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  Schillerfest 2004

Schillerfest 2004

Ich lebte still und harmlos ...

200 Jahre "Wilhelm Tell"


Mit Schiller gegen die Furcht - Festrede von H. Zepp-LaRouche
Schillerfest 2004 in Wiesbaden

Mit Schiller gegen die Furcht

Mit dieser kurzen Ansprache leitete Helga Zepp-LaRouche, die Vorsitzende des Schiller-Instituts, am 14. November das Schillerfest 2004 in Wiesbaden ein.

Wir beschäftigen uns mit Friedrich Schiller nicht aus Gründen der Erbauung oder Unterhaltung, sondern weil Friedrich Schiller von allen deutschen Denkern und Dichtern derjenige ist, der den Menschen am meisten vermittelt hat, daß der Mensch auf der Ebene des Erhabenen denken kann.

Viele Leute zweifeln daran, daß die Menschheit sich heute in einer existentiellen Krise befindet. Aber ich glaube, die meisten unter Ihnen werden mir zustimmen: die Wiederwahl Bushs stellt eine Katastrophe für die Welt dar. Und wenn man die jüngsten Entwicklungen im Irak verfolgt, wo Schrecklichkeit herrscht, dann kann man sich schon vorstellen, daß die Menschen Furcht haben. Ähnlich ist es bei der wirtschaftlichen Lage: Arbeitslosigkeit, Ungewißheit, Furcht. Und normalerweise führt Furcht dazu, daß sich die Menschen klein fühlen.

Niemand hat darüber mehr geschrieben als Friedrich Schiller, der in seinen Schriften zum Erhabenen diese Frage behandelt hat, wie der Mensch die Furcht, die ihn zum Sklaven macht und seiner Freiheit beraubt, überwinden kann.

Das ist nicht so einfach, weil die Wege zu Schiller uns heute etwas verschüttet sind. Aber erinnern Sie sich daran, wie Schiller mit einer ähnlichen Katastrophe in seiner Zeit, nämlich der Französischen Revolution, die von seinem Standpunkt aus gescheitert war, umging. Der jakobinische Terror machte die Hoffnung zunichte, daß so etwas wie die Amerikanische Revolution in Europa wiederholt werden könnte, und als dann unter der Schreckensherrschaft die Jakobiner massenhaft die Köpfe rollen ließen, war Schiller entsetzt. Und er war auch entsetzt darüber, daß Napoleon sich zum Weltherrscher aufschwingen wollte.

Schiller hat sich dann besonders in den Briefen an den dänischen Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg - in den "Ästhetischen Briefen" - mit der Frage auseinandergesetzt, wie es passieren konnte, daß aus der Französischen Revolution eben keine Amerikanische Revolution wurde. Er faßte dies in den berühmten Satz: "Ein großer Augenblick hat ein kleines Geschlecht gefunden". Die objektive Möglichkeit der Veränderung war gegeben, aber die subjektive, moralische Möglichkeit hat gefehlt.

Schiller hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage beschäftigt, wie man diese "kleinen Leute" in große Menschen, in welthistorische Individuen verwandelt. Er hat sich dazu mit universalgeschichtlichen Fragen beschäftigt, denn nur der Mensch, der sein fliehendes Dasein an die lange Kette der Menschen der verschiedenen Generationen in der Menschheitsgeschichte knüpft, kann über seine Grenze, seine Identität als sterblicher Mensch, hinausgelangen und teilhaben an der Unsterblichkeit.

Er hat sich mit den großen historischen Dramen beschäftigt, um normale Menschen an die großen Gegenstände der Menschheit heranzuführen, damit dem einfachen Bäcker, dem einfachen Handwerker, wenn er sich mit den Königen, den Personen auf der Bühne identifiziert, die Probleme klar werden: "Was würdest du tun, wenn es von deinem Leben und deinem Einsatz abhängen würde, was mit deiner Nation geschieht, und mit der menschlichen Gesellschaft, auf Generationen hin?"

Schiller sagte, jeder Mensch trage einen idealischen Menschen in sich, und es sei die große Bestimmung seiner Existenz, den Menschen in der Zeit, in der Realität, mit diesem idealischen Menschen in Übereinstimmung zu bringen.

Das war Schillers Vision, das war die Idee der Weimarer Klassik. Man dachte damals, das Zeitalter der Vernunft wäre ganz nah; aber, wie Sie wissen, kam es dann zu einigen unschönen Entwicklungen: Der Wiener Kongreß machte die Hoffnung auf eine verfassungsmäßige Einheit Deutschlands zunichte, und mit den Karlsbader Beschlüssen wurde Schiller verboten, so daß die Studenten damals Schiller im Untergrund lesen mußten. Es war nicht die einzige Zeit, in der Schiller verboten war.

Man kann sich eigentlich sicher sein: Ein Maßstab für die moralische Qualität der deutschen Gesellschaft war immer, in welchem Ansehen Schiller stand. Im Dritten Reich hat Goebbels den Wilhelm Tell, von dem Sie heute Abend viel hören werden, verboten, weil man befürchtete, daß die Menschen darin eine Anleitung zum Tyrannenmord sehen könnten.

In der Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen Schiller und anderen großen europäischen Denkern zuwandten, traten auch Probleme auf. Mit der Besatzungszeit kam auch die Frankfurter Schule, die Schiller nicht freundlich gegenüberstand - Adorno hat ihn als Faschisten bezeichnet - , und es setzte die bildungspolitische und kulturelle Kriegsführung des Kongresses für kulturelle Freiheit ein, die sich im Nachhinein als eine CIA-Operation gegen Europa entlarvt hat, und es kam das Regietheater.

Hans Neuenfels, ein Mitbegründer des Regietheaters, verteilte 1968 Flugblätter, in denen gefordert wurde: Reißt den Trierer Dom nieder! Erschlagt die Großmutter! Seither haben sich in zahllosen Schiller-Inszenierungen die Schauspieler nackt ausgezogen, und wenn das zum 547. Mal passiert, verliert es irgendwie an Originalität. Derselbe Hans Neuenfels schreibt heute in der Welt am Sonntag, das Publikum sei schon so gewöhnt an diese Sachen, daß man eigentlich gar nichts mehr machen könne, was sie noch irgendwie aufrege.

Wir haben also ein Problem mit Schiller. In gewisser Weise müssen wir zu Schiller zurückkehren, und das geschieht am besten, indem man Schiller selber liest. Wir müssen vor allen Dingen dafür sorgen, daß sich junge Menschen wieder mit Schiller beschäftigen. Ich habe eine gute Nachricht: Unsere mit dem Schiller-Institut verbundene Jugendbewegung, besonders in Amerika, ist ganz begeistert von Schiller. Sie sagen, "das fetzt" oder "das ist cool" und führen Don Carlos auf - in englischer Sprache!

Aber auch in Deutschland und Schweden beginnen ähnliche Entwicklungen, und das nährt die Hoffnung, daß gerade die jungen Leute sich wieder mit diesen Gedanken beschäftigen, weil, wie ich schon gesagt habe, die Auseinandersetzung mit der Klassik für uns vom Schiller-Institut mehr als nur Unterhaltung oder Kulturarbeit bedeutet, die mal so nebenher am Sonntag geschieht, sondern die Wurzel unserer Identität darstellt. Sie ist das, was uns als Menschen wirklich frei macht.

Schiller hat in den beiden wunderbaren Schriften zum Erhabenen geschrieben: Wenn der Mensch nur Sinnenwesen ist, dann ist er furchtsam, weil seine physische Existenz von vielen Dingen bedroht sein kann. Aber wenn der Mensch lernt, seine Identität auf die Ebene des Erhabenen zu verlagern, dann ist er frei - nicht weil er physisch sicher ist, das ist natürlich für sterbliche Menschen nie zu erreichen - , sondern weil er moralische Sicherheit gewinnt. Darum ist Schiller besonders in einer so schweren Zeit wie der heutigen wirklich sehr, sehr wichtig.

Und deshalb fordere ich Sie von ganzem Herzen auf: Wenn Sie jetzt über Wilhelm Tell hören - das Stück handelt von Widerstand gegen die Tyrannei, und das Schiller-Institut ist in gewisser Weise auch eine Widerstandsbewegung - , und wenn Ihnen die Ideen, die wir vertreten, vertraut vorkommen, dann machen Sie bei uns mit!


Ich lebte still und harmlos ...

(Musik)

Sprecher 1: Wilhelm Tell war Schillers größter Theatererfolg, und das will etwas heißen, denn alle seine vorhergehenden Schauspiele -- mit Ausnahme der Verschwörung des Fiesco zu Genua -- waren regelrechte Siegeszüge. Seinem Freund Körner berichtet Schiller von der Uraufführung in Weimar: "Der Tell hat auf dem Theater einen größeren Effekt als meine andern Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht." Die Vorstellung begann um halb sechs, doch bereits nachmittags um drei Uhr war der Platz vor dem Theater dicht gedrängt voller Menschen. Der Applaus war überwältigend. Als dann noch im Dezember desselben Jahres die Erstausgabe des Tell bei Cotta erschien, begann der unaufhaltsame internationale Siegeszug des Schauspiels.

