Schillerfest 1998 |
Programm zu Schillers Geburtstag 1998"Friede sei ihr erst Geläute."
"Die alte Kirchenglocke"Märchen von Hans Christian Andersen Im deutschen Lande Württemberg, wo die Akazien an der Landstraße so herrlich blühen und die Apfel- und Birnenbäume im Herbst von reichem Segen strotzen, liegt eine kleine Stadt, Marbach; es ist eine ganz unscheinbare Ortschaft, aber schön liegt sie am Neckar, der an Städten, alten Ritterburgen und grünen Weinbergen vorübereilt, um seine Wasser mit dem stolzen Rhein zu mischen. Es war spät im Jahr, das Weinlaub hatte sich rot verfärbt, Regenschauer fielen herab, und der kalte Wind nahm zu; es war nicht eben die munterste Zeit für die Armen; es kamen finstere Tage, und noch finsterer war es drinnen in den alten Häuschen. Eines davon lag mit dem Giebel zur Straße, mit niedrigen Fenstern, arm und gering von Aussehen, und das war die Familie ja auch, die hier wohnte, aber brav und fleißig; dazu mit Gottesfurcht in der Schatzkammer des Herzens. Noch ein Kind würde der Herrgott ihnen bald bescheren; es war die Stunde, da die Mutter in Schmerzen und Not lag, da ertönte vom Kirchturm Glockenklang zu ihr herein, so tief, so festlich, es war eine Feierstunde, und der Ton der Glocke erfüllte die Betende mit Andacht und Glauben; die Gedanken erhoben sich so innig zu Gott, und in derselben Stunde gebar sie ihren kleinen Sohn und fühlte sich so unendlich froh. Die Glocke im Turm schien ihre Freude über Stadt und Land hinauszuläuten. Zwei helle Kinderaugen blickten sie an, und das Haar des Kleinen glänzte, als wäre es vergoldet; das Kind wurde mit Glockenklang in der Welt empfangen an jenem dunklen Novembertag; Mutter und Vater küßten es, und in ihre Bibel schrieben sie: "Gott schenkte uns am zehnten November 1759 einen Sohn," und später wurde hinzugefügt, daß er in der Taufe die Namen "Johan Christoph Friedrich" erhielt. Und der Kleine wuchs heran, und die Welt wuchs für ihn, zwar zogen die Eltern an einen anderen Ort, aber beim ersten Besuch in Marbach hatte der Ort sich nicht weiter verändert, es war ja auch nicht so sehr lange her, seit sie fortgezogen waren; die Häuser standen wie früher da, mit spitzen Giebeln, schiefen Mauern und niedrigen Fenstern; auf dem Kirchhof waren neue Gräber hinzugekommen, und dort, ganz dicht an der Mauer, stand jetzt unten im Gras die alte Glocke, sie war von ihrer Höhe heruntergestürzt, hatte einen Riß bekommen und konnte nicht mehr läuten, eine neue war an ihre Stelle gekommen.
Soweit dieses Märchen; den Schluß werden Sie im zweiten Teil des Programms hören. Diese Geschichte von Hans Christian Andersen zeugt von der Berühmtheit, die Friedrich Schiller und sein Glockenlied bis weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus erlangten. Kein Wunder, denn "Das Lied von der Glocke" ist eine Singularität in der Poesie überhaupt. Hier werden hohe, allgemeingültige Ideen mit handwerklichen Arbeiten des täglichen Lebens verbunden. Schönste Lyrik und Meistersängerlied finden wir hier in einem Gedicht vereint. Es ist ein richtiger Szenenbogen, unter dem viele kleine, in sich abgeschlossene Episoden und philosophische Gedanken zu einem neuen Ganzen verschmolzen werden. Wir wollen nun mit neuem, unbefangenen Blick an das Werk herangehen. Einzelne Ideen und Aspekte, die in dem Gedicht behandelt werden, wollen wir anhand anderer Gedichte, Briefe und theoretischer Schriften beleuchten und vertiefen. Gerade die "anstößigen" Stellen, die, worüber sich einige schon aufregten, als das Gedicht gerade erst erschienen war, erhalten so einen ganz anderen Stellenwert.
