Hat der Euro eine Überlebenschance?
Von Prof. Wilhelm Hankel
Professor Wilhelm Hankel, früherer Chefökonom der
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), sprach bei der Konferenz des
Schiller-Instituts über die Zukunft des europäischen Währungssystems. Die Rede
wurde auf Englisch gehalten und von der Redaktion übersetzt.
Sehr verehrte Damen und Herren, die Lage in Europa kann man wohl am besten
mit dem Wort eines sehr alten englischen Dichters beschreiben: „Ist es gleich
Wahnsinn, so hat es doch Methode“ - Hamlet, 2. Akt.
Warum steckt Europa und vor allem die Eurozone in solch einem Schlamassel?
Zunächst einmal - wir haben es in den bisherigen Reden gehört -, sind fast
alle Staaten des südlichen Teils der Eurozone bankrott, vollkommen bankrott.
Das gleiche gilt für ihre Banken. Aber offiziell wollen die Regierungen und
Manager ihren Bankrott nicht eingestehen, sie sagen: „Wir sind nicht bankrott,
das ist der Zustand der Währung.“ Aber das ist einer der größten
Etikettenschwindel, den ich in meinem sehr langen Leben gesehen habe. Der Euro
ist nicht in Gefahr, der Euro ist nicht bankrott - nur das Geld, das in den
Euro investiert wurde, nur die falsch angelegten Gelder und Vermögenswerte,
die in dieser Währung ausgewiesen sind. Und wenn man sich die realen Fakten
und Zahlen betrachtet, dann sieht man schier unglaubliche Größenordnungen: Die
Gesamtsumme der dokumentierten Schulden des südlichen Teils der Eurozone wird
auf 12 bis 13 Billionen Euro geschätzt. Das ist das Vierfache des deutschen
BIP. Das Vierfache! Und die Frage ist: Wie soll man das abtragen, wie soll man
das zurückzahlen?
Ich denke, es läßt sich nicht abtragen und zurückzahlen, schon aus einem
sehr einfachen Grund: Um diese Schulden zurückzubezahlen, braucht man als
Land, als makroökonomische Einheit, Exportüberschüsse: Exportüberschüsse in
der Größenordnung von 12 bis 13 Billionen Euro - für eine Gruppe von Ländern,
die noch nie Exportüberschüsse hatten und mit Importüberschüssen in
fast der gleichen Größenordnung leben. Das kann also nicht in realen Werten
zurückgezahlt werden, weil man diese Gruppe von Ländern nicht einfach von
Importwirtschaften zu Exportwirtschaften umstrukturieren und sanieren
kann.
Eine ähnliche Lage gab es in den dreißiger Jahren, vor 80 Jahren, mit
Deutschland und dem Goldstandard. Erst nach dem Schwarzen Freitag, in den
dreißiger Jahren, kam die Frage auf: Kann ein - wegen der Kriegsreparationen -
überschuldetes Land wie das damalige Deutschland seine Volkswirtschaft
insgesamt in eine Überschußwirtschaft umstrukturieren? Es gab damals eine
berühmte Debatte zwischen John Maynard Keynes und dem schwedischen Ökonomen
Ohlin - die Transferdebatte -, und das Resultat war: Eine Volkswirtschaft hat
nur dann eine Chance, eine Gläubigernation zu werden und ihre Schulden
zurückzuzahlen, wenn man in der Lage ist, die Volkswirtschaft
umzustrukturieren. Das konnte man damals für Deutschland ausschließen, und das
kann man heute genauso für den südlichen Teil der Eurozone ausschließen.
Der einzige Weg, dieses Problem zu bewältigen, liegt also im Finanzsektor,
und dieser einzige Weg besteht darin, die Schulden zu streichen. Aber dieser
Weg ist offiziell blockiert durch die unheilige Allianz der Regierungen und
Banken, die behaupten: „Es sind nicht unsere Schulden, es liegt an der
Währung“ - was ein völliger Etikettenschwindel ist.
Enormes Inflationspotential
Die Frage ist jetzt, was die Konsequenz davon sein wird, daß es unmöglich
ist, diese Schulden zurückzuzahlen und der einzige rationale Weg, nämlich sie
zu streichen, blockiert ist. Das bringt mich zur Politik der Euro-Rettung.