Dabei hatte sich zuerst Goethe mit der Legende des Tell befaßt. "Ich bin fast überzeugt, daß die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen, und es würde dabei [...] der sonderbare Fall eintreten, daß das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit gelangte", schrieb Goethe am 14. Oktober 1797 aus der Schweiz an Schiller, der in Jena zurückgeblieben war.

Doch dann war es Schiller, der die Fabel vom Freiheitskämpfer Tell in ein herrliches Schauspiel verwandelte. Wie das geschah, hat Goethe für die Nachwelt festgehalten:

Goethe: "Schiller behauptete, der Mensch müsse können, was er wolle, und nach dieser Manier verfuhr er. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Schiller stellte sich die Aufgabe, den Tell zu schreiben. Er fing damit an, alle Wände seines Zimmers mit so viel Spezialkarten der Schweiz zu bekleben, als er auftreiben konnte. Nun las er Schweizer Reisebeschreibungen, bis er mit Weg und Stegen des Schauplatzes des Schweizer Aufstandes auf das Genaueste bekannt war. Dabei studierte er die Geschichte der Schweiz; und nachdem er alles Material zusammengebracht hatte, setzte er sich über die Arbeit, und buchstäblich genommen stand er nicht eher vom Platze auf, bis der Tell fertig war. Überfiel ihn die Müdigkeit, so legte er den Kopf auf den Arm und schlief. Sobald er wieder erwachte, ließ er sich nicht, wie ihm fälschlich nachgesagt worden, Champagner, sondern starken schwarzen Kaffee bringen, um sich munter zu halten. So wurde der Tell in sechs Wochen fertig; er ist aber auch wie aus einem Guß!"

Sprecher 1: Was war es aber, das Schiller so beflügelte, den Tell zu schreiben? Er selbst liefert in einem Brief an Iffland vom 22. April 1803 ein eigenartiges Motiv: Seit 1801 hätten Gerüchte die Runde gemacht, daß er an einem solchen Stück arbeite.

Schiller: "...Wilhelm Tell, ein Sujet, wozu ich bloß dadurch veranlaßt wurde, daß die Rede ging, ich mache ein solches Stück, woran ich nie gedacht hatte. Dieses ganz grundlose Gerücht machte mich aber auf diesen Stoff zuerst aufmerksam, ich las die Quellen, ich bekam Lust, die Idee zu dem Stück entwickelte sich bei mir, und so wird also vermutlich, wie öfters schon geschehen, die Prophezeiung eben dadurch erfüllt werden, daß sie gemacht worden ist."

Sprecher 1: Sollte diese harmlose Erklärung etwa von der enormen weltpolitischen Brisanz des Stückes ablenken? Wir werden noch sehen, wie Schiller vor allem in der Rütliszene die Ideen der erfolgreichen Amerikanischen Revolution verarbeitet, an der alle europäischen Humanisten großen Anteil nahmen. Und wie er mit diesem Stück zum Widerstand gegen den Besatzer Europas, Napoleon, ermuntert. Er behandelt diese gefährliche Materie am historischen Beispiel des erfolgreichen Volksaufstands der Schweizer Eidgenossen im 13. Jahrhundert gegen den Versuch des Hauses Habsburg, die reichsunmittelbaren Schweizer Waldstätte ihren österreichischen Erblanden zuzuschlagen und damit die freien Bauern auf den Status von Leibeigenen zu erniedrigen.

Sänger: Ihr Matten lebt wohl,
        Ihr sonnigen Weiden!
        Der Senne muß scheiden,
        Der Sommer ist hin.
        Wir fahren zu Berg, wie kommen wieder,
        Wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder,
        Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
        Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai.
        Ihr Matten lebt wohl,
        Ihr sonnigen Weiden.
        Der Senne muß scheiden,
        Der Sommer ist hin.

Sprecher 2: Die erste Szene des Tell am Vierwaldstätter See beginnt mit dem idyllischen Bild der Schweizer Hirten, die mit der Natur im Einklang und im Frieden leben. Aber das Bild dient Schiller nur als Kontrast zu der unnatürlichen Gewaltherrschaft der kaiserlichen Vögte, die in den Waldstätten ein Schreckensregiment errichtet haben, um die Schweizer zur Unterwerfung unter Österreich zu zwingen.

Ihr Verhalten ist ungeheuerlich: Gleich zu Beginn des Stücks erfahren wir, daß der Burgvogt Wolfenschießen in das Haus des Bürgers Baumgarten eingedrungen ist und dessen Frau belästigt hat: "Er hab ihr anbefohlen, Ihm ein Bad zu rüsten. Drauf hab er Ungebührliches von ihr verlangt." Baumgarten hat daraufhin den Vogt erschlagen, und nun verfolgen ihn die Reisigen des Vogts. Er kann ihnen gerade noch entkommen, weil Tell ihm über den sturmgepeitschten See hinüberhilft. Aber als die Reisigen dies entdecken, rächen sie sich, indem sie die Hütten der unbeteiligten Hirten und Fischer abbrennen und ihre Herden erschlagen.

In Uri wird das Volk gezwungen, Frondienste zu leisten, um eine Burg zu errichten, von der aus der Vogt das Land beherrschen will. Auf den Vorwurf der Arbeiter, "Habt Ihr denn gar kein Eingeweid, daß Ihr den Greis, der kaum sich selber schleppen kann, Zum harten Frondienst treibt", antwortet der Fronvogt: "Sorgt ihr für euch, ich tu was meines Amts." Zwing Uri soll die Feste heißen, "denn unter dieses Joch wird man euch beugen."

Melchthal muß fliehen, weil er sich dagegen wehrte, daß der Vogt Landenberger das beste Pferdegespann seines Vaters beschlagnahmen ließ. Auch hier nimmt der Vogt furchtbare Rache an einem Unschuldigen: Er läßt Melchthals Vater beide Augen ausstechen und vertreibt ihn von seinem Besitz, so daß der blinde, alte Mann als Bettler durchs Land ziehen muß. Der gefürchtetste unter den Vögten des Kaisers ist jedoch Geßler, von dem Stauffacher sagt:

Stauffacher: Nur mit dem Geßler fürcht ich schweren Stand,
        Furchtbar ist der von Reisigen umgeben,
        Nicht ohne Blut räumt er das Feld, ja selbst
        Vertrieben bleibt er furchtbar noch dem Land,
        Schwer ist’s und fast gefährlich, ihn zu schonen.

Sprecher 2: Geßler ist überzeugt, daß er den Widerstandswillen des Volkes nur durch demonstrative Brutalität brechen kann. Als er Stauffachers schönes, neu gebautes Haus erblickt, sagt er:

Geßler: Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt,
        Und will nicht, daß der Bauer Häuser baue
        Auf seine eigne Hand, und also frei
        Hinleb, als ob er Herr wär in dem Lande,
        Ich werd mich unterstehn, euch das zu wehren!

Sprecher 2: Er ist es, der einen Hut auf einer Stange aufstellen läßt, vor dem sich das Volk verbeugen soll. Als Tell von Geßlers Wachen ergriffen wird, weil er dem Hut "nicht Reverenz erwiesen hat", befiehlt Geßler in grausamer Bosheit, daß Tell einen Apfel vom Kopfe seines eigenen Sohnes schießen muß, sonst werde er beide töten lassen. Seinem Adjutanten erklärt er, warum er dies tat:

Geßler: Sagt, was ihr wollt, ich bin des Kaisers Diener
        Und muß drauf denken, wie ich ihm gefalle.
        Er hat mich nicht in dieses Land geschickt, dem Volk
        Zu schmeicheln und ihm sanft zu tun -- Gehorsam
        Erwartet er, der Streit ist, ob der Bauer
        Soll Herr sein in dem Lande oder der Kaiser...
        Ich hab den Hut nicht aufgesteckt zu Altdorf
        Des Scherzes wegen, oder um die Herzen
        Des Volks zu prüfen, diese kenn ich längst.
        Ich hab ihn aufgesteckt, daß sie den Nacken
        Mir lernen beugen, den sie aufrecht tragen --
        Das Unbequeme hab ich hingepflanzt
        Auf ihren Weg, wo sie vorbeigehn müssen,
        Daß sie drauf stoßen mit dem Aug, und sich
        Erinnern ihres Herrn, den sie vergessen...
        Das Kaiserhaus will wachsen, was der Vater
        Glorreich begonnen, will der Sohn vollenden.
        Dies kleine Volk ist uns ein Stein im Weg --
        So oder so, es muß sich unterwerfen...
        Ein allzu milder Herrscher bin ich noch
        Gegen dies Volk -- die Zungen sind noch frei,
        Es ist noch nicht ganz, wie es soll gebändigt --
        Doch es soll anders werden, ich gelob es,
        Ich will ihn brechen diesen starren Sinn,
        Den kecken Geist der Freiheit will ich beugen.
        Ein neu Gesetz will ich in diesen Landen verkündigen."