Festgemauert in der Erden
Schiller war schon früh mit dem Handwerk des Glockengießens vertraut geworden. Der Sohn des Glockengießers von Ludwigsburg, Georg Friderich Neubert, war Schillers Schulkamerad auf der dortigen Lateinschule, und da die Familie Schiller nur einige Häuser vom Gießhaus des Meisters Neubert entfernt wohnte, ist wohl anzunehmen, daß Schiller schon in jungen Jahren beim Glockengießen zugeschaut hat. Sicher ist, daß Schiller während seines Aufenthalts in Ludwigsburg im Jahre 1793/94 die Glockengießerei wieder besuchte, wie in der Familie Neubert stolz erzählt wird. Auch in Rudolstadt, wo die Familie seiner Frau wohnte, dem Schiller von Jena und von Weimar aus immer wieder einen Besuch abstattete, gab es eine Glockengießerei, und seine Schwägerin Caroline von Wolzogen berichtet, Schiller sei oft dorthingegangen, "um von diesem Geschäft eine Anschauung zu gewinnen". In der Familie des Glockengießers Johann Mayer vererbte sich "von Geschlecht zu Geschlecht in ganz bestimmter Fassung die Kunde, wie Schiller wiederholt die Gießhütte besucht und den Gußmeister ausgefragt hat, wie der Ahnherr zunächst gar nicht besonders erbaut war über die Störung der Arbeit, daß der bleiche Gelehrte aber rücksichtsvoll in dem hochlehnigen Stuhl an der Wand Platz genommen hat, um die Arbeit nicht zu stören."
Vivos voco. Mortuos Plango. Fulgura frango.
Dieses Motto hat Schiller seinem Gedicht vorangestellt. Es ist die Inschrift der berühmten Münsterglocke von Schaffhausen aus dem Jahre 1486. Die Kirchenglocken haben nicht nur den damaligen Menschen mit ihrem Geläute von der Geburt bis zum Tode durch den Tag begleitet, sie dienten gleichzeitig als Blitzableiter und "brachen" so die Blitze. Die "Oekonomisch-technologische Encyklopädie", in der Schiller die technischen Einzelheiten des Glockengusses studierte, zitiert dieses Motto auf der Münsterglocke. Doch Schiller hat es wahrscheinlich schon früher gekannt: Der Ludwigsburger Glockengießer Neubert hatte nämlich seine Lehre in Schaffhausen gemacht und die Münsterglocke mit Sicherheit gekannt - und vermutlich hat er auch davon erzählt. Das Haus, in dem sich die Ludwigsburger Gießerei befand, ziert heute noch eine Gedenktafel mit den stolzen Worten: Steh, Wanderer, still! Denn hier entstand,
Schiller an Goethe. Jena, 7. Juli 1797 Ich habe jetzt überlegt, daß der musikalische Teil des Almanachs vor allen Dingen fertig sein muß, weil der Komponist sonst nicht fertig wird. Deswegen bin ich jetzt an mein Glockengießerlied gegangen und studiere seit gestern in Krünitz Encyclopädie, wo ich sehr viel profitiere. Dieses Gedicht liegt mir sehr am Herzen, es wird mir aber mehrere Wochen kosten, weil ich so vielerlei verschiedene Stimmungen dazu brauche und eine große Masse zu verarbeiten ist.
Schiller hatte schon lange an dieses Gedicht gedacht, aber mit der konkreten Arbeit erst jetzt begonnen. Sie mußte bald unterbrochen werden, da der Wallenstein seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit verlangte. Erst im August des Jahres 1799 ist im Briefwechsel wieder von ihr die Rede; am 29. September kann er melden, daß das Glockengießerlied vollendet sei. Der politische Himmel über Europa hatte sich in den vergangenen Jahren zunehmend verdüstert.
Der Antritt des neuen Jahrhunderts
Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
Zwo gewalt'ge Nationen ringen
Seine Handelsflotte streckt der Brite
Ach, umsonst auf allen Länderkarten
In des Herzens heilig stille Räume
Dabei hatte das ausgehende Jahrhundert einen entscheidenden Sieg errungen: In der Neuen Welt war mit der amerikanischen Revolution das Wagestück, eine freie republikanische Gesellschaft aufzubauen, geglückt. Die amerikanischen Kolonien hatten sich von der britischen Krone unabhängig gemacht, hatten das Joch der Monarchie abgeworfen. Mit der Französischen Revolution im Jahre 1789 wollte man die Revolution nach Europa heimholen. Wie alle freiheitsliebenden Menschen, hatte auch Schiller zunächst die französische Revolution mit großer Teilnahme und noch größeren Hoffnungen verfolgt. Schließlich war für ihn das "vollkommenste aller Kunstwerke... der Bau einer wahren politischen Freiheit", wie er in den "Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen" bekannte. Die französische Nationalversammlung wählte den Dichter der "Räuber" zum Ehrenbürger der französischen Revolution. "Monsieur Giller, publiciste allemand" wurde am 26. August 1792 einstimmig zum "Citoyen francais" erhoben. Schiller erfuhr von dieser Ehrung aus den Zeitungen, denn die Urkunde selbst erreichte ihn erst ein halbes Jahrzehnt später, am 1. März des Jahres 1798 gleichsam "aus dem Reich der Toten," wie er feststellte, denn alle Männer, welche die Urkunde unterschrieben hatten, waren längst der Guillotine zum Opfer gefallen.