Diese Politik, den Euro zu retten, ist der zweite Akt in der Tragödie des
Herrn Hamlet. Sie bedeutet nämlich einerseits für die nicht überschuldeten
Länder im Norden des Währungsraumes, daß sie eine Menge Geld brauchen, um die
Schulden zu übernehmen. Und dieses Geld kommt im Moment wie in den letzten
zwei bis drei Jahren von der Europäischen Zentralbank. Was wir in den letzten
dreieinhalb Jahren gesehen haben, ist ein Überangebot neuen, elektronischen
Geldes, geschaffen vom System der Europäischen Zentralbank, auf verschiedenen
Wegen, die technisch sehr kompliziert sind, die sich aber folgendermaßen
zusammenfassen lassen:
- Fast eine Billion Euro mehr über das offene Refinanzierungsfenster für
das europäische Bankensystem, bei einer Zinsrate zwischen 0% und 0,75%;
- Beinahe eine weitere Billion über das sogenannte „Target“-System.
„Target“ ist ein kompliziertes Wort als Abkürzung für etwas sehr einfaches:
Die europäischen Zentralbanken haben untereinander jeweils offene Konten. Jede
europäische Zentralbank kann von jeder anderen Geld bekommen. Die
Zentralbanken Griechenlands, Spaniens und anderer Schuldnerstaaten haben über
die EZB Geld bekommen, mehr oder weniger nur von den drei oder vier Ländern,
die Überschüsse haben, nämlich Deutschland, den Niederlanden, Finnland und
Österreich. Das ist die zweite Billion neu geschaffenen, elektronischen
Geldes;
- Die nächsten zwei Billionen sind mehr oder weniger Kredite der EZB in
den kommerziellen Sektor. Die Bilanz der EZB wurde in den letzten beiden
Jahren um mehr als zwei Billionen ausgeweitet;
- Und der letzte Akt in diesem Programm der Geldschöpfung ist jetzt die
Ankündigung von Herrn Draghi, daß er in unbegrenztem Ausmaß Anleihen
überschuldeter Länder des Südens ankaufen wird.
Einige meiner Kollegen und ich haben eine Beschwerde gegen diesen neuen
Bruch des EU-Vertrages und der EZB-Statuten eingereicht, die Klage läuft seit
dem 15. November. Und mein Beitrag zu dieser Beschwerde war sehr einfach,
nämlich das Argument: Wenn diese neue Politik der EZB das ist, was sie
vorschriftgemäß sein soll, nämlich Geldpolitik, Währungspolitik, aber keine
Finanzierung der Staatshaushalte, dann muß der monetäre Gegenwert der
Einnahmen aus sämtlichen Käufen der EZB „sterilisiert“ werden, damit die
Verkäufer der Anleihen - Staaten und auch Banken - nicht an das Geld kommen.
Es muß in den Konten der EZB eingefroren werden.
Ich bin sehr gespannt, was unsere Richter zu dieser Idee sagen werden, aber
ich bin mir sicher, sie werden das sagen, was sie seit 12 Jahren bei allen
Beschwerden gesagt haben, die wir in diesem Fall geführt haben, nämlich:
„Deutsche Richter sind keine Ökonomen. Sie sind nicht befugt, die
wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der Gesetzgebung zu prüfen“ -
was, wie Sie sich vorstellen können, eine unmögliche Position ist. Schließlich
ist ein Verfassungsrichter kein Anwalt oder Notar; er muß neue Paragraphen und
neue Gesetze nicht nur in formaler Hinsicht, sondern in sachlicher Hinsicht
prüfen: Was sind die Auswirkungen in politischer und wirtschaftlicher
Hinsicht? Welche Schäden hat ein solcher neuerlicher Bruch der Verfassung und
der europäischen Verträge zur Folge? Aber in der Hinsicht haben wir es in
Deutschland - mehr oder weniger hoffnungslos - mit einer bloß formalen, keiner
echten Gesetzgebung und Rechtssprechung zu tun.
Es stellt sich jetzt dieses Problem: Allen vorliegenden Fakten und Zahlen
zufolge - einer gewaltigen Geldschöpfung auf der einen Seite, gegenüber mehr
oder weniger Nullwachstum der Realwirtschaft auf der anderen - besteht ein
sehr, sehr großer Überhang an Geld im Verhältnis zum real geschaffenen
Mehrwert. Das bedeutet Inflation - mindestens das Potential für eine Inflation
in unbegrenztem Ausmaß.
