Projekt Renaissance

Heinrich Heine - Feind aller Philister


Heines politischer Instinkt
Heine und die Völkerverständigung

Von Helga Zepp-LaRouche

"Nach einem Nationalsiege und einer Befreiung vom fremden Joch hätte man einen ungeheuren Aufschwung erwarten sollen, doch eher das Gegenteil fand statt.. bey uns herrschte damals die blödeste Verdrossenheit, Mißmuth, Abgespanntheit in allen Erscheinungen des öffentlichen und Privatlebens", so beschrieb Heinrich Heine die Zeit nach dem Wiener Kongreß. "Die deutschen Wolken waren noch grauer geworden, die Nachtigallen verstummten, dagegen bellten die Hunde weit lauter - die Eichen rauschten sehr kleinmüthig, die Rosen sahen aus, als hätten sie den Schnupfen, alles Leben schien auf immer versumpft - überall Stagnation, Lethargie und Gähnen."

Es war die persönliche Tragik des beunruhigenden und großen, wenn auch bewußt antiklassischen Dichters, daß er gerade in diesen Jahren dabei war, erwachsen zu werden, als Deutschland um den wohlverdienten Sieg in den Freiheitskriegen gegen Napoleon betrogen worden war. Immerhin waren Freiherr vom Stein und Wilhelm von Humboldt, die zu den besten Staatsmännern Deutschlands gehörten, als deutsche Unterhändler nach Wien gefahren mit der Zuversicht, daß als Lohn für den gewonnenen Krieg Deutschland als nationaler Verfassungsstaat vereint werden könne.

In der Tat ist Deutschland niemals näher an die Verwirklichung der Idee gekommen, auf deutschem Boden die Ideale der Amerikanischen Revolution, also eines am Gemeinwohl orientierten Nationalstaates, zu verwirklichen. Und nie war ein größerer Teil der deutschen Bevölkerung beflügelt von den Ideen der Weimarer Klassik und der Preußischen Reformer, von einem höheren kulturellen Niveau.

Aber die europäische Oligarchie sah gerade in diesem humanistischen Menschenbild die größte Bedrohung, denn wenn sich z.B. gerade Wilhelm von Humboldt mit seinem universellen Erziehungskonzept in einem Verfassungsstaat hätte durchsetzen können, wäre dies ein und für alle Mal das Ende dieser Oligarchie gewesen. Der Wiener Kongreß war in diesem Zusammenhang dann nichts weiter als eine gigantische Intrige, die Metternich mit Hilfe von Castlereagh, Talleyrand, Zar Alexander I. und den Fürsten mit riesigem Aufwand inszenierte, um den deutschen Nationalstaat gar nicht erst zum Thema werden zu lassen und stattdessen die Ordnung der Restauration zu errichten.

Umso größer war die einsetzende Demoralisierung in der Bevölkerung, als statt des erhofften Nationalstaates die staatenbündische Ordnung mit ihren 41 Mitgliedern erhalten blieb und sogar die preußischen Reformen wieder rückgängig gemacht und der alte Ständestaat wieder eingeführt wurde. In der nun einsetzenden sogenannten Biedermeierzeit versuchten die Menschen der äußeren Unfreiheit durch eine neue Innerlichkeit zu entkommen, den Rückzug ins gemütliche Heim mit geklöppelten Deckchen auf dem Tischchen und adretten Gardinen an den Fenstern, die Schutz vor der rauhen Außenwelt und vor Metternichs Polizeispitzeln bieten sollten.

Der deutsche Michel als unpolitischer Spießbürger, die Mütze tief über Ohren und Augen gezogen, der sich im Privatleben eine vermeintliche Idylle im Kleinen aufbaut: gegen diese historische Periode der Restauration und die erstickende oligarchische Kontrolle schrieb Heine an, und im Paradigma dieser Zeit liegen die Wurzeln für einen ganz typischen Charakterzug der Deutschen.

Und da wir es heute in Deutschland gewissermaßen mit einer Neobiedermeier-Periode zu tun haben, liegt hierin der vielleicht zwingendste Grund, sich anläßlich seines 150. Todestages erneut mit Heine und seinem kompromißlosen Spott gegen das Philistertum seiner Zeit zu beschäftigen. Denn wer wollte leugnen, daß die "blöde Verdrossenheit" noch heute als die Grundstimmung in unserem Land erscheint, die ihren Ausdruck in der ständig wiederholten impotenten Aussage findet: "Man kann ja doch nichts machen!" Gewöhnlich zieht sich unser Neobiedermeier-Zeitgenosse nach einer solch profunden Erkenntnis dann in seinen Lifestyle-Schrebergarten oder seine "Schöner-Wohnen"-Wohnung zurück, oder er fliegt mal eben auf die Seychellen, um dort eine vernünftige Schweinshaxe mit Sauerkraut zu essen.

