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  10 Jahre Dichterpflänzchen

Quadflieg und die neue Schillerzeit

Unsere Erinnerung an Will Quadflieg ist untrennbar verbunden mit einem denkwürdigen Schiller-Symposium vor 23 Jahren in Mannheim, das nicht ohne Folgen blieb.


"Sprechen ist eine wunderbare Angelegenheit"
Die Begeisterung blieb

Unsere Begegnung mit Will Quadflieg fällt in die frühen 80er Jahre. Es gab noch kein Schiller-Institut, aber wir begeisterten uns für Friedrich Schiller. Leider konnte man Schiller damals nur lesen, nicht hören. Hörbücher gab es noch nicht, und wenn man Glück hatte, bekam man ein paar alte Schallplatten mit Sprechern wie - Will Quadflieg.

Wer ins Theater ging, um dort klassische Stücke auf der Bühne zu erleben, setzte sich fast immer ungeahnten Schrecknissen aus. Denn in den meisten öffentlichen Theatern regierte die Achternbusch-Parole: "Ich will das Theater morden, darum mach' ich mörderisches Theater!" Die Klassiker wurden reihenweise geschlachtet, ganz besonders Schiller. Die Räuber wurden als Klamauk inszeniert, Wilhelm Tell erschien als kleinbürgerlicher Terrorist und Geßler als tragisches Opfer, Maria Stuart stand am Ende der berühmten Gartenszene mit Elisabeth völlig nackt da, usw. Die Mannheimer Schiller-Tage machten da keine Ausnahme: In Hansgünther Heymes Inszenierung aus dem Jahre 1980 trat Don Carlos im Federkleid auf, ein Adler, der nicht fliegen konnte.

Dagegen wollten wir etwas unternehmen, das eine kulturelle Wende in Deutschland herbeiführen sollte: ein Schiller-Symposium - und zwar am Tatort, in Mannheim, veranstaltet von unserer Privaten Akademie für humanistische Studien e.V. Ermuntert wurden wir bei diesem Unternehmen von dem ehemaligen Kulturredakteur der Rhein-Neckar-Zeitung Edwin Kuntz, der aussah wie der alte Goethe und Rosa Tennenbaum und mich bei unseren Besuchen schon am hellen Vormittag mit trockenem Weißwein bewirtete. Er kannte die Mannheimer Kulturszene wie seine Westentasche und half uns, wo er konnte. Das zweitägige Symposium sollte im Reiß-Museum stattfinden. Und an beiden Abenden sollten wirkliche Könner Schiller rezitieren.

Ich rief Will Quadflieg an, schilderte ihm unser Vorhaben und fragte ihn, ob er zu dem Symposium einen Schiller-Abend beitragen könnte. Die Idee gefiel ihm gleich, doch dann nannte er seine Honorarwünsche. Ungeübt in derlei Unterhandlungen entfuhr mir ein verzweifeltes "Was, so viel?" Aber Herr Quadflieg tröstete mich: "Aber Sie nehmen doch Eintritt?" - "Ja." - "Na, dann klappt das doch." Und er behielt recht, sein Rezitationsabend im Stamitzsaal des "Rosengarten" war restlos ausverkauft. Ich zitiere aus der Neuen Solidarität vom 4.12.1980:

    "Der Saal, der normalerweise 450 Personen faßt, war bald überfüllt bis auf den letzten Platz. Viele Leute mußten sich am Ende mit einem Stehplatz begnügen. Aber es lohnte sich. Will Quadflieg begann mit einer Reihe lyrischer Gedichte - Stille im Publikum. Nach dem Neunten Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen der erste Applaus. Dann Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Und von da an hatte Quadflieg das Publikum im Griff seiner Kunst. Meisterhaft verstand er es, die Gemüter mit einigen lustigen Gedichten - 'scherzi' würde man in der Musik sagen - wie etwa Pegasus im Joche aufzulockern, aufnahmefähig zu machen für Schwieriges. Beeindruckend war Quadfliegs dramatischer Vortrag des Verschleierten Bildes zu Sais. Und als er den Abend mit der Ode an die Freude endete, hatte er das Publikum tatsächlich emporgehoben zu jener Gemütsverfassung der Freude, die darin besungen wird. Begeisterungsstürme belohnten den Künstler, der sich freute wie sein Publikum."