Aber auf der anderen Seite, und das ist Teil des Wahnsinns dieser ganzen
Politik, werden die Schuldner, die keinen Schuldenschnitt bekommen und keine
Chance haben, ihre Schulden zurückzubezahlen, zum Sparen verpflichtet - zum
Sparen in makroökonomischer Hinsicht, nämlich die Steuern zu erhöhen, die
Einkommen zu senken und auf alle mögliche andere Art und Weise mehr für die
Rückzahlung der Schulden auszugeben, und das noch aus einem kleineren BIP, was
unmöglich ist (wie einige der bisherigen Redner für Spanien und sogar für
Griechenland gezeigt haben, wie ich gehört habe). Es ist erniedrigend für die
Menschen in diesen Ländern, wenn man sie drängt und zwingt, aus weniger
Einkommen und Überlebenschancen mehr zu bezahlen. Aber das ist die
Realität.
Und wenn man heute die mediterrane Welt anschaut, dann sieht man völliges
Chaos. Auf der nordafrikanischen, südlichen Seite, der islamischen Seite, ist
eine rebellische Jugend, die für mehr Freiheiten und mehr Freiheit kämpft, und
auf der anderen Seite, unserer Seite, der europäischen Seite, sieht man eine
frustrierte Jugend ohne Chancen auf ein gutes Leben in der Zukunft. Das macht
mich melancholisch, denn vor etwa zehn Jahren habe ich ein Buch darüber
geschrieben, daß der Mittelmeerraum vor 2000 Jahren das Zentrum der
Weltwirtschaft war. Aber jetzt ist dieses Zentrum der antiken Welt getrennt in
zwei Regionen, die sich aus verschiedenen Gründen in Revolutionen befinden:
Der eine Teil kämpft für mehr Freiheit, der andere für bessere Chancen im
Leben im materiellen Sinn, die sie ja haben könnten, weil Europa kein Teil der
unterentwickelten Welt ist.
Staat und Währung müssen eine Einheit sein
Was ist der Ausweg aus diesem Schlamassel? Gibt es Mittel dagegen? Ich
denke, es gibt dafür zwei sehr einfache und sehr rationale Mittel, wenn man
versteht, was das Grundproblem beim Euro und der Eurozone ist. Und das
eigentliche Problem hinter dieser multinationalen Währung - einer Währung für
anfangs 11 und inzwischen 17 Nationen - ist, daß eine Trennung zwischen einem
Land, einem Staat auf der einen Seite und seiner Währung auf der anderen nicht
möglich ist. Der Staat und seine Währung bilden eine Einheit, denn jeder Staat
braucht eine Währung, um eine rationale Politik formulieren zu können - eine
rationale Politik in Hinsicht auf die Beschäftigung, die sozialen Werte, die
strukturellen Ungleichgewichte -, und das kann er nur tun mit seiner eigenen
Währung, seinen eigenen Zinsraten und seinen eigenen Regeln für den
Bankensektor.
Als Konsequenz dieses multinationalen Währungssystems, das wir in Europa
geschaffen und eingeführt haben, ist der Euro für jedes Land, für jede
Volkswirtschaft - es spielt da keine Rolle, ob im Norden oder im Süden - mehr
oder weniger eine ausländische Währung. Es ist eine Fremdwährung, eine Währung
wie ein Dollar für Europa, ein Renminbi für Europa oder ein Schweizer Franken
für Europa oder irgendeine andere Währung. Und eine solche Dummheit hat es in
den 3000 Jahren Währungsgeschichte, die ich studiert habe und kenne, noch nie
gegeben.
Der Ausweg ist also, diese Situation zu beenden und zur Identität von
Währung und Staat zurückzukehren, und unsere Währung durch unsere nationale
Gesetzgebung zu schützen, wie man immer getan hat, seit das Geld ein
öffentliches Gut war - und das ist es schon eine sehr lange Zeit.
Und was wird aus dem Euro? Ich denke, wir haben in einem solchen System
eine reale Chance, daß er überlebt, was gut ist, damit unsere Politiker und
Europafanatiker das Gesicht wahren können.
Was könnte die Rolle des Euro in einem solchen System der Rückkehr zu
nationalen Währungen sein? Sehr einfach: Wenn Sie sich an die sehr lange,
hocherfolgreiche Geschichte der Integration der Währungen in Europa erinnern:
Europa hatte seit dem Zweiten Weltkrieg mindestens drei sehr erfolgreiche
Währungsarrangements mit seinen Nachbarn. Das erste war die Europäische
Zahlungsunion direkt nach dem Krieg, in den Jahren 1947 bis 1957, die mit
Hilfe der Vereinigten Staaten, mit Geldern aus der Marshallplan-Hilfe,
geschaffen wurde. Diese Europäische Zahlungsunion wurde dann mit dem Beginn
des gemeinsamen europäischen Marktes in das Europäische Währungsabkommen (EWA)
überführt, denn der Start des gemeinsamen Marktes war auch der Start für den
Kapitalmarkt im Nachkriegseuropa. Und weil daher eine bloße Zahlungsunion auf
der Ebene der Zentralbanken nicht mehr ausreichte, wurde das EWA eingeführt,
und es band die Geldmärkte in das System ein. Und dieses System wurde dann
durch den europäischen Wechselkursmechanismus von 1979 abgelöst, das war eine
Idee des damaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und des
deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, und der einzige Unterschied zum
früheren System war die Einführung der Europäischen Währungseinheit, der
European Currency Unit, abgekürzt ECU. Und Frankreich war sehr stolz auf
diesen Namen, denn sie konnten sie „écu“ nennen, und Écu war der Name einer
sehr alten Goldmünze Ludwigs XIV. vor 300 Jahren.