Heine formulierte die Enttäuschung über den nun während der Restauration herrschenden Geist in dem Gedichtfragment Deutschland aus, das entweder nach 1815 oder 1819 in Bonn entstanden ist, das aber erst 1822 in der Berliner Zeitschrift Der Zuschauer veröffentlicht wurde, allerdings ohne die Strophen sechs bis neun. Die Strophen sechs bis acht waren von Heine selbst im Manuskript durchgestrichen, die neunte fiel der Zensur zum Opfer.

Deutschland
Ein Fragment

Sohn der Torheit! träume immer,
Wenn dir's Herz im Busen schwillt;
Doch im Leben suche nimmer
Deines Traumes Ebenbild.

Einst stand ich in schönern Tagen
Auf dem höchsten Berg am Rhein;
Deutschlands Gauen vor mir lagen,
Blühend hell im Sonnenschein.

Unten murmelten die Wogen
Wilde Zaubermelodein;
Süsse Ahndungsschauer zogen
Schmeichelnd in mein Herz hinein.

Lausch ich jetzt im Sang der Wogen,
Klingt viel andre Melodei:
Schöner Traum ist längst verflogen,
Schöner Wahn brach längst entzwei.

Schau ich jetzt von meinem Berge
In das deutsche Land hinab:
Seh ich nur ein Land der Zwerge
Kriechend auf der Riesen Grab.

Such ich jetzt den goldnen Frieden,
Den das deutsche Blut ersiegt,
Seh ich nur die Kette schmieden,
Die den deutschen Nacken biegt.

Narren hör ich jene schelten,
Die dem Feind in wilder Schlacht
Kühn die Brust entgegenstellten,
Opfernd selbst sich dargebracht.

O der Schande! Jene darben,
Die das Vaterland befreit;
Ihrer Wunden heilge Narben
Deckt ein grobes Bettlerkleid!

Muttersöhnchen gehn in Seide
Nennen sich des Volkes Kern,
Schurken tragen Ehrgeschmeide,
Söldner brüsten sich als Herrn.

usw.

Als Heine nach kaufmännischen Praktika bei einer Bank und einer Kolonialwarenhandlung sowie einer Lehre bei einer weiteren Bank ab 1819 in Bonn ein von seinem reichen Bankiersonkel Salomon finanziertes Studium begann, bekam er persönlich die massive Repression nach den Karlsbader Beschlüssen zu spüren. Im März hatte das Attentat des dubiosen Studenten Karl Sand auf den Schriftsteller August von Kotzebue Metternich den Vorwand geliefert, mit Polizeistaatsmaßnahmen gegen alle freiheitlich gesonnenen Kräfte vorzugehen; im November wurde Heine selber von einem Universitätsrichter vernommen. Gegen Ernst Moritz Arndt, bei dem Heine Geschichte studierte und der im Freiheitskampf gegen Napoleon großen Ruhm errungen hatte, wurden Hausdurchsuchung, Bücherkonfiszierung und ein 20jähriges Lehrverbot erlassen.

Es spricht für Heine, der zunächst vom Ungeist der sich ausbreitenden politischen Romantik beeinflußt wurde - immerhin hatte er mehrere Vorlesungen bei August Wilhelm Schlegel belegte und verdankte diesem auch das Handwerkszeug in der Metrik - , daß er sich sehr bald von der rückwärtsgerichteten Schwärmerei für das Mittelalter und die nordischen Mythologien distanzierte. Schon in Bonn begann er seinen Standpunkt sowohl gegen die Romantik als auch die historische Rechtsschule Savignys zu festigen. In dieser Zeit verfaßte er auch u.a. das Gedicht Belsazar, ein hervorragendes Beispiel für Heines poetische Kraft.