 

Sprecher 2: Dies sagt Geßler in der hohlen Gasse, als ihn die Frau eines armen Wildheuers um Gnade für ihren Mann anfleht. Der sitzt seit sechs Monaten ohne Verfahren oder Urteil im Kerker, so daß seine Kinder hungern müssen. Es sind Geßlers letzte Worte, bevor ihn Tells Geschoß im wahrsten Sinne vom hohen Roß herunterholt.

Geßlers Tod wird zum Auslöser des Aufstands der Schweizer, der zur Vertreibung der Vögte führt. Vorbereitet wurde dieser Aufstand auf dem Rütli, wo sich Vertreter der drei Urkantone nachts versammelt haben, um sich zu beraten.

Stauffacher (tritt in den Ring): Wir stiften keinen neuen Bund, es ist
        Ein uralt Bündnis nur von Väterzeit,
        Das wir erneuern! Wisset Eidgenossen!
        Ob uns der See, ob uns die Berge scheiden,
        Und jedes Volk sich für sich selbst regiert,
        So sind wir eines Stammes doch und Bluts,
        Und eine Heimat ist's, aus der wir zogen.

(Stimme aus dem Publikum): Wir sind ein Volk,
(Stimme aus dem Publikum): und einig wollen wir handeln.

Stauffacher: Die andern Völker tragen fremdes Joch,
        Sie haben sich dem Sieger unterworfen.
        Es leben selbst in unsern Landesmarken
        Der Sassen viel, die fremde Pflichten tragen,
        Und ihre Knechtschaft erbt auf ihre Kinder.
        Doch wir, der alten Schweizer echter Stamm,
        Wir haben stets die Freiheit uns bewahrt.
        Nicht unter Fürsten bogen wir das Knie,
        Freiwillig wählten wir den Schirm der Kaiser.

(Stimme aus dem Publikum): Frei wählten wir des Reiches Schutz und Schirm,
        So steht's bemerkt in Kaiser Friedrichs Brief.

Stauffacher: Denn herrenlos ist auch der Freiste nicht.
        Ein Oberhaupt muß sein, ein höchster Richter,
        Wo man das Recht mag schöpfen in dem Streit
        Drum haben unsre Väter für den Boden,
        Den sie der alten Wildnis abgewonnen,
        Die Ehr gegönnt dem Kaiser, der den Herrn
        Sich nennt der deutschen und der welschen Erde,
        Und wie die andern Freien seines Reichs
        Sich ihm zu edelm Waffendienst gelobt,
        Denn dieses ist der Freien einz'ge Pflicht,
        Das Reich zu schirmen, das sie selbst beschirmt.

(Stimme aus dem Publikum): Was drüber ist, ist Merkmal eines Knechts.

Stauffacher: Sie folgten, wenn der Heribann erging,
        Dem Reichspanier und schlugen seine Schlachten.
        Nach Welschland zogen sie gewappnet mit,
        Die Römerkron ihm auf das Haupt zu setzen.
        Daheim regierten sie sich fröhlich selbst
        Nach altem Brauch und eigenem Gesetz,
        Der höchste Blutbann war allein des Kaisers.
        Und dazu ward bestellt ein großer Graf,
        Der hatte seinen Sitz nicht in dem Lande,
        Wenn Blutschuld kam, so rief man ihn herein,
        Und unter offnem Himmel, schlicht und klar,
        Sprach er das Recht und ohne Furcht der Menschen.
        Wo sind hier Spuren, daß wir Knechte sind?
        Ist einer, der es anders weiß, der rede!

(Stimme aus dem Publikum): Nein, so verhält sich alles wie Ihr sprecht,
        Gewaltherrschaft ward nie bei uns geduldet.

Stauffacher: ...Sollen wir
        Des neuen Joches Schändlichkeit erdulden,
        Erleiden von dem fremden Knecht, was uns
        In seiner Macht kein Kaiser durfte bieten?
        - Wir haben diesen Boden uns erschaffen
        Durch unsrer Hände Fleiß, den alten Wald,
        Der sonst der Bären wilde Wohnung war,
        Zu einem Sitz für Menschen umgewandelt,...
        Die Nebeldecke haben wir zerrissen,
        Die ewig grau um diese Wildnis hing,
        Den harten Fels gesprengt, über den Abgrund
        Dem Wandersmann den sichern Steg geleitet,
        Unser ist durch tausendjährigen Besitz
        Der Boden - und der fremde Herrenknecht
        Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden,
        Und Schmach antun auf unsrer eignen Erde?
        Ist keine Hülfe gegen solchen Drang?

(Eine große Bewegung unter den Landleuten.)

        Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
        Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
        Wenn unerträglich wird die Last - greift er
        Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
        Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
        Die droben hangen unveräußerlich
        Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst -
        Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
        Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht -
        Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
        Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -
        Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen
        Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land,
        Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!

Sprecher 1: Schiller hat sich in dieser Szene von der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika inspirieren lassen, mit der sich die Gründer dieser Republik kaum dreißig Jahre zuvor vom britischen Königreich losgesagt hatten. Darin heißt es:

»Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wann immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint. Gewiß gebietet die Klugheit, daß von alters her bestehende Regierungen nicht aus geringfügigen und vorübergehenden Anlässen geändert werden sollten; und demgemäß hat jede Erfahrung gezeigt, daß die Menschen eher geneigt sind zu dulden, solange Mißstände noch erträglich sind, als sich unter Beseitigung altgewohnter Formen Recht zu verschaffen. Aber wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen, die stets das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht erkennen läßt, sie absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und neue Bürgen für ihre künftige Sicherheit zu bestellen...

Daher tun wir, die Vertreter der Vereinigten Staaten unter Anrufung des obersten Richters über diese Welt als Zeugen für die Ehrlichkeit unserer Absichten namens und im Auftrag aller rechtschaffenen Menschen dieser Kolonien feierlich kund, daß diese Vereinigten Kolonien freie und unabhängige Staaten sind und es von Rechts wegen sein müssen; daß sie von jeglicher Treuepflicht gegen die britische Krone entbunden sind, und daß jegliche politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staate Großbritannien vollständig gelöst ist, und es sein soll; und daß sie als freie und unabhängige Staaten Vollmacht haben, Kriege zu führen, Frieden zu schließen, Bündnisse einzugehen, Handel zu treiben und alle anderen Akte und Dinge zu tun, welche unabhängige Staaten von Rechts wegen tun können. Und zur Unterstützung dieser Erklärung verpflichten wir uns gegenseitig feierlich in festem Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vorsehung zum Einsatz unseres Lebens, unseres Gutes und der uns heiligen Ehre.«

(Musik)

Sprecher 1: Schiller hat es mit seinem Wilhelm Tell verstanden, den Menschen in einer äußerst bedrängten politischen Lage beizustehen: Die Freiheit Europas war dabei, Napoleons Gewaltherrschaft zum Opfer zu fallen. Wenige Monate vor der Uraufführung des Tell hatte der Reichsdeputationshauptschluß die deutsche Landkarte gründlich umgestaltet: Die mit Napoleon verbündeten Fürsten der Rheinbundstaaten teilten fast alle kleineren, bis dahin eigenständigen Gebiete, einschließlich fast aller freien Reichstädte, untereinander auf.

Das althergebrachte Recht wurden durch ein neues, wie man heute sagen würde, "positives" Recht, den Code Civil, ersetzt, das vom Kaiser dekretiert wurde. Darin werden zwar persönliche Freiheit und Rechtsgleichheit garantiert -- aber in der Realität standen diese Garantien nur auf dem Papier. Es herrschte Pressezensur, und Gegner Napoleons wurden verfolgt und ins Exil vertrieben. Sein Polizeichef Fouché schuf einen Spitzelapparat, der seinen Nachfolgern von Metternich bis Mielke als Vorbild diente und immer noch dient.

Es war absehbar, daß Napoleon es dabei nicht belassen würde. Der frühere General der französischen Republik, der noch 1795 einen royalistischen Aufstand niedergeschlagen hatte, unterstützte 1797 Barras beim Putsch gegen die Republik. Zwei Jahre später übernahm Napoleon selbst die Macht in Frankreich. 1804 krönte er sich, in Anlehnung an römische Vorbilder, selbst zum Kaiser.

1802 hatte Napoleon Italien "neu geordnet", 1803 Deutschland. Schon bald nach Schillers Tod, im Oktober 1805, warf Napoleon in der Schlacht von Austerlitz zunächst Österreich, dann, 1806 in Jena und Auerstedt, Preußen nieder. Im August 1806 verzichtete Kaiser Franz auf die deutsche Kaiserkrone, die einst ein Symbol für die Herrschaft des Rechts jenseits der Macht der Landesfürsten gewesen war. Das Deutsche Reich war nicht mehr.