"Freiheit und Gleichheit!" hört man schallen:
Die französische Revolution war bald in Anarchie und blutigen Terror umgeschlagen. Das französische Volk, so stellte Schiller fest, war für die politische Freiheit nicht vorbereitet, die Europäer waren noch nicht reif, ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. So mußte aus dem Aufruhr zwangsläufig eine neue, schreckliche Diktatur entstehen. Auch in den Xenien kommentiert er diese unglückliche Entwicklung: Unglückliche Eilfertigkeit Ach, wie sie Freiheit schrien und Gleichheit, geschwind wollt ich folgen, Der Zeitpunkt Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren,
Schillers Jugendgefährte von der Karlsschule, Friedrich Wilhelm Hoven, berichtet in seiner Autobiographie:
F.W.Hoven: Ludwigsburg im Winter 1793/94. Von dem französischen Freiheitswesen, für welches ich mich so sehr interessierte, war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glückliche Zukunft fand er nicht. Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit. Er gab zwar zu, daß viele wahre und große Ideen, welche sich zuvor nur in Büchern und in den Köpfen hell denkender Menschen befunden, zur öffentlichen Sprache gekommen; aber um eine wahrhaft beglückende Verfassung einzuführen, sei das bei weitem nicht genug. Erstlich seien die Prinzipien selbst, die einer solchen Verfassung zum Grunde gelegt werden müssen, noch keineswegs hinlänglich entwickelt, (...) und zweitens, was die Hauptsache sei, müsse auch das Volk für eine solche Verfassung reif sein, und dazu fehle noch sehr viel, ja alles. Daher sei er fest überzeugt, die französische Republik werde ebenso schnell wieder aufhören, als sie entstanden sei, die republikanische Verfassung werde früher oder später in Anarchie übergehen.
Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Auszug aus dem fünften Brief: Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkür ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit fordert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er fordert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine PHYSISCHE Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetzt auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die MORALISCHE Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
In der französischen Revolution war die Not und Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse das treibende Moment, und Anarchie und Schreckensherrschaft des losgelassenen Pöbels die Folge. Die politische Freiheit konnte aber nur aus der Vernunft, nicht aus heftigen Impulsen heraus geschaffen werden, und Schiller wies der schönen Kunst die Aufgabe zu, den Menschen gleichsam spielerisch zu einer Ebene zu erziehen, wo - wie er sagt - "seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstimmend genug sind, um zu einer universellen Gesetzgebung zu taugen.".
Schiller an den Herzog von Augustenburg. Jena, 13. Juli 1793 Wäre das Faktum wahr, -- wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. Ja, ich bin soweit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen.
Heil'ge Ordnung, segenreiche
Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Aus dem vierten Brief: Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird repräsentiert durch den STAAT; die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet. Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin ebenso viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, daß das Individuum Staat WIRD, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich VEREDELT.
Neben den großen Themen über Staat und Individuum, die in der "Glocke" behandelt werden, führt uns der Dichter in kleinen Szenen die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben eines Menschen vor Augen und verknüpft sie mit dem Klang der Glocken.
Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
Schiller nimmt die Geschlechterrolle als von der Natur gegeben an, was sie ja auch ist, denn schließlich werden die Frauen Mütter, selbst wenn die Männer das Babyjahr wahrnehmen. Das menschliche Miteinander harmoniert nur, wenn jeder seine Aufgabe arbeitsteilig annimmt, und das gemeinsam Geschaffene bewußt gestaltet wird. Um den Unterhalt der Familie zu sichern, muß der Mann nun mal "hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben, und pflanzen und schaffen," während die Frau das, was er draußen gefunden hat, in Harmonie gestaltet, zu dem "Guten", das er nach Hause bringt, "den Glanz und den Schimmer" fügt.
Schiller: Aus der Vorlesung: "Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde" Die Geburt eines Sohnes, seine Ernährung, Wartung und Erziehung vermehrten die Kenntnisse, Erfahrungen und Pflichten der ersten Menschen mit einem wichtigen Zuwachs. Bis jetzt hatten beide nur EIN gesellschaftliches Verhältnis, nur EINE Gattung von Liebe erkannt, weil jedes in dem andern nur EINEN Gegenstand vor sich hatte. Jetzt lernten sie mit einem neuen Gegenstand eine neue Gattung von Liebe, ein neues moralisches Verhältnis kennen -- ELTERLICHE Liebe. Diese Gefühl von Liebe war von reinerer Art als das erste, es war ganz uneigennützig, da jenes erste bloß auf Vernügen, auf wechselseitiges Bedürfnis des Umgangs gegründet gewesen war. Sie betraten also mit dieser neuen Erfahrung schon eie höhere Stufe der Sittlichkeit - sie wurden veredelt. Aber die elterliche Liebe, in welcher sich beide für ihr Kind vereinigten, bewirkte nun auch eine nicht geringe Veränderung in dem Verhältnis, worin sie bisher zueinander gestanden hatten. Die Sorge, die Freude, die zärtliche Teilnahme, worin sie sich für den gemeinschaftlichen Gegenstand ihrer Liebe begegneten, knüpfte unter ihnen selbst neue und schönere Bande an. Jedes entdeckte bei dieser Gelegenheit in dem andern neue sittliche Züge, und eine jede solcher Entdeckungen erhöhte und verfeinerte ihr Verhältnis. Der Mann liebte in dem Weibe die Mutter, die Mutter seines geliebten Sohns. Das Weib ehrte und liebte in dem Mann den Vater, den Ernährer ihres Kindes. Das bloß sinnliche Wohlgefallen aneinander erhob sich zur Hochachtung, aus der eigennützigen Geschlechtsliebe erwuchs die schöne Erscheinung der EHELICHEN Liebe.