Weniger bekannt ist das Bühnenstück Almansor, das Heine ebenfalls in seiner Bonner Zeit erarbeitete, das aber aus einem anderen Grund hochinteressant ist. Es spielt nämlich im bislang maurisch beherrschten Granada im Jahre 1492 nach der Rückeroberung durch Ferdinand und Isabella. Heine hatte dafür in der Bonner Universitätsbibliothek umfangreiche historische Forschungen betrieben und Quellen zur Vertreibung der Mauren und Juden und die Rolle der Inquisition unter der Führung des brutalen Torquemada und des Kardinal Ximenes studiert. Er preist in dem Stück die überlegene Kultur der Moslems und beschreibt die Rückeroberung als die Zerstörung dieser Kultur. Für Heine bedeutete dieses Thema offensichtlich auch eine historische Aufarbeitung der Situation der Juden und des weit verbreiteten Antisemitismus seiner Zeit; so schreibt er in einem Brief an Friedrich Steinmann: "In diesem Stück habe ich mein ganzes Selbst hineingeworfen, mit samt meinen Paradoxen, meiner Weisheit, meiner Liebe, meinem Hasse und meiner ganzen Verrücktheit."

Es ist unsicher, ob Heine die Schrift Briefe an einen russischen Adligen von Joseph de Maistre kannte, die dieser führende Staatstheoretiker der Restauration 1815 in St. Petersburg verfaßt hatte. In dieser Abhandlung verteidigt de Maistre nicht nur die angeblich gottgegebenen Privilegien der Monarchen und des Adels, sondern gerade auch die Inquisition in Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts, sowie Folter, Feuerstrafe und Schreckensherrschaft. Seine Beschreibung, wie die Mauren und die Juden die "spanische Pflanze" fast zum "Erdorren" gebracht hätten und wie maurisches und jüdisches Blut selbst die höchsten Adelskreise Spaniens verunreinigt habe, lieferte schon die ganze Argumentation, die später im 20. Jahrhundert von den Nationalsozialisten gegen die Juden und für das arische Reinheitsgebot angeführt wurde. Ob Heine de Maistres Schrift nun kannte oder nicht, der Satz aus Almansor angesichts der Bücherverbrennung durch die Inquisition "Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen" beweist leider eine geradezu prophetische Weitsicht Heines.

Heines Abneigung gegen die Oligarchen wurde bestärkt, als er in Göttingen weiterstudieren wollte, wo er jedoch nach kurzer Zeit wegen eines Duells hinausgeworfen wurde. Er erlebte hier an der Universität noch einmal all den Mief der politischen Lage: Bornierte und dummdreiste Junker und deutschtümelnde Landsmannschaften vergifteten die Atmosphäre. Lediglich die Bekanntschaft mit dem Geschichtsprofessor Georg Sartorius, einem kompromißlosen Gegner der Restauration, stellte für ihn eine wirkliche Bereicherung dar und bestärkte ihn in seiner Ablehnung von Romantik, Chauvinismus und Adel.

Von 1821-23 studierte Heine dann in Berlin, u.a. bei Hegel und Savigny. Über den ersteren befand er: "Hegel mußte die Knechtschaft, das Bestehende als vernünftig rechtfertigen", und traf damit in Bezug auf dessen absurde Theorie vom Weltgeist, der sich jeweils erst am Ende einer Epoche zu erkennen gebe, den Nagel auf den Kopf. Denn letztlich lieferte Hegel damit nur die theoretische Begründung für die Restauration, denn wenn seine Zeitgeisttheorie richtig wäre, spielten weder das welthistorische Individuum noch die Ideen eine Rolle in der Geschichte. Savigny leugnete die Rechtsgleichheit der Bürger und verteidigte die ständischen Privilegien und das römische Recht.

Heine charakterisierte die Berliner Professoren in einem erst im Nachlaß veröffentlichten Gedicht als "Zunft der Hunde, die immer angebellt die Vernunft, und ganz zu einem römischen Knechte den deutschen Freyling machen möchte". In der Tat lieferten die meisten der Berliner Professoren nur die Rechtfertigung für die Restauration, nachdem 1820 mit der Wiener Schlußakte der Verfassungsbewegung das Wasser abgegraben worden war und weder Österreich noch Preußen eine Verfassung besaßen. In der heutigen Neobiedermeierzeit spielen viele Professoren eine ähnliche Rolle bei der Rechtfertigung der angeblich unausweichlichen "Globalisierung".

Erfreulicher war für Heine die Bekanntschaft mit Rahel und Karl August Varnhagen van Ense, die den jungen Dichter unter ihre Fittiche nahmen und in deren Salon er eine große Anzahl bedeutender Zeitgenosssen kennenlernte. Darunter waren die beiden Humboldts, aber auch die Romantiker Fouqué, Tieck, Schleiermacher, der Restaurationstheoretiker Adam Müller sowie Jean Paul, Chamisso, Hegel und der schillernde Schriftsteller und Privatsekretär Metternichs, Friedrich Gentz.