Viele werden in dieser Lage über Napoleon gedacht haben, was wir im Tell aus dem Munde des Ulrich von Rudenz hören:

Rudenz: Vergebens widerstreben wir dem König,
        Die Welt gehört ihm, wollen wir allein
        Uns eigensinnig steifen und verstocken,
        Die Länderkette ihm zu unterbrechen,
        Die er gewaltig rings um uns gezogen?
        Sein sind die Märkte, die Gerichte, sein
        Die Kaufmannsstraßen, und das Saumroß selbst,
        Das auf dem Gotthard ziehet, muß ihm zollen.
        Von seinen Ländern wie mit einem Netz
        Sind wir umgarnet rings und eingeschlossen.

Sprecher 1: Schiller kannte seine "Pappenheimer"; er wußte, was den Menschen fehlte und wo er sie packen mußte. "[Ich] arbeite an dem Wilhelm Tell, womit ich den Leuten den Kopf wieder warm zu machen denke. Sie sind auf solche Volksgegenstände ganz verteufelt erpicht, und jetzt besonders ist von der schweizerischen Freiheit desto mehr die Rede, weil sie aus der Welt verschwunden ist", schrieb er am 27. Oktober 1803 an Wilhelm von Wolzogen. Dieser spielte übrigens später als militärischer Berater des Zaren eine entscheidende Rolle dabei, Napoleon zu stürzen, indem er vorschlug, Napoleons riesige Armee nach Moskau zu locken, sie dort auszuhungern und dem russischen Winter auszuliefern. Napoleons Globalisierungskrieg kostete nicht nur dem größten Teil seiner 600,000 Soldaten das Leben -- nur 5000 von ihnen kehrten aus Rußland zurück --, sondern auch zahllosen anderen Menschen in allen Teilen Europas.

Der Haß auf die Besatzer, der Ruf nach Freiheit war allgemein in Europa; an Schillers Freiheitsdrama sollte er sich entzünden. Der Tell erweckte Begeisterung für die Idee der Freiheit, entfachte den Mut zur Selbstbehauptung und zum aktiven, befreienden Einsatz gegen die gegenwärtigen wie künftigen Tyrannen. In den Befreiungskriegen trugen die Soldaten den Tell auf dem Herzen, wenn sie in die Schlacht zogen, und 1813 rezitierten sie vor der Völkerschlacht bei Leipzig den Rütli-Schwur.

Rösselmann: Bei diesem Licht, das uns zuerst begrüßt
        Von allen Völkern, die tief unter uns
        Schweratmend wohnen in dem Qualm der Städte,
        Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören.
        - Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
        In keiner Not uns trennen und Gefahr.
        - Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
        Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
        - Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
        Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Sprecher 1: Das Stück barg also politischen Sprengstoff und stieß deshalb von Anfang an auf Schwierigkeiten. Nur in Weimar wurde es unzensiert auf die Bühne gebracht. Man hatte Angst vor seiner Wirkung auf die Volksmassen, die "im hohen Schwung der Dichtung dargestellten Menschenrechte" könnten den "Pöbel an eine mißverstandene Freiheit mahnen", der Jubel des Schweizervolkes "über das Ende der monarchistischen Regierung" würde zu "einem tumultuarischen Aufjauchzen" reizen, lauteten die Bedenken, die z.B. der Berliner Theaterdirektor Iffland Schiller gegenüber äußerte.

Immer wieder wurde der Tell zensiert oder ganz verboten. Als z.B. belgische und französische Truppen 1923 das Rheinland besetzten, war ihre erste Amtshandlung, das Stück zu verbieten. Noch am Vorabend der Besetzung war es im Essener Theater unter begeisterten Kundgebungen der Zuschauermenge aufgeführt worden, nun wurde das Theater geschlossen und französische Soldaten bezogen davor Stellung. Auch Hitler ließ den Tell verbieten, ab 1941 durfte er im Theater nicht mehr gespielt und in den Schulen nicht mehr behandelt werden. Der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg meint treffend, wir hätten allen Grund, den Wilhelm Tell hochzuhalten, "weil er noch immer zuerst verboten wird, wenn irgendwo die Freiheit eines Volkes unterdrückt werden soll, und man zuerst ihn wieder spielt, wenn die Befreiung gelungen ist".

(Musik)

Sprecher 1: Schillers Tell inspirierte andere zum Widerstand. 1940 schrieb der dänische Pfarrer und Schriftsteller Kaj Munk das Drama Niels Ebbesen, das im Untergrund verteilt wurde. Niels Ebbesen ist der dänische Wilhelm Tell und spielt im Jahre 1340. Es ist ein Stück, das zum Widerstand gegen die Nazibesatzer ermuntert. Vielleicht hat dieser dänische Wilhelm Tell dazu beigetragen, daß der dänische Widerstand im Oktober 1943 die von der Nazidiktator befohlene Judendeportation fast vollständig vereiteln konnte. Dänische Widerstandsleute halfen rund 7000 Juden mit Booten über den Öresund nach Schweden, so wie der Tell den verfolgten Baumgarten rettet. Kaj Munk wurde 1944 von der SS erschossen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kaj Munks Stück Niels Ebbesen am 17. Mai 1945 zur Feier der Befreiung im Königlichen Theater von Kopenhagen aufgeführt.
Gertrud Ebbesen, die Frau des Titelhelden, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Gertrud Stauffacher bei Schiller. Denn auch wenn es ausschließlich Männer sind, die sich auf dem Rütli versammeln, so spielen doch in Schillers Tell die Frauen eine wichtige, inspirierende Rolle bei diesem Aufstand. Sehen Sie nun den berühmten Dialog zwischen Gertrud und Werner Stauffacher.

Gertrud: So ernst, mein Freund? Ich kenne dich nicht mehr.
        Schon viele Tage seh ich's schweigend an,
        Wie finstrer Trübsinn deine Stirne furcht.
        Auf deinem Herzen drückt ein still Gebresten,
        Vertrau es mir, ich bin dein treues Weib,
        Und meine Hälfte fordr ich deines Grams.

(Stauffacher reicht ihr die Hand und schweigt.)

        Was kann dein Herz beklemmen, sag es mir.
        Gesegnet ist dein Fleiß, dein Glücksstand blüht,
        Voll sind die Scheunen, und der Rinder Scharen,
        Der glatten Pferde wohlgenährte Zucht
        Ist von den Bergen glücklich heimgebracht
        Zur Winterung in den bequemen Ställen.
        - Da steht dein Haus, reich, wie ein Edelsitz
        von schönem Stammholz ist es neu gezimmert
        Und nach dem Richtmaß ordentlich gefügt
        Von vielen Fenstern glänzt es wohnlich, hell.

Stauffacher: Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt,
        Doch ach - es wankt der Grund, auf den wir bauten.

Gertrud: Mein Werner sage, wie verstehst du das?

Stauffacher: Vor dieser Linde saß ich jüngst wie heut,
        Das schön Vollbrachte freudig überdenkend,
        Da kam daher von Küssnacht, seiner Burg,
        Der Vogt mit seinen Reisigen geritten.
        Vor diesem Hause hielt er wundernd an,
        Doch ich erhub mich schnell, und unterwürfig
        Wie sich's gebührt, trat ich dem Herrn entgegen,
        Der uns des Kaisers richterliche Macht
        Vorstellt im Lande. »Wessen ist dies Haus?«
        Fragt' er bösmeinend, denn er wußt es wohl.
        Doch schnell besonnen ich entgegn ihm so:
        Dies Haus, Herr Vogt, ist meines Herrn des Kaisers,
        Und Eures und mein Lehen - da versetzt er:
        »Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt,
        Und will nicht, daß der Bauer Häuser baue
        Auf seine eigne Hand, und also frei
        Hinleb, als ob er Herr wär in dem Lande,
        Ich werd mich unterstehn, euch das zu wehren.«
        Dies sagend ritt er trutziglich von dannen,
        Ich aber blieb mit kummervoller Seele,
        Das Wort bedenkend, das der Böse sprach.

Gertrud: Mein lieber Herr und Ehewirt! Magst du
        Ein redlich Wort von deinem Weib vernehmen?...

        So höre denn und acht auf meine Rede,
        Denn was dich preßte, sieh das wußt ich längst.
        - Dir grollt der Landvogt, möcht gern dir schaden,
        Denn du bist ihm ein Hindernis, daß sich
        Der Schwyzer nicht dem neuen Fürstenhaus
        Will unterwerfen, sondern treu und fest
        Beim Reich beharren, wie die würdigen
        Altvordern es gehalten und getan. -
        Ist's nicht so Werner? Sag es, wenn ich lüge!

Stauffacher: So ist's, das ist des Geßlers Groll auf mich.

Gertrud: Er ist dir neidisch, weil du glücklich wohnst,
        Ein freier Mann auf deinem eignen Erb
        - Denn er hat keins. Vom Kaiser selbst und Reich
        Trägst du dies Haus zu Lehn, du darfst es zeigen,
        So gut der Reichsfürst seine Länder zeigt,
        Denn über dir erkennst du keinen Herrn
        Als nur den Höchsten in der Christenheit -
        Er ist ein jüngrer Sohn nur seines Hauses,
        Nichts nennt er sein als seinen Rittermantel,
        Drum sieht er jedes Biedermannes Glück
        Mit scheelen Augen gift'ger Mißgunst an,
        Dir hat er längst den Untergang geschworen -
        Noch stehst du unversehrt - Willst du erwarten,
        Bis er die böse Lust an die gebüßt?
        Der kluge Mann baut vor.