Und drinnen waltet
Nichts hat man Schiller so übel genommen wie die "züchtige Hausfrau". Dabei haben wenige Dichter so schöne, edle -- und wie wir heute sagen würden -- emanzipierte Frauengestalten geschaffen wie Schiller. Denken Sie nur an Leonore in seinem Jugendschauspiel "Fiesko", an Elisabeth im "Don Carlos" oder an Thekla im "Wallenstein". Im "Wilhelm Tell" macht Gertrud Stauffacher ihrem Manne Mut, gegen die Unterdrückung der freien Schweizer Waldstätte durch die Landvögte aufzustehen. Sie erkennt klar, daß die Schikanen der Vögte die rechtmäßig nur dem Kaiser unterstehenden Schweizer dazu bringen sollen, ihre Reichsunmittelbarkeit aufzugeben und sich der Habsburgischen Hausmacht Österreich zuzuschlagen.
Wilhelm Tell I,2 Aus Wilhelm Tell, 1.Aufzug 2. Szenen. Eine Linde vor des Stauffachers Hause an der Landstrasse, nächst der Brücke. Stauffacher setzt sich kummervoll auf eine Bank unter der Linde. So findet ihn Gertrud, seine Frau, die sich neben ihn stellt, und ihn eine Zeitlang schweigend betrachtet.
Stauffacher reicht ihr die Hand und schweigt.
Er steht auf.
Schillers Frauengestalten dienen mit ihrer Klugheit, Wahrhaftigkeit und ihrem Seelenadel den Männern häufig als Muster, gerade so, wie in dem folgenden Gedicht.
Würde der Frauen Ehret die Frauen! sie flechten und weben
Kocht des Kupfers Brei,
Zwischen die Szenen aus dem Leben und den allgemeinen Betrachtungen über Staat und Gesellschaft hat Schiller die Sprüche des Meisters Glockengießer gestreut, der seine Gesellen zur Arbeit anhält und ihnen die einzelnen Arbeitsschritte erklärt. Schiller ehrt damit nicht nur die Arbeit des Handwerkers, er erhöht sie auch zum poetischen Gegenstand.
Schiller an Goethe. Jena, 19. März 1799 Ich habe in diesen Tagen wieder den Homer vorgehabt und den Besuch der Thetis beim Vulkan mit unendlichem Vergnügen gelesen. In der anmutigen Schilderung eines Hausbesuchs, wie man ihn alle Tage erfahren kann, in der Beschreibung eines handwerksmäßigen Geschäfts ist ein Unendliches in Stoff und Form enthalten, und das Naive hat den ganzen Gehalt des Göttlichen.
Das ist's ja, was den Menschen zieret,
Wie in Homers großen Epen, finden wir auch in diesem Werk Schilderungen der tagtäglichen Arbeit neben philosophische Ausführungen über die großen Fragen des Lebens gestellt. Der Meister Glockengießer bildet das Thema und Leitmotiv des ganzen Gedichtes. Der fortschreitende Arbeitsprozeß, zu dem sich "wohl ein ernstes Wort" geziemt, regt den Meister zu sinnigen Betrachtungen über die Gesellschaft und den Staat an. Jedesmal, wenn das einzelne Dasein durch Schicksalsschläge vernichtet zu werden droht, treibt der Meister durch freudiges Schaffen die Entwicklung weiter, bis die Glocke vollendet und der Kreis des Lebens abgeschritten ist.
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Es ist sicher diese hohe Wertschätzung der Arbeit des gewöhnlichen Bürgers, die diesem Gedicht zu einer fast legendären Beliebtheit und Berühmtheit verholfen hat. Das Lied von der Glocke ist wirklich eine "Schule des Lebens", wie es lange genannt wurde. Es hat den Namen des Dichters in die hinterste Stube des kleinsten Weilers getragen. Schiller war nun DER Volksdichter schlechthin. Das mag auch daran liegen, daß einige darin einen spezifisch deutschen Charakter ausmachten.