Das ganze Symposium war ein Riesenerfolg. Am anderen Abend rezitierte Peter Otten, in seiner Art nicht weniger beeindruckend als Quadflieg. Und tagsüber debattierten namhafte Germanisten wie Benno von Wiese, Wolfgang Wittkowski, Norbert Oellers mit Helga Zepp-LaRouche u.a. Rednern unserer Akademie über die Untaten des Regietheaters und die Aktualität der Schillerschen Ideen. Benno von Wiese sagte in der Podiumsdiskussion, er halte den heute so beliebten Satz: "Kann Schiller noch vor unserer Zeit bestehen?" für eine Fehlthese. "Die Frage muß wirklich umgekehrt lauten: Können wir noch vor Schiller bestehen?"

"Sprechen ist eine wunderbare Angelegenheit"

Im Jahr nach dem Schiller-Symposium gab Quadflieg der Zeitschrift Ibykus ein Interview. Außer einem geschulten Talent brauche der Schauspieler "die Gabe der Einfühlung": Er muß fähig sein, einen Dichter richtig zu lesen und zu verstehen, und er muß über eine ziemliche Bandbreite eigener menschlicher Fähigkeiten, emotional wie spirituell in sich, in seiner eigenen Brust verfügen, so daß er aus einem gewissen Reservoir innewohnender Menschenkenntnis schöpfen kann." Alles Menschliche, Positives wie Negatives, Kleines wie Großes, müsse ihm vertraut sein.

Er selbst habe nie eine Schauspielschule besucht, seine "Ausbildung ging entschieden über die Rezitation, über das Gedicht. Ich habe sehr früh angefangen zu begreifen, daß Sprache von Sprechen kommt, daß Sprache also ein mündliches Phänomen ist, daß erst im gesprochenen Wort die Sprache klar, schön und kraftvoll ihr Geheimnis offenbart. Dies hängt sehr intensiv mit dem Atem, dem ausströmenden Atem zusammen - Sprechen ist nicht zuletzt Ausatmen." Zur Schulung der Sprache des Menschen gehöre, "daß er die Vokale in ihrem eigentlichen Klang klar unterscheiden kann, Konsonanten sauber sprechen lernt". Vor allem aber die Schulung des Atems befähigt dazu, "im großen Raum flüsternd verständlich zu sein und bei großen Ausbrüchen nicht heiser zu werden. Diese Ausbildung entspricht in etwa der des Sängers. Der freiströmende Ton ist es, der an den Schauspielschulen am meisten vergessen wird ... Es gibt manche, die mit dem törichten Argument kommen, man würde vielleicht unnatürlich werden, wenn man 'auf dem Atem' sprechen kann ... 'Auf dem Atem' sein heißt eigentlich: frei sein in der Fähigkeit, Gedichte, Texte, Rollen richtig souverän zu sprechen." Wer das nicht könne, dürfe diesen Mangel nicht auch noch als "Gestaltungsabsicht" verkaufen. "Das ist einfach Mogelei."

    "Es wäre sicherlich nötig, daß man diese Talsohle, dieses Ausbildungstief überwindet, daß man wieder begreift, daß Sprechen eine große und wunderbare Angelegenheit ist" und "daß die Sprache der Sprache nicht ersetzbar ist durch die Sprache der Bilder. Jedenfalls nicht bei großen Sprachkunstwerken, wie sie Schiller geschrieben hat oder Goethe, meinetwegen im Faust. Diese herunterzunuscheln oder herunterzutelefonieren ergibt keine größere Wahrheit, das erfüllt nicht den musikalischen inneren Rhythmus der Sprache... Wer nicht in sich selber einmal begreift, daß Sprache ein rhythmisch musikalisches Phänomen jenseits der Alltagssprache ist, wer das nicht einmal in irgendeiner Ecke in sich gefühlt hat, mit dem kann man eigentlich gar nicht darüber sprechen."