Was ist der Unterschied zum System des Euro? Sehr einfach: Zunächst gab es
in allen diesen früheren Systemen nationale Währungen und somit auch die
Voraussetzungen dafür, daß die Staaten ihre eigene Politik formulieren und
umsetzen, was sehr wichtig ist. Zweitens hatte man anstelle der EZB einen
automatischen Mechanismus bei den Wechselkursen. Fast alle Währungen waren mit
jeder anderen Währung durch einen Wechselkursmechanismus verbunden. Wenn ein
Land eine gute Politik verfolgte, gab es eine Tendenz zur Aufwertung, und im
entgegengesetzten Fall eine Tendenz zur Abwertung. Und eine der guten Folgen
dieser Gefahr der Abwertung war es, Auslandsschulden zu vermeiden. In jenen
Tagen waren Griechenland, Spanien und Italien nicht überschuldet, was Kredite
von ihren Nachbarn angeht. Denn die Gefahr einer möglichen Abwertung - und
Abwertungen gab es ziemlich oft - war das beste Mittel gegen zu viele Kredite
aus der übrigen Welt, um eine Überschuldung zu vermeiden. Und das zweite
Element des früheren Systems war die Notwendigkeit einer Rechnungseinheit zur
Berechnung der Wechselkurse, und das war der ECU.
Euro als Zweitwährung
Was wird also die künftige Chance des Euro in einem revidierten System
nationaler Währungen sein? Ein zweiter ECU zu sein! Warum nicht? Ein zweiter
ECU unter dem Namen des Euro würde dem Euro eine enorme Attraktivität geben,
denn eine Währung kann man abwerten, aber eine Verrechnungseinheit nicht. Da
alle Währungen gegenüber der Einheit abwerten müssen, wäre die Einheit die
einzige monetäre Größe, die einzige monetäre Einheit, die stabil ist - stabil
per Definition. Wir könnten also einen stabilen Euro als Rechnungseinheit in
einem System vieler Währungen in Europa haben. Das wäre die beste Lösung, der
Euro als zweiter ECU.
Aber wenn man ein noch stärkeres Symbol Europas haben will, gäbe es auch
die Möglichkeit, der Einheit den Charakter einer richtigen Währung zu geben.
Warum nicht? Warum sollte ein föderales Europa, ein Europa mit nicht nur 17,
sondern 28 Nationen - warum sollte ein solches Europa nicht mit zwei Währungen
leben können? Jeweils einer nationalen und einer supranationalen, nämlich
einem Euro, nicht als Rechnungseinheit, sondern als parallele Währung zu allen
bestehenden Landeswährungen in Europa? Selbst in einem solchen System wäre der
Euro im Gegensatz zur Vergangenheit sehr stabil, denn jeder Trend zur
Abwertung des Euro würde die Europäische Zentralbank, die diese Währung
ausgibt, dazu zwingen, sie zu stärken. Wir hätten also das, was uns heute
fehlt - in Europa, nicht in der Welt: einen Wettbewerb der Währungen. Und der
Wettbewerb der europäischen Währungen mit einer weiteren Währung, dem Euro,
würde natürlich das ganze System, nämlich den Euro und alle anderen Währungen,
stabilisieren.
Um zum Schluß zu kommen: Auch wenn dieser neue Euro ein weiterer
Etikettenschwindel wäre - daß man nämlich sagt, wir haben einen Euro, obwohl
wir den Euro nicht mehr haben -, hätte erstens der Euro in diesem Fall eine
Überlebenschance, und dann könnten alle die dummen Regierungen in Europa
sagen: „Wir haben nie vor den Kritikern kapituliert, wir konnten den Euro
retten“ - zu einem guten Ziel, einem guten Zweck und einem allseitigen Happy
End.
Vielen Dank.
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