Körner an Schiller, 6. November 1799 Das Lied von der Glocke kann sich besonders neben Deine vorzüglichsten Produkte stellen. Es ist ein gewisses Gepräge von deutscher Kunst darin, wie in dem Gange nach dem Eisenhammer, das man selten echt findet, und das manchem bei aller Prätension auf Deutschheit sehr oft mißlingt.
Wilhelm von Humboldt an Schiller. Paris, 16. Junius 1800 Das Lied von der Glocke hat mir Sie sehr lebhaft wieder vor Augen gestellt. Es ist eine eigene und eine äußerst genievolle Produktion. Es gibt gewisse Kunstwerke, die ich nordische nennen möchte, weil sie weder das Altertum, noch der Süden hätten hervorbringen können. Ein Muster dieser Gattung in ihrer höchsten idealischen Erweiterung möchte ich Ihr Lied von der Glocke nennen.
Einige amerikanische Wissenschaftler meinen allerdings, die Glocke sei gar nicht original, sondern eine Nachdichtung. Vor einigen Jahren wurde nämlich ein altes jiddisches Gedicht aus dem 17. Jahrhundert gefunden, das der Glocke sehr ähnlich ist. Darin wird beschrieben, wie der Kigl, die traditionelle Mehlspeise, welche die Juden in Osteuropa am Sabbat aßen, zubereitet wird. Versmaß und Aufbau sind mit den Meistersprüchen in der Glocke fast identisch. Es ist bekannt, daß Schiller sich im osteuropäischen Judentum gut auskannte und einige Forscher glauben sogar, daß der Dichter selbst jüdischer Abstammung war und daß die Familie ursprünglich Silbermann hieß. Wie auch immer: Schiller hat sich offenbar von dem jiddischen Kigl inspirieren lassen. Hören Sie nun als Abschluß vor der Pause die ersten beiden Strophen aus diesem Gedicht:
Lied vunem Kigl Oisgeheizt is schon der Oiven Die Übersetzung lautet etwa: Das Lied vom Kigl Angeheizt ist schon der Ofen
Schiller gab den Musenalmanach, eine Art poetischen Jahreskalender, heraus. Darin veröffentlichte er seine eigenen Werke, besonders die Gedichte, und Aufsätze und Gedichte seiner Zeitgenossen. Dem Musenalmanach waren regelmäßig Noten beigefügt. Schiller sandte die Gedichte, die in der nächsten Ausgabe veröffentlicht werden sollten, und die er für geeignet hielt, in Musik gesetzt zu werden, an zeitgenössische Musiker wie z.B. Goethes Freund Karl Friedrich Zelter, der zahlreiche Gedichte aus dem Musenalmanach vertonte. Es gab mehrere Versuche, die Glocke in Musik zu setzen, doch die meisten verliefen nicht glücklich. Erst Andreas Romberg gelang im Jahre 1809 eine, wenn auch nicht ideale, so doch interessante und in einigen Teilen auch schöne Vertonung. Die andere Frage war, wie man das Gedicht vortragen solle. Natürlich haben auch wir uns bei den Proben zu diesem Schillerfest darüber den Kopf zerbrochen. Sollte es nur von einer einzigen Person rezitiert oder unter mehrere Sprecher aufgeteilt werden? Goethe, zu dessen Lieblingsgedichten die Glocke gehörte und der sie immer wieder aufführen ließ, hat sie gern von mehreren Stimmen vortragen lassen. Hin und wieder ist man auch auf ganz abenteuerliche Abwege geraten. So beschreibt Schillers Freund Christian Gottfried Körner eine offenbar ganz mißglückte Inszenierung:
Körner an Schiller. Dresden am 25. Februar 1805. Montag Ich habe Dir noch von der Art Nachricht zu geben, wie der Baron Racknitz neulich hier eine Aufführung Deines Gedichts, die Glocke, veranstaltet hat. Zwischen der Deklamation war Instrumentalmusik -- ein Choral (nicht gesungen) und einzelne Stücke aus Opern und andern größern Werken von verschiednen Meistern, auch einige von einem hiesigen Kammermusikus besonders dazu komponiert. Nur ein paar Stellen wurden im Chor gesungen. Opitz sprach den Meister und die Hartwig das Übrige. Beide haben keine Idee, wie eigentlich die Glocke gesprochen werden muß. Die Hartwig kam fast nie aus ihrem weinerlichen Ton. Die Musik war ein buntes Gemengsel, das kein Ganzes bildete, war nicht allemal passend, und unterbrach oft zur Unzeit die Rede. Indessen halte ich es nicht für unmöglich, die Glocke auf eine solche Art kustmäßig zu behandeln. Nur muß das Ganze von einem Manne absichtlich dazu komponiert werden.