Stauffacher: Was ist zu tun?

Gertrud (tritt näher):So höre meinen Rat! Du weißt, wie hier
        Zu Schwyz sich alle Redlichen beklagen
        Ob dieses Landvogts Geiz und Wüterei.
        So zweifle nicht, daß sie dort drüben auch
        In Unterwalden und im Urner Land
        Des Dranges müd sind und des harten Jochs -
        Denn wie der Geßler hier, so schafft es frech
        Der Landenberger drüben überm See -
        Es kommt kein Fischerkahn zu uns herüber,
        Der nicht ein neues Unheil und Gewalt-
        Beginnen von den Vögten uns verkündet.
        Drum tät es gut, daß eurer etliche,
        Die's redlich meinen, still zu Rate gingen,
        Wie man des Drucks sich möcht erledigen.
        So acht ich wohl, Gott würd euch nicht verlassen,
        Und der gerechten Sache gnädig sein -
        Hast du in Uri keinen Gastfreund, sprich,
        Dem du dein Herz magst redlich offenbaren?

Stauffacher: Der wackern Männer kenn ich viele dort,
        Und angesehen große Herrenleute,
        Die mir geheim sind und gar wohl vertraut.  (Er steht auf.)
        Frau, welchen Sturm gefährlicher Gedanken
        Weckst du mir in der stillen Brust! Mein Innerstes
        Kehrst du ans Licht des Tages mir entgegen,
        Und was ich mir zu denken still verbot,
        Du sprichst's mit leichter Zunge kecklich aus.
        - Hast du auch wohl bedacht, was du mir rätst?
        Die wilde Zwietracht und den Klang der Waffen
        Rufst du in dieses friedgewohnte Tal -
        Wir wagten es, ein schwaches Volk der Hirten,
        In Kampf zu gehen mit dem Herrn der Welt?
        Der gute Schein nur ist's, worauf sie warten,
        Um loszulassen auf dies arme Land
        Die wilden Horden ihrer Kriegesmacht,
        Darin zu schalten mit des Siegers Rechten,
        Und unterm Schein gerechter Züchtigung
        Die alten Freiheitsbriefe zu vertilgen.

Gertrud: Ihr seid auch Männer, wisset eure Axt
        zu führen, und dem Mutigen hilft Gott!

Stauffacher: O Weib! Ein furchtbar wütend Schrecknis ist
        Der Krieg, die Herde schlägt er und den Hirten.

Gertrud: Ertragen muß man, was der Himmel sendet,
        Unbilliges erträgt kein edles Herz.

Stauffacher: Dies Haus erfreut dich, das wir neu erbauten.
        Der Krieg, der ungeheure, brennt es nieder.

Gertrud: Wüßt ich mein Herz an zeitlich Gut gefesselt,
        Den Brand wärf ich hinein mit eigner Hand.

Stauffacher: Du glaubst an Menschlichkeit! Es schont der Krieg
        Auch nicht das zarte Kindlein in der Wiege.

Gertrud: Die Unschuld hat im Himmel einen Freund!
        - Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich.

Stauffacher: Wir Männer können tapfer fechtend sterben,
        Welch Schicksal aber wird das eure sein?

Gertrud: Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten offen,
        Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei.

Stauffacher (stürzt in ihre Arme):
        Wer solch ein Herz an seinen Busen drückt,
        Der kann für Herd und Hof mit Freuden fechten.
        Und keines Königs Heermacht fürchtet er -
        Nach Uri fahr ich stehnden Fußes gleich,
        Dort lebt ein Gastfreund mir, Herr Walther Fürst,
        Der über diese Zeiten denkt wie ich.
        Auch find ich dort den edlen Bannerherrn
        Von Attinghaus - obgleich von hohem Stamm
        Liebt er das Volk und ehrt die alten Sitten.
        Mit ihnen beiden pfleg ich Rats, wie man
        Der Landesfeinde mutig sich erwehrt -
        Leb wohl - und weil ich fern bin, führe du
        Mit klugem Sinn das Regiment des Hauses.

--- Pause ---

Sänger:

Mit dem Pfeil, dem Bogen,
Durch Gebirg und Tal,
Kommt der Schütz gezogen
Früh am Morgenstrahl.

Wie im Reich der Lüfte
König ist der Weih --
Durch Gebirg und Klüfte
Herrscht der Schütze frei

Ihm gehört das Weite,
Was sein Pfeil erreicht,
Das ist seine Beute,
Was da kreucht und fleucht.

Sprecher 1: Die Figur des mythischen Jägers, der von einem boshaften Herrscher gezwungen wird, auf sein eigenes Kind zu schießen, stammt ursprünglich aus Nordeuropa: In Island heißt diese Figur Egill, in Dänemark Toko, in Schottland William Cloudesly. Erst um 1470, im "Weißen Buch von Sarnen", verbindet sich die Tell-Sage entgültig mit der Geschichte des Aufstands gegen die Habsburger. Schiller kannte sie durch Tschudis "Chronicon Helveticum" und Johannes von Müllers "Geschichten der schweizerischen Eidgenossenschaft".

Aber erst durch Schillers Schauspiel wurde die Figur des Freiheitskämpfers Tell ein Teil der Schweizer Geschichte. Es war dem Dichter gelungen, "das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit" zu führen. Zum 100. Geburtstag des Dichters am 10. November 1859 erhielt das Schweizer Volk das Rütli zum Geschenk; seither ist die Wiese Nationaleigentum und allen Schweizern ein heiliger Ort.

Der Mythenstein, eine hochaufragende Felsformation am Eingang zum Urner See, wurde ein Jahr später zum Schillerdenkmal umgestaltet und mit einem großen Fest, das sich auf den gesamten See ausdehnte, eingeweiht. Gottfried Keller, der als großer Schiller-Verehrer bei dem Fest dabei war, kommentierte: Damit haben die drei Kantone der Urschweiz "den Unsterblichen förmlich zu ihrem Landsmann gemacht".

In Altdorf enthüllte man 1895 ein Tell-Denkmal von Richard Kissling, das rasch zum Wahrzeichen der ganzen Landschaft wurde. Es zeigt Tell mit der Armbrust über der Schulter und dem Sohn Walter an seiner Seite, wie sie es auf unserem Plakat gesehen haben.

Sprecher 2: Aber wir haben ja von Tell selbst noch gar nichts gesehen!Schon im Namen spiegelt sich einiges vom schillernden Charakter des Helden: Einerseits klingt im Namen des Meisterschützen Tell das lateinische Wort "Telos", Geschoß, an. Schnell entschlossen ist er, und gradlinig ist er wie sein Pfeil.

Aber auch der Till, der Narr, ist ihm verwandt: Tell ist rasch entschlossen, und nicht immer "klug" -- jedenfalls nicht in dem Sinne, daß er die Wahrheit verschweigen würde, wo es andre täten. Es entspricht ganz seinem Charakter, daß er dem Geßler, auf die Frage, warum er denn vor dem Schuß auf den Apfel einen zweiten Pfeil zu sich gesteckt habe, antwortet:

Tell:   Wohlan, o Herr,
        Weil ihr mich meines Lebens habt gesichert,
        So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen:
        Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich -- Euch ,
        Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
        Und Eurer -- wahrlich! hätt ich nicht gefehlt!

Sprecher 2: Geßler läßt ihn daraufhin verhaften, und will ihn »führen lassen und verwahren, Wo weder Mond noch Sonne dich bescheint, Damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen.«

Tell ist kein Mann der langen Überlegungen. "Wer gar zuviel bedenkt, wird wenig leisten", entgegnet er seiner Ehefrau Hedwig, und als Geßler ihn zur Rede stellt, weil er es versäumt hat, den Hut zu grüßen, entschuldigt er sich: "Wär ich besonnen, hieß ich nicht der Tell." Dem Stauffacher, der ihn einlädt, an der Tagung auf dem Rütli teilzunehmen, antwortet er:

Tell:   Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund,
        Und sollte seinen Freunden sich entziehn?
        Doch, was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat,
        Ich kann nicht lange prüfen oder wählen.
        Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat,
        Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.

Sprecher 2: Tell ist im Grunde kein Revolutionär, und seine Entschlußkraft gründet vor allem in absoluter Redlichkeit. Wenn er etwas als moralisch richtig erkennt, dann gibt es für ihn keinen Grund zu zögern.