Die Briefe zwischen Rahel und Gentz geben einen Einblick, wie komplex die sozialen Beziehungen waren, in denen sich Heine hier bewegte. Denn derselbe zweideutige Gentz, der die Schrift des konservativen Revolutionärs Edmund Burke Betrachtungen über die französische Revolution übersetzt hatte und als rechte Hand Metternichs das Protokoll der Ministerkonferenzen auf den Kongressen von Wien, Paris, Aachen, Karlsbad, Troppau, Laibach und Verona geführt hatte, und damit in hoher Position dem Apparat angehörte, der Heine sein ganzes Leben lang bespitzelte und ihm durch die Zensur das Leben schwer machte, dieser Gentz offenbarte sich Rahel gegenüber als begeistert von Heines Poesie.

So schreibt er ihr Jahre später, am 22. September 1830 aus Wien: "Im vergangenen Jahr fielen mir die Reisebilder von Heine in die Hand. Sie können sich leicht vorstellen, daß ich in der politischen Gesinnung des Verfassers die meinige nicht wiederfand; und daß mir überdies manches Inkorrekte, Ultra-Originelle in dieser Schrift zuwider sein mußte. Nichtsdestoweniger las ich die drei Bände mit vielem Vergnügen, weil ein großer Teil der eingestreuten Gedichte (nicht alle) mich in höchstem Grade anzogen. Erst vor einigen Tagen entdeckte ich sein bereits im Jahr 1827 gedrucktes, mir aber bisher unbekannt gebliebenes Buch der Lieder, worin ein Abschnitt Ihnen gewidmet ist; und früher schon hatte mir jemand - ich weiß wirklich nicht mehr wer? - gesagt, oder geschrieben, daß Heine bei Ihnen in besonderer Gnade stehe. Ich entschloß mich daher gleich, diese Lieder zu lesen... Mehrere mißfielen mir, weil sie gar zu nachlässig, ich möchte sagen, gar zu liederlich hingeworfen, kaum mehr an die Form der Poesie erinnern, und einem Tischgespräch ähnlicher sehen als Gedichten. Aber eine gewisse Anzahl wirkte auf mich mit einem unbeschreiblichen Zauber; und an diesem ergötze ich mich fortdauernd. Morgens und abends sind meiner heutigen Gemütsstimmung dergestalt homogen, daß ich mich ganz darein vertiefen und versenken kann..."

Wenn es schon leicht morbide anmutet, wenn jemand wie Gentz sich an Heineschen Gedichten ergötzt, so wird sein gespaltener Geist in den folgenden Zeilen noch sichtbarer: "Ich bewundre in diesem Augenblicke den Mut, der dazu gehörte, um Ihnen eine solche Reihe gewiß höchst unerwarteter Bekenntnisse abzulegen, um Ihnen zu sagen: daß ich mich verjüngt fühle - daß ich liebe - daß ich eine Tänzerin anbete - und daß ich mit Heine sympathisiere! Sie sind aber auch die einzige Person in der Welt, gegen welche ich das wagen würde; und wenn dieser Brief nicht durch einen österreichischen Kurier nach Berlin ginge, hätte ich es auch gegen Sie nicht gewagt..."

Einmal abgesehen von der Selbstbeweihräucherung: Er, der Metternich als die Person bezeichnet, an der ihm am meisten liegt, fürchtet sich also vor demselben Spitzelsystem, das er offiziell repräsentiert!

Clemens Fürst von Metternich, der absurderweise auch die Heineschen Gedichte schätzte, bekämpfte ihn politisch allerdings aufs schärfste. In einem Brief vom 8. Dezember 1835 schrieb er an Fürst von Wittgenstein: "Heine ist der größte Kopf unter den Verschworenen, und er kann nur einem O'Connel, einem Lamartine und sehr wenigen anderen zur Seite gestellt werden." Und Fürst Wittgenstein schrieb: "Herr Minister Ancillon hält die Heineschen Producten für die gefährlichsten, weil sie in Beziehung auf Styl und Darstellung ein wahres Meisterstück sind."

In einem Brief vom 19. Oktober 1830 schrieb Gentz an Rahel: "Noch immer labe ich mich an dem Buch der Lieder ... Selbst die, welche an wirkliche Gotteslästerung streifen (wie Götterdämmerung, Fragen, usw.), lese ich doch nicht ohne die tiefste Emotion, und klage mich manchmal selbst darüber an, daß