Schiller an Körner. Weimar, 5. März 1805 Ich glaube mit Dir, daß sich die Glocke recht gut zu einer musikalischen Darstellung qualifizierte, aber dann müßte man auch wissen, was man will, und nicht ins Gelag hinein schmieren. Dem Meister Glockengießer muß ein kräftiger, biederer Charakter gegeben werden, der das Ganze trägt und zusammenhält. Die Musik darf nie Worte malen und sich mit kleinlichen Spielereien abgeben, sondern muß nur dem Geist der Poesie im Ganzen folgen. Ich danke Gott, daß ich diese Musik (von der ich hier ein Morceau gehört habe) und diese Darstellung durch Opitz und die Hartwig nicht habe mit anhören müssen.
Wie würde es ihm erst heute ergehen, wenn er von den Inszenierungen seiner Theaterstücke hören, geschweige denn sie auf der Bühne sehen müßte? -- Besonders Goethe hat sich immer wieder um eine Vertonung der Glocke bemüht. So hatte er. für die Feier zu Schillers zehntem Todestag bei Zelter eine Komposition in Auftrag gegeben, aber auch Zelter kam über Anfänge nicht hinaus -- das Werk war einfach zu groß, so daß Goethe das Glockengießerlied wiederum von mehreren Schauspielern szenisch aufführen ließ.
Goethe: Zu Schillers... Andenken Weimar, den 10. Mai 1815 Hierauf ward Schillers "Glocke" nach der schon früher beliebten Einrichtung vorgestellt. Man hatte nämlich diesem trefflichen Werke, welches auf eine bewunderungswürdige Weise sich zwischen poetische Lyrik und handwerksgemäßer Prosa hin und wider bewegt und so die ganze Sphäre theatralischer Darstellung durchwandert, ihm hatte man, ohne die mindeste Veränderung, ein vollkommen dramatisches Leben mitzuteilen gesucht, indem die mannigfaltigen einzelnen Stellen unter die gesamte Gesellschaft nach Maßgabe des Alters, des Geschlechts, der Persönlichkeit und sonstigen Bestimmungen verteilt waren, wodurch dem Meister und seinen Gesellen, herandringenden Neugierigen und Teilnehmern sich eine Art von Individualität verleihen ließ. Auch der mechanische Teil des Stücks tat eine gute Wirkung. Die ernste Werkstatt, der glühende Ofen, die Rinne, worin der feurige Bach herabrollt, das Verschwinden desselben in die Form, das Aufdecken von dieser, das Hervorziehen der Glocke, welche sogleich mit Kränzen, die durch alle Hände laufen, geschmückt erscheint, das alles zusammen gibt dem Auge eine angenehme Unterhaltung. Die Glocke schwebt so hoch, daß die Muse anständig unter ihr hervortreten kann.
Das Lied von der Glocke Vivos voco, Mortuos plango, Fulgura frango Festgemauert in der Erden, Von der Stirne heiß Zum Werke, das wir ernst bereiten, Nehmet Holz vom Fichtenstamme, Was in des Dammes tiefer Grube Weiße Blasen seh ich springen, Denn mit der Freude Feierklange Oh! zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, Wie sich schon die Pfeifen bräunen! Denn wo das Strenge mit dem Zarten, Wohl! Nun kann der Guß beginnen,
In die Erd ist's aufgenommen, Dem dunkeln Schoß der heil'gen Erde Bis die Glocke sich verkühlet Munter fördert seine Schritte Fern im wilden Forst der Wandrer Nun zerbrecht mir das Gebäude, Der Meister kann die Form zerbrechen Freude hat mir Gott gegeben! Und dies sein fortan ihr Beruf, Jetzo mit der Kraft des Stranges
Wir haben im ersten Teil mit Hans Christian Andersens Märchen "Die alte Kirchenglocke" begonnen. Er hat uns erzählt, wie die Kirchenglocke von Marbach zu Schillers Geburt geläutet hat, daß sie später aber vom Kirchturm gefallen und dabei zerbrochen ist. Nach vielen Jahrzehnten wird das Erz dieser Glocke für den Guß einer neuen Statue benutzt. Hören Sie nun den Schluß dieses Märchens.