Das zeigt sich gleich in der ersten Szene des Stücks. Baumgarten ist auf der Flucht vor den Reisigen des Landvogts und muß über den Vierwaldstädter See. Aber der Fischer verweigert ihm die Überfahrt: "Geht nicht. Ein schweres Ungewitter ist im Anzug. Ihr müßt warten... Der Föhn ist los, ihr seht wie hoch der See geht, Ich kann nicht steuern gegen Sturm und Wellen." Tell weißt ihn zurecht: "Wo’s not tut, Fährmann, läßt sich alles wagen... Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt... Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen." Tell steuert das Boot durch den Sturm und rettet Baumgarten vor seinen Verfolgern. "Wo’s not tut", wagt Tell viel, und er erweist sich nicht nur als Meisterschiffer, sondern auch als Meisterschütze, als er, um das Leben seines Sohnes und sein eigenes Leben zu retten, den Apfel vom Kopf seines eigenen Kindes schießt.

Aber dieses Erlebnis verändert Tell. Es konfrontiert ihn mit der Tatsache, daß er sich irrte, als er sagte: "Ein jeder lebe still bei sich daheim, Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden... Die Schlange sticht nicht ungereizt, Sie werden endlich doch von selbst ermüden, Wenn sie die Lande ruhig bleiben sehen." Er kann sich zwar -- wiederum durch ein kühnes Wagestück -- aus der Gefangenschaft des Landvogts befreien, doch hat dieser ihn in eine Lage gebracht, die ihn zu einem fürchterlichen Entschluß nötigt. Hören wir Tells Monolog:

Tell:   Durch diese hohle Gasse muß er kommen,
        Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht - Hier
        Vollend ich's - Die Gelegenheit ist günstig.
        Dort der Holunderstrauch verbirgt mich ihm,
        Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen,
        Des Weges Enge wehret den Verfolgern.
        Mach deine Rechnung mit dem Himmel Vogt,
        Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen.

        Ich lebte still und harmlos - Das Geschoss
        War auf des Waldes Tiere nur gerichtet,
        Meine Gedanken waren rein von Mord -
        Du hast aus meinem Frieden mich heraus
        Geschreckt, in gärend Drachengift hast du
        Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt,
        Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt -
        Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte,
        Der kann auch treffen in das Herz des Feinds.

        Die armen Kindlein, die unschuldigen,
        Das treue Weib muß ich vor deiner Wut
        Beschützen, Landvogt - Da, als ich den Bogenstrang
        Anzog - als mir die Hand erzitterte -
        Als du mit grausam teufelischer Lust
        Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzulegen -
        Als ich ohnmächtig flehend rang vor dir,
        Damals gelobt ich mir in meinem Innern
        Mit furchtbarm Eidschwur, den nur Gott gehört,
        Daß meines nächsten Schusses erstes Ziel
        Dein Herz sein sollte - Was ich mir gelobt
        In jenes Augenblickes Höllenqualen,
        Ist eine heil'ge Schuld, ich will sie zahlen.

        Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt,
        Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt
        Was du - Er sandte dich in diese Lande,
        Um Recht zu sprechen - strenges, denn er zürnet -
        Doch nicht um mit der mörderischen Lust
        Dich jedes Greuels straflos zu erfrechen,
        Es lebt ein Gott zu strafen und zu rächen.

        Komm du hervor, du Bringer bittrer Schmerzen,
        Mein teures Kleinod jetzt, mein höchster Schatz -
        Ein Ziel will ich dir geben, das bis jetzt
        Der frommen Bitte undurchdringlich war -
        Doch dir soll es nicht widerstehn - Und du
        Vertraute Bogensehne, die so oft
        Mir treu gedient hat in der Freude Spielen,
        Verlaß mich nicht im fürchterlichen Ernst.
        Nur jetzt noch halte fest du treuer Strang,
        Der mir so oft den herben Pfeil beflügelt -
        Entränn er jetzo kraftlos meinen Händen,
        Ich habe keinen zweiten zu versenden.

        Auf dieser Bank von Stein will ich mich setzen,
        Dem Wanderer zur kurzen Ruh bereitet -
        Denn hier ist keine Heimat - Jeder treibt
        Sich an dem andern rasch und fremd vorüber,
        Und fraget nicht nach seinem Schmerz - Hier geht
        Der sorgenvolle Kaufmann und der leicht
        Geschürzte Pilger - der andächt'ge Mönch,
        Der düstre Räuber und der heitre Spielmann,
        Der Säumer mit dem schwer beladnen Roß,
        Der ferne herkommt von der Menschen Ländern,
        Denn jede Straße führt ans End der Welt.
        Sie alle ziehen ihres Weges fort
        An ihr Geschäft - und meines ist der Mord!

        (Setzt sich.)

        Sonst wenn der Vater auszog, liebe Kinder,
        Da war ein Freuen, wenn er wiederkam,
        Denn niemals kehrt' er heim, er bracht euch etwas,
        War's eine schöne Alpenblume, war's
        Ein seltner Vogel oder Ammonshorn,
        Wie es der Wandrer findet auf den Bergen -
        Jetzt geht er einem andern Weidwerk nach,
        Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken.
        Des Feindes Leben ist's, worauf er lauert.
        - Und doch an euch nur denkt er, lieben Kinder,
        Auch jetzt - Euch zu verteid'gen, eure holde Unschuld
        Zu schützen vor der Rache des Tyrannen
        Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen!

        (Steht auf.)

        Ich laure auf ein edles Wild - Läßt sich's
        Der Jäger nicht verdrießen, tagelang
        Umherzustreifen in des Winters Strenge,
        Von Fels zu Fels den Wagesprung zu tun,
        Hinanzuklimmen an den glatten Wänden,
        Wo er sich anleimt mit dem eignen Blut,
        - Um ein armselig Grattier zu erjagen.
        Hier gilt es einen köstlicheren Preis,
        Das Herz des Todfeinds, der mich will verderben.

        (Man hört von ferne eine heitre Musik, welche sich nähert.)

        Mein ganzes Leben lang hab' ich den Bogen
        Gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel,
        Ich habe oft geschossen in das Schwarze,
        Und manchen schönen Preis mir heimgebracht
        Vom Freudenschießen - Aber heute will ich
        Den Meisterschuß tun und das Beste mir
        Im ganzen Umkreis des Gebirgs gewinnen.

Musik

Sprecher 2: Entgegen einem verbreiteten Mißverständnis ist das Wesentliche am Tell nicht der Tyrannenmord. Es geht Tell auch nicht darum, sich auf eigne Faust Recht zu verschaffen. Er ist kein Terrorist und auch kein Räuber Moor, der aus wütender Verzweiflung und verlorener Ehre tötet. Tell handelt schlicht aus Notwehr, denn er weiß, wenn er selbst außer Landes flöhe, würde sich der Landvogt an seiner Familie rächen -- so wie am alten Melchthal. Tell hat keine Wahl: Er muß Geßler töten, um sein Weib und seine Kinder zu schützen.

Und nachdem er es getan hat, legt er, der von sich sagte, "Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt", seine Waffe ab. Seinem Sohn erklärt er: "Du wirst sie nie mehr sehn. An heilger Stätte ist sie aufbewahrt, Sie wird hinfort zu keiner Jagd mehr dienen." In der letzten Szene stellt Schiller dem Tell Herzog Johann von Schwaben gegenüber, der seinen Vormund und Onkel, Kaiser Albrecht, ermordet hat, um an sein Erbe zu kommen.

Mönch tritt näher: Seid Ihr der Tell, durch den der Landvogt fiel?

Tell:   Der bin ich, ich verberg' es keinem Menschen.

Mönch: Ihr seid der Tell! Ach es ist Gottes Hand,
        Die unter Euer Dach mich hat geführt.

Tell mißt ihn mit den Augen: Ihr seid kein Mönch! Wer seid Ihr?

Mönch: Ihr erschlugt
        Den Landvogt, der Euch Böses tat - Auch ich
        Hab' einen Feind erschlagen, der mir Recht
        Versagte - Er war Euer Feind wie meiner -
        Ich hab' das Land von ihm befreit.

Tell zurückfahrend:         Ihr seid -
        Entsetzen! ...

        Unglücklicher! -- Ihr seid der Herzog
        Von Österreich - Ihr seid's! Ihr habt den Kaiser
        Erschlagen, Euern Ohm und Herrn.

Johannes Parricida: Er war
        Der Räuber meines Erbes.

Tell:   Euren Ohm
        Erschlagen, Euern Kaiser! Und Euch trägt
        Die Erde noch! Euch leuchtet noch die Sonne!

Parricida: Tell hört mich, eh Ihr -

Tell:   Von dem Blute triefend
        Des Vatermordes und des Kaisermords,
        Wagst du zu treten in mein reines Haus,
        Du wagst's, dein Antlitz einem guten Menschen
        Zu zeigen und das Gastrecht zu begehren?

Parricida: Bei Euch hofft' ich Barmherzigkeit zu finden,
        Auch Ihr nahmt Rach' an Euerm Feind.

Tell:   Unglücklicher!
        Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen
        Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?
        Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?
        Des Herdes Heiligtum beschützt? das Schrecklichste,
        Das Letzte von den Deinen abgewehrt?
        Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände,
        Verfluche dich und deine Tat - Gerächt
        Hab ich die heilige Natur, die du
        Geschändet - Nichts teil' ich mit dir - Gemordet
        Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt.

