unsere Tourismusbranche 80% der Nahrungsmittel, sie kommen aus
anderen Ländern, weil wir ein Land geworden sind, das Rohstoffe liefert - nach
Deutschland, nach Italien, in andere Länder. Sie verarbeiten unsere
Nahrungsmittel und wir importieren sie. Wir werden also praktisch in ein Land
der Dritten Welt verwandelt, weil wir Rohstoffe exportieren und Fertigwaren
importieren.
Und das ist die Lage unserer Agrarindustrie. Die griechischen
Genossenschaften haben 100 Mrd. Euro bekommen, aber die meisten von ihnen sind
sehr korrupt. Sie beschäftigten politische Kader und benutzten ausländische
Arbeitskräfte für die Obsternte, und die Europäische Union bezahlte sie dafür,
die Ernten zu vernichten, um die Bauern bei Laune zu halten oder weil die
gleichen Lebensmittel im verarbeiteter Form aus anderen Ländern eingeführt
wurden.
Es war also eine verrückte Situation, in der sich alle Subventionen negativ
auswirkten. Wir haben ein fruchtbares Land, aber wir produzieren
Nahrungsmittel, die wir nicht brauchen, und wir wurden zu einem Land der
Dritten Welt! Und jetzt hat Griechenland als Resultat dieses Kollapses eine
Nahrungsmittelkrise, denn im kommenden Jahr werden die Subventionen
eingestellt! Es gibt eine Nahrungsmittelkrise, weil die Rohstoffe nicht mehr
verarbeitet werden, die lokale Industrie wird durch Importe beliefert, und
nirgends ist ein klares Ziel.
Und die Bereiche, die erfolgreich arbeiten, werden von der Regierung
praktisch verschenkt! So wurde beispielsweise einer der größten Milchkonzerne
Griechenlands, Dodoni, vom Wirtschaftsminister als „nicht überlebensfähig“
eingestuft, obwohl die Firma Gewinn machte, weil sie Feta-Käse in die ganze
Welt exportiert, einen der echten Flaggenträger unter den griechischen
Nahrungsmitteln. Das wurde an ein Unternehmen verkauft, das seinen Sitz auf
den britischen Jungfern-Inseln hat! [Heiterkeit.] Was nichts damit zu tun
hat.
Und die Leute in den Genossenschaften hatten das Geld zusammengebracht und
sagten: „Schaut her, wir wollen einen Anteil kaufen, weil die
Landwirtschaftsbank privatisiert wurde und jetzt alle erfolgreichen
Genossenschaften verkauft werden müssen.“ Die Arbeiter wollten versuchen, die
Genossenschaften selbst zu kaufen. Aber in vielen Fällen, in denen die
Arbeiter eine Genossenschaft kaufen wollten, um sie dann selbst zu verwalten
oder um alle verfügbaren Mittel einer europäischen Institution zu nutzen,
wurde das blockiert! Jetzt haben 7000 Landwirte im Norden Griechenlands, die
ärmsten in der Europäischen Union, die Fabrik besetzt, und sie wollen wissen,
wer die Fabrik gekauft hat und warum er sie genau in dem Moment kaufte, als
sie das Geld hatten, sie selbst zu kaufen.
Wir haben also etwas, was man durchaus als eine „wirtschaftliche Diktatur“
bezeichnen kann. Aber selbst wenn die Medien anscheinend so frei und flexibel
sind, ist es doch erstaunlich, daß sie diese blinden Flecken haben, wenn es um
Griechenland geht. Denn was in Griechenland abläuft, ist genau das, was Sie
hier in den letzten beiden Tagen beschrieben haben, und es ist in vivo.
Es vollzieht sich dort in reinster Form! Ich denke, deshalb sollte sich das
Schiller-Institut noch stärker auf Griechenland konzentrieren, aber nicht als
etwas, was nur Griechenland betrifft. Es ist genau das, wovor Sie die Menschen
warnen, und genau das passiert, und es kann sich ausbreiten.
Ich möchte meinen Vortrag beenden, indem ich an Sie alle appelliere, daß
wir in Bezug auf diese Lage noch deutlicher zusammenarbeiten sollten. Das ist
keine Philanthropie gegenüber Griechenland. Ich glaube, daß alle Vorträge hier
ehrlich und nicht bloß ein Theater waren. Sie glauben wirklich an das, was Sie
hier gesagt haben. Auch wenn einige sich nicht darüber im klaren sind, daß
diese Dinge jetzt geschehen. Es ist nicht etwas aus der Vergangenheit, es
geschieht jetzt im Moment. Es ist nicht in der Zukunft, es geschieht jetzt,
und diese Notlage ist ein völliges Versagen Europas: Es geschieht jetzt in
diesem Augenblick in dem Land, das Europa seinen Namen gab.
Vielen Dank!
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