Und das Erz floß glühend in die Form, die alte Kirchenglocke -- ja, niemand dachte an deren Heimat und ihr erstorbenes Klingen, die Glocke floß mit in die Form und bildete Kopf und Brust der Statue, so wie sie heute in Stuttgart vor dem alten Schloß enthüllt steht, auf dem Platz, wo er, den sie darstellt, als lebendiger Mensch umherging, im Kampf und im Streben, bedrückt durch die Welt um ihn herum, er, der Knabe aus Marbach, der Schüler der Karlsschule, der Flüchtling, Deutschlands großer, unsterblicher Dichter, der von dem Befreier der Schweiz und Frankreichs gottbeseelter Jungfrau sang. Es war ein herrlicher, sonniger Tag, Fahnen wehten von Türmen und Dächern im königlichen Stuttgart, die Kirchenglocken läuteten zu Fest und Freude, nur eine Glocke war stumm, sie leuchtete im hellen Sonnenschein, leuchtete von Antlitz und Brust der Ruhmesgestalt; es war gerade hundert Jahre her seit jenem Tag, da die Glocke im Turm zu Marbach Freude und Trost für die leidende Mutter läutete, die ihr Kind gebar, arm im ärmlichen Haus, dereinst ein reicher Mann, dessen Schätze die Welt segnet; er, der Dichter des edlen Frauenherzens, der Sänger des Großen und Herrlichen, Johan Christoph Friedrich Schiller.
Spätestens mit der Glocke war Schiller zum "Dichter des Volkes" und zum "Liebling der Nation" geworden, wie sich bei den Feiern zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1859 zeigte. Die Feste dauerten bis zu einer Woche und wurden auchin Paris, Stockholm, Amsterdam, Prag, Bukarest, St. Petersburg, Warschau, Smyrna, Konstantinopel und Algier begangen. Natürlich auch in Mainz und Wiesbaden. Zum Beispiel beantwortet die "Mittelrheinische Zeitung" am 10. November 1859 die Frage, warum gerade Schiller der "Liebling der Nation" sei, folgendermaßen: "Seine Begeisterung für die höchsten Güter der Menschlichkeit Freiheit und Wahrheit ist es, das jeden... Geist für Schiller erwärmt, begeistert, entflammt."
Und anläßlich der Errichtung des Schiller-Denkmals in Mainz ruft der Festredner Prof. Karl Klein aus:
"Wir setzen Schiller ein Denkmal,... weil er unser größter Volksdichter ist, weil er ein großer Dichter der Humanität, unser größter Welt-Dichter und weil er unser Befreiungs-Dichter ist. Wie Homer... in jedes Griechen Brust lebte, in jeder Stadt, in jedem Dorfe, in jedem Haus ein Denkmal hatte: so verdient unser Dichter, daß ihm in jeder deutschen Stadt ein Denkmal errichtet, in jedem Dorfe eine Büste gesetzt, in jedem Haus ein Bild aufgestellt werde, damit wir unsern Lieblingsdichter, den wir im Herzen tragen, stets mit den Augen sehen... können."
Auch der Bericht von den Schillerfeiern in Moskau vergleicht den Volksdichter Homer mit Friedrich Schiller, den "die Deutschen im Herzen mit in die Ferne getragen haben". Höhepunkt der dreitägigen Schillerfeiern in Leipzig 1859 war der Festzug, an dem sich mehr als 10.000 Bürger aktiv beteiligten. In dem Gedenkbuch des Festzugs-Comitees heißt es:
Die Straßen, durch welche sich der Zug bewegte, prangten in festlichem Schmucke. Flaggen wehten von den Dächern und höheren Stockwerken. Grüne Gewinde und bunte Teppiche hingen aus den Fenstern, wenig Häuser waren ganz ohne Schmuck; vor mehr als einem sah man Schillers lorbeergekröntes Bild. Die Fenster und selbst Simse und Dächer waren mit Schaulustigen gefüllt. Hie und da waren aus Kisten, Fässern, Rollwagen, Brettern Schaubühnen im Fluge hergestellt. Den Zug führte der Zugleiter mit seinen beiden Adjutanten zu Pferde. Ihm folgten ein halbes tausend Männer mit ihren Fahnen und mit Instrumentalmusik. Hierauf das Festzugskomitee und eine Abteilung Studenten. Dem Künstlerverein vorangehend wurde eine neue gemalte Fahne, die den Genius der Kunst zeigt, der Schiller bekränzt, im Geleit von Herolden in mittelalterlicher Tracht getragen. Danach kamen die Buchhändler, in ihrer Mitte wurde ein Prachtexemplar der Schiller-Galerie auf einem Atlaskissen getragen. Es folgten die Turnvereine und nach ihnen zahlreiche Handwerkerinnungen. Die Bäcker z.B. kamen mit 7 Fahnen. Eine Gruppe von ihnen hatte Tracht und Bewaffnung der Tage Wallensteins. Während des Umzuges auf dem Markte wurden Lettern mit Schillers Silhouette und einer Inschrift gegossen. Den Buchdruckern folgten die Barbiere mit Fahne und in zwei