Sprecher 1: Schiller kannte nicht nur die Schrecken der Willkürherrschaft von oben, sondern auch die der Willkürherrschaft von unten. In der französischen Revolution wurden die Ideale der amerikanischen Revolution mit Füßen getreten und die Verbündeten der amerikanischen Republik reihenweise guillotiniert. In seinem Lied von der Glocke verurteilt Schiller den Jakobinerterror und überhaupt die blinde Zerstörungswut der Anarchie. Es ist zugleich eine ernste Warnung an die Herrschenden, welches Unheil sie heraufbeschwören, wenn sie den Menschen ihre Rechte nehmen und ihnen Unerträgliches aufbürden.

Der Meister kann die Form zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit,
Doch wehe, wenn in Flammenbächen
Das glühnde Erz sich selbst befreit!
Blindwütend mit des Donners Krachen
Zersprengt es das geborstne Haus,
Und wie aus offnem Höllenrachen
Speit es Verderben zündend aus;
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten,
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.
Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhilfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocken Strängen
Der Aufruhr, daß sie heulend schallt
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.
Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,
Der ruhge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden ziehn umher,
Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz,
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.
Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
Sich alle Bande frommer Scheu,
Der Gute räumt den Platz dem Bösen,
Und alle Laster walten frei.
Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.
Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt und Länder ein.

 

Sprecher 1: Schiller wußte: Ein Volksaufstand kann nur dann erfolgreich sein, wenn er dazu dient, die Herrschaft des Rechts und der Gerechtigkeit zu errichten. Freiheit ist keine andere Form der Tyrannei. Freiheit heißt, Verhältnisse zu schaffen und zu erhalten, die den Menschen als vernunftbegabtes, selbstverantwortliches Wesen respektieren und fördern. Das erlegt den Führern eines solchen Volksaufstandes eine große Verantwortung auf. Ein solcher verantwortungsbewußter Anführer ist Stauffacher, der seine Landleute vor blinder Wut und anarchischen Rachegefühlen warnt:

Stauffacher: Sprecht nicht von Rache. Nicht Geschehnes rächen,
        Gedrohtem Übel wollen wir begegnen...

        Jetzt gehe jeder seines Weges still
        Zu seiner Freundschaft und Genoßsame,
        Wer Hirt ist, wintre ruhig seine Herde,
        Und werb’ im stillen Freunde für den Bund,
        -- Was noch bis dahin muß erduldet werden,
        Erduldet’s! Laßt die Rechnung der Tyrannen
        Anwachsen, bis ein Tag die allgemeine
        Und die besondre Schuld auf einmal zahlt.
        Bezähme jeder die gerechte Wut,
        Und spare für das Ganze seine Rache,
        Denn Raub begeht am allgemeinen Gut,
        Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.

Sprecher 2: Und als die Festungen der Tyrannen geschleift, die Erhebung erfolgreich beendet ist, stellt Walter Fürst erleichtert fest: "Wohl Euch, daß Ihr den reinen Sieg mit Blute nicht geschändet!"

(Musik)

Sprecher 1: Nein, wir haben heute keinen Bedarf an selbsternannten Tyrannenmördern. Schon deshalb nicht, weil das Unrecht selten oder nie von einer einzelnen oder wenigen mächtigen Personen ausgeht, sondern vom vorherrschenden Denken, vom Zeitgeist, der diese Rechtsbrüche entweder gutheißt, oder zumindest hinnimmt.

Sprecher 2: Dann muß offensichtlich dieser Zeitgeist verändert werden, und auch dies geschieht im Tell -- auf der Bühne, und, wenn es eine gute Aufführung ist, auch im Publikum.

Das beste Beispiel dafür im Tell ist eine Figur, die neben Tell, Stauffacher, Melchthal und Geßler meist übersehen wird: Ulrich von Rudenz, der Neffen des alten Landammanns Attinghausen. Er hat sich den Mächtigen angeschlossen und deren Denkweise übernommen. Seinem Onkel, der ihn mahnt, das einfache Volk nicht zu verachten, antwortet er:

Rudenz: Das Land ist schwer bedrängt -- Warum mein Oheim?
        Wer ist’s, der es gestürzt in diese Not?
        Es kostete ein einzig leichtes Wort,
        Um augenblicks des Dranges los zu sein,
        Und einen gnäd’gen Kaiser zu gewinnen.
        Weh ihnen, die dem Volk die Augen halten,
        Das es dem wahren Besten widerstrebt.
        Um eignen Vorteils willen hindern sie,
        Daß die Waldstätte nicht zu Östreich schwören,
        Wie ringsum alle Lande doch getan.
        Wohl tut es ihnen, auf der Herrenbank
        Zu sitzen mit dem Edelmann -- den Kaiser
        Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben...

        Welche Person ist’s, Oheim, die Ihr selbst
        Hier spielt? Habt ihr nicht höhern Stolz, als hier
        Landammann oder Bannerherr zu sein
        Und neben diesen Hirten zu regieren?
        Wie? Ist’s nicht eine rühmlichere Wahl,
        Zu huldigen dem königlichen Herrn,
        Sich an ein glänzend Lager anzuschließen,
        Als Eurer eignen Knechte Pair zu sein,
        und zu Gericht zu sitzen mit dem Bauer?...

        Ja, ich verberg es nicht -- in tiefer Seele
        Schmerzt mich der Spott der Fremdlinge, die uns
        Den Baurenadel schelten -- Nicht ertrag ich’s
        Indes die edle Jugend ringsumher
        Sich Ehre sammelt unter Habsburgs Fahnen,
        Auf meinem Erb hier müßig stillzuliegen,
        Und bei gemeinem Tagewerk den Lenz
        Des Lebens zu verlieren. -- Anderswo
        Geschehen Taten, eine Welt des Ruhms
        Bewegt sich jenseits dieser Berge...
        Nichts als den Kuhreihn und der Herdeglocken
        Einförmiges Geläut vernehm ich hier...

Sprecher 2: Tatsächlich geht es Ulrich jedoch viel weniger um Ruhm und Ehre, als darum, seine geliebte Berta zu gewinnen, und sie ist es, die ihm die Augen öffnet. Als er ihr bei einem Jagdausflug seine Liebe erklärt, weist sie ihn zurecht:

Berta:  Dürft Ihr von Liebe reden und von Treue,
        Der treulos wird an seinen nächsten Pflichten?
        Der Sklave Österreichs, der sich dem Fremdling
        Verkauft, dem Unterdrücker seines Volks?...

Rudenz: O Gott, was muß ich hören!

Berta:                          Was liegt
        Dem guten Menschen näher als die Seinen?
        Gibt’s schönre Pflichten für ein edles Herz,
        Als ein Verteidiger der Unschuld sein,
        Das Recht des Unterdrückten zu beschirmen?
        -- Die Seele blutet mir um Euer Volk,
        Ich leide mit ihm, denn ich muß es lieben,
        Das so bescheiden ist und doch voll Kraft,
        Es zieht mein ganzes Herz mich zu ihm hin,
        Mit jedem Tage lern ich’s mehr verehren.
        Ihr aber, den Natur und Ritterspflicht
        Ihm zum geborenen Beschützer gaben,
        Und der’s verläßt, der treulos übertritt
        Zum Feind, und Ketten schmiedet seinem Land,
        Ihr seid’s der mich verletzt und kränkt, ich muß
        Mein Herz bezwingen, daß ich Euch nicht hasse...

Rudenz:                                       Berta, Berta!

Berta:  Nein, nein, das Edle ist nicht ganz erstickt
        In Euch! Es schlummert nur, ich will es wecken,
        Ihr müßt Gewalt ausüben an Euch selbst,
        Die angestammte Tugend zu ertöten,
        Doch wohl Euch, sie ist mächtiger als Ihr,
        Und trotz Euch selber seid Ihr gut und edel!...

Rudenz: Wie kann ich Euch erringen, Euch besitzen,
        Wenn ich der Macht des Kaisers widerstrebe?

Berta:  Hofft nicht durch Östreichs Gunst mich zu erringen,
        Nach meinem Erbe strecken sie die Hand,
        Die will man mit dem großen Erb vereinen.
        Dieselbe Ländergier, die Eure Freiheit
        Verschlingen will, sie drohet auch der meinen!
        O Freund, zum Opfer bin ich ausersehn,
        Vielleicht um einen Günstling zu belohnen --
        Dort wo die Falschheit und die Ränke wohnen,
        Hin an den Kaiserhof will man mich ziehn,
        Dort harren mein verhaßter Ehe Ketten,
        Die Liebe nur -- die Eure -- kann mich retten!

Sprecher 2: Rudenz wächst durch Bertas Vorbild, und entscheidet sich, gegen das Unrecht der Vögte aufzutreten. Das zeigt sich in der Apfelschußszene: Als Geßler Tell befiehlt, auf sein eigenes Kind zu zielen, ist Ulrich von Rudenz der einzige, der es wagt, einzuschreiten. Rudenz fällt Geßler ins Wort:

Rudenz:                         Ich will reden,
        Ich darf’s, des Königs Ehre ist mir heilig,
        Doch solches Regiment muß Haß erwerben.
        Das ist des Königs Wille nicht -- Ich darf’s
        Behaupten -- Solche Grausamkeit verdient
        Mein Volk nicht, dazu habt Ihr keine Vollmacht!...

        Ich habe stillgeschwiegen
        Zu allen schweren Taten, die ich sah,
        Mein sehend Auge hab ich zugeschlossen,
        Mein überschwellend und empörtes Herz
        Hab ich hinabgedrückt in meinen Busen,
        Doch länger schweigen wär Verrat zugleich
        An meinem Vaterland und an dem Kaiser...

        Mein Volk verließ ich, meinen Blutsverwandten
        Entsagt ich, alle Bande der Natur
        Zerriß ich, um an Euch mich anzuschließen --
        Das Beste aller glaubt ich zu befördern,
        Da ich des Kaisers Macht befestigte --
        Die Binde fällt von meinen Augen -- Schaudernd
        Seh ich an einen Abgrund mich geführt --
        Mein freies Urteil habt ihr irrgeleitet,
        Mein redlich Herz verführt -- Ich war daran,
        Mein Volk in bester Meinung zu verderben...

Sprecher 2: Dieses Umdenken gerade des "Establishments" ist ein entscheidender Faktor bei jeder großen gesellschaftlichen Umwälzung. An der Bahre seines toten Oheims Attinghausen verbündet sich Rudenz mit den Bürgern und tritt an die Spitze ihres Aufstands, um Berta zu befreien, die Geßler als Geisel gefangen hält.

Im Verlauf des Aufstands macht Rudenz nach der äußeren Wende, die ihn seine Liebe zu Berta vollziehen heißt, auch eine innere Wende durch: Er überwindet seine Vorurteile gegenüber den Bauern, die er als Kampfgenossen respektieren lernt. Melchthal, der ihm half, Berta aus der brennenden Burg des Vogts zu retten, berichtet:

Melchthal: Rudenz und ich,
        Wir trugen sie selbander aus den Flammen,
        Und hinter uns fiel krachend das Gebälk.
        -- Und jetzt, als sie gerettet sich erkannte,
        Die Augen aufschlug zu dem Himmelslicht,
        Jetzt stürzte mir der Freiherr an das Herz,
        Und schweigend ward ein Bündnis jetzt beschworen,
        Das fest gehärtet in des Feuers Glut
        Bestehen wird in allen Schicksalsproben.

Sprecher 2: Der Aufstand der Schweizer findet früher statt, als es auf dem Rütli geplant wurde, ausgelöst durch zwei Personen, die nicht zu den Rütli-Verschwörern gehören und beide keine eigentlich politischen, sondern eher private -- wenn auch ehrbare -- Motive haben: Tell will seine Familie retten, Rudenz seine Berta.

Das stellt Schiller mit Sicherheit mit Absicht so dar. Schon in seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande, die er 16 Jahre zuvor veröffentlicht hatte, beschrieb Schiller am Beispiel der Niederländer, wie der einfache Bürger unter dem Druck der Ereignisse über sich hinaus wachsen kann:

Schiller: Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit... Es ist nicht das Außerordentliche oder Heroische dieser Begebenheit, was mich anreizt, sie zu beschreiben... Auch erwarte man hier keine hervorragende kolossalische Menschen, keine der erstaunenswürdigen Taten, die uns die Geschichte vergangener Zeiten in so reichlicher Fülle darbietet...

Das Volk, welches wir hier auftreten sehen, war das friedfertigste dieses Weltteils, und weniger als alle seine Nachbarn jenes Heldengeistes fähig, der auch der geringfügigsten Handlung einen höhern Schwung gibt. Der Drang der Umstände überraschte es mit seiner eigenen Kraft, und nötigte ihm eine vorübergehende Größe auf, die es nie haben sollte, und vielleicht nie wieder haben wird. Es ist also gerade der Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigentümlich macht, und wenn sich andere zum Zweck setzen, die Überlegenheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemälde auf, wo die Not das Genie erschuf, und die Zufälle Helden machten.

Sprecher 1: Als Schiller diese Zeilen schrieb, hoffte er noch, daß sich die Völker Europas nach dem Vorbild der amerikanischen Revolution von ihren Fürsten befreien und Republiken gründen würden. Als er sich dann 1803 entschloß, den Wilhelm Tell zu schreiben, drohte die Mißgeburt der fehlgeschlagenen französischen Revolution Europa zu verschlingen. Schiller wußte, daß er den Bürgern ein Beispiel vor Augen setzen mußte, wie ein Volk von einfachen Bauern und Bürgern seine Rechte gegen einen ungerechten Kaiser verteidigt hatte, um sie zum Widerstand gegen Napoleon zu ermutigen.

 

Sprecher 2: Tell -- und mit ihm natürlich Schiller -- behält recht: "Die schnellen Herrscher sind’s, die kurz regieren." Der letzte der kaiserlichen Vögte flieht aus dem Land, nachdem er Urfehde geschworen hat, nie zurückzukehren; die Burgen der Vögte werden geschleift. Auch wenn es anschließend zum Krieg kommt, können die Schweizer ihre Freiheit verteidigen. "Der Männerstolz vor Königsthronen" hat gesiegt; die Schweizer sind mündig geworden und brauchen keinen Adel mehr, der sie bevormundet. Dies sieht der sterbende Attinghausen:

Attinghausen: Hat sich der Landmann solcher Tat verwogen,
        Aus eignem Mittel, ohne Hülf der Edeln,
        Hat er der eignen Kraft so viel vertraut -
        Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr,
        Getröstet können wir zu Grabe steigen,
        Es lebt nach uns -- durch andre Kräfte will
        Das Herrliche der Menschheit sich erhalten...

        Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
        Und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Sprecher 2: Zum Schluß des Stücks versammeln sich die Schweizer vor Tells Hütte, um ihren Sieg zu feiern. Unter ihnen befinden sich auch Berta und Ulrich, und was Attinghausen prophezeiht hatte, wird Wirklichkeit: "Der Adel steigt aus seinen alten Burgen, Und schwört den Städten seinen Bürgereid.":

 

Berta:  Landleute! Eidgenossen! Nehmt mich auf
        In euern Bund, die erste Glückliche,
        Die Schutz gefunden in der Freiheit Land.
        In eure tapfre Hand leg ich mein Recht,
        Wollt ihr als eure Bürgerin mich schützen?

Landleute: Das wollen wir mit Gut und Blut.

Berta:  Wohlan!
        So reich ich diesem Jüngling meine Rechte,
        Die freie Schweizerin dem freien Mann!

Rudenz: Und frei erklär ich alle meine Knechte.

An die Freude

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder - überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja - wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer's nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund.

Was den großen Ring bewohnet,
Huldige der Sympathie!
Zu den Sternen leitet sie,
Wo der Unbekannte thronet.

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.

Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such' ihn überm Sternenzelt!
Über Sternen muß er wohnen.

Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.

Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmel prächt'gen Plan,
Wandelt, Brüder, eure Bahn,
Freudig, wie ein Held zu Siegen.

Aus der Wahrheit Feuerspiegel
Lächelt sie den Forscher an.
Zu der Tugend steilem Hügel
Leitet sie des Dulders Bahn.
Auf des Glaubens Sonnenberge
Sieht man ihre Fahnen wehn,
Durch den Riß gesprengter Särge
Sie im Chor der Engel stehn.

Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die beßre Welt!
Droben überm Sternenzelt
Wird ein großer Gott belohnen.

Göttern kann man nicht vergelten;
Schön ist's, ihnen gleich zu sein.
Gram und Armut soll sich melden,
Mit den Frohen sich erfreun.
Groll und Rache sei vergessen,
Unserm Todfeind sei verziehn.
Keine Träne soll ihn pressen,
Keine Reue nage ihn

Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder - überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.

Freude sprudelt in Pokalen,
In der Traube goldnem Blut
Trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut - -
Brüder, fliegt von euren Sitzen,
Wenn der volle Römer kreist,
Laßt den Schaum zum Himmel spritzen:
Dieses Glas dem guten Geist!

Den der Sterne Wirbel loben,
Den des Seraphs Hymne preist,
Dieses Glas dem guten Geist
Überm Sternenzelt dort oben!

Festen Mut in schwerem Leiden,
Hilfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen, -
Brüder, gält' es Gut und Blut -
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut!

Schließt den heil'gen Zirkel dichter,
Schwört bei diesem goldnen Wein,
Dem Gelübde treu zu sein,
Schwört es bei dem Sternenrichter!

 

(c) Copyright Alexander Hartmann
Dichterpflänzchen, c/o Lutz Schauerhammer,
Rüdesheimerstr. 28, 65197 Wiesbaden


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