Das Regietheater sah Quadflieg auch als Reaktion auf "dieses ganz alte, tote Aufsagetheater, an das wir geraten waren, seit ein großer Schwund an Persönlichkeiten unübersehbar in Erscheinung trat ... Dieses vollkommen leere Heruntererzählen der Texte, indem man Werte aufsagte, ohne sich in irgendeiner Weise damit zu identifizieren, ohne sie kreativ aus sich heraus neu zu finden und zu gebären" mußte einmal weg. "Nun aber müßte man versuchen, eine Symbiose zwischen dieser neuen Vorstellung vom Theater und der alten, großen Form zu finden. Das ist sehr schwer ... Es gibt einfach zu wenig Leute, die wirklich fleißig sind. Es gibt viele Regisseure, die setzen sich einfach mit den Schauspielern hin und fangen an, auf der Bühne herumzuprobieren. Was sie sich mit den enormen Subventionen ja monatelang leisten können. Ob das Publikum etwas davon hält, ist für sie eine eher sekundäre Angelegenheit. Man kann die Häuser auf diese Weise auch leerspielen. Ich finde es eigentlich wunderbar, das bei ganz verrückten und idiotischen Dingen das Publikum einfach wegbleibt."

Und die Frage nach gutem und schlechten Theater beantwortet er so: "Gut ist einfach für mich, wenn ich Schauspieler und ein Stück auf der Bühne sehe, die mich interessieren... Im Theater ist alles sichtbar, vor einem altem Profi kann man nichts verbergen und verstecken. Der Vorhang geht auf und alles wird schnell klar... Ich gehe ins Theater, kaufe mir eine Karte, sitze drin und bin dankbar wie ein kleines Kind. Schlechtes Theater ist, wenn es mich langweilt. Dies ist vor allem der Fall, wenn ich nicht mehr erkennen kann, was es soll, wenn ich den Text nicht verstehe, wenn ich keine Schauspieler sehe, die mich interessieren, wenn eben keine Persönlichkeiten auf der Bühne stehen, die auch nur im bescheidensten Sinne etwas von dem entwickeln, was ich letztlich unter Schauspielkunst verstehe."

Die Begeisterung blieb

Ende November ist Will Quadflieg 89jährig gestorben. Bei dem Mannheimer Symposium sprach der alte Professor Benno von Wiese, schon damals sehr alt und schwerkrank, über Schillers Wort "Der Tod kann kein Übel sein, weil er etwas Allgemeines ist". Schiller, der sein Leben lang mit Krankheit zu kämpfen hatte, habe die endliche Seite des Lebens überwunden, weil er sich auf das konzentrierte, was den Menschen unsterblich macht.

Während der Podiumsdiskussion erklärte Benno von Wiese, warum Schiller überhaupt nicht "museal" sei: "Lesen Sie die Texte, versuchen Sie die Texte wieder zu verstehen. Vielleicht versuchen Sie wirklich einmal, einen Durchschnitt moderner Lyrik mit dem zu vergleichen, was Herr Otten und Herr Quadflieg vorgetragen haben. Und da saßen ungezählte junge Menschen, die jede Minute ganz aufmerksam zugehört haben und Beifallsstürme, wie ich sie noch erlebt und gesehen habe, bei beiden Rezitatoren entfesselten. Das heißt, die Texte sind ernst zu nehmen."

Unter diesen "jungen Menschen" waren wir. Die Begeisterung von damals trägt bis heute. Damals kauften wir uns den Kleinen Hey, ein Lehrbuch über die Kunst des Sprechens, gründeten eine Theatergruppe und spielten Schillers Kabale und Liebe - ungekürzt, viereinhalb Stunden. Andere gründeten ebenfalls Theatergruppen und spielten Fiesco und Wilhelm Tell. 1984 gründeten wir das Schiller-Institut, und erst viel später, vor zehn Jahren, den Poesiekreis im Schiller-Institut, die "Dichterpflänzchen". Die Anfänge aber liegen bei jenem Schiller-Symposium, das auch allgemein eine Wende brachte. Mehr und mehr Schauspieler interessierten sich wieder für Gedichte, es gab wieder Rezitationsabende, sogar in Theatern, dann kamen die Hörbücher auf (natürlich sind nicht alle gut). Und letzten Monat hielt der Bundespräsident eine "Schiller-Rede". Will Quadflieg hat zu alledem das Seine beigetragen.

Gabriele Liebig

 


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