Gruppen. Die eine stellte 5 Karlsschüler dar, das erste große Werk Schillers tragend, die zweite 3 Professoren in der Amtstracht von 1800, Schillers letztes Werk unter einem Lorbeerkranz haltend. Als Mitte des Zuges prangte der von vier Pferden gezogene Festwagen der Gärtner, ein mit Psalmen geschmückter Baldachin, unter dem Schillers Büste stand. Dahinter kamen Mitglieder des Stadtrates, des Stadtverordnetenkollegiums und der königlichen Behörden. Es folgten die Klempner, welche Gestalten aus der "Jungfrau von Orleans" vorführten. Jeanne d'Arc selbst und die Ritter und Knappen zu Fuß und zu Roß, in weithin glänzenden Harnischen. Dann die Buchbinder, diese hatten zwei geschmückte Tragen; auf der einen trugen vier Lehrlinge einen Kolossalband mit Schillers Bild und der Aufschrift: Schillers Werke, auf der zweiten trug ein Meister die gewöhnliche Ausgabe der Schillerschen Werke in Prachtband. Zigarrenarbeiter folgten, auch sie hatten einen Festwagen, auf welchem in weiß und rot gekleidete Arbeiter Zigarren zur Verteilung drehten. Dann die Schneider, welche zeitgetreu in reicher und mannigfaltiger Tracht die Personen des "Tell" zur Anschauung brachten. Es folgten die Fleischer, geführt von 20 Berittenen. Sie brachten einen vierspänigen Wagen mit zwei Widdern und eine von 4 Mann getragene riesige Wurst, unter deren Last sich die Stange bog. Dann die Schlosser, welche die Figuren des "Ganges nach dem Eisenhammer" veranschaulichten und auf einem Wagen eine Schlosserwerkstatt mit sich führten. Hierauf die Glockengießer mit einem als Glockenstuhl gezierten Festwagen, auf welchem eine läutende Glocke hing und die Inschrift: "Zur Eintracht, zu herzinnigem Vereine versammle sie die liebende Gemeine". Zum Schluß, als die erst in der Neuzeit entstandene Handwerkschaft, die Maschinenbauer, Mechaniker, Eisen- und Zinkgießer. Getragen wurde das Modell einer kleinen Drehbank, mehrere Nähmaschinen und auf einem roten Samtkissen eine neukonstruierte Papierschneidemaschine. So zeigte das Ende dieses stattlichen Zuges ein Bild des Fortschritts deutscher Gewerbetätigkeit. In Frankfurt am Main waren allein 40 - 50 000 Menschen aus der Umgebung in die Stadt geströmt, um am Schillerzug teilzunehmen. Die Stadt platzte fast aus den Nähten. In Berlin zählte man beim Festakt vor dem Schauspielhaus eine halbe Million Menschen. Bei den Schulfeierlichkeiten waren 60 000 Schüler beteiligt. Nach den Feiern wurden große Festmäler in den Sälen gehalten, die mit Schillerbüsten, Gedichtstrophen, Lorbeerkränzen usw. reich geschmückt waren und bei denen die Bürger bis in die frühen Morgenstunden der Geselligkeit frönten. Selbst im fernen Chicago wurde Schillers 100. Geburtstag drei Tage lang von der ganzen Stadt gefeiert, und die verschiedenen Innungen und Gewerbe wetteiferten miteinander um die prächtigsten Festwagen. Schillers Werke wurden in zahlreichen verschiedenen Ausgaben neu publiziert und fanden reißenden Absatz. Vielerorts wurden Schiller-Vereine gegründet, die sich zum Grundsatz machten "Geist und Gesinnung, von denen das Fest zum 100jährigen Geburtstag Schillers getragen war, lebendig zu erhalten und weiter zu entwickeln". Sammlungen für die Errichtung von Schiller-Denkmälern waren so ergiebig, daß überall in den Städten Schiller-Statuen errichtet werden konnten.
Mit den Schillerfeiern des Jahres 1859 wurde aber nicht nur der große Dichter geehrt, sie waren die größte politische Demonstration seit der gescheiterten Revolution von 1848. Die Umzüge wurden zu einer breiten Bewegung für einen einheitlichen deutschen Verfassungsstaat. In den jungen USA wurden sie gleichzeitig zur mächtigen Volksbewegung für die Wahl Abraham Lincolns zum amerikanischen Präsidenten. So wurde Schillers Erwartung, daß schöne Kunst den Menschen auch politisch mündig mache, erfüllt. In diesen Feierlichkeiten drückt sich eine Begeisterung für Schillers herrliche Ideen aus, die unserem Zeitalter fast völlig abhanden gekommen ist. Doch gerade diese universellen Ideen von politischer und menschlicher Freiheit, von Menschenwürde und schöner Menschlichkeit wollte der Dichter "als lebendig wirkende Motive in das Menschenherz" pflanzen, damit sie uns als Leitstern durch das Leben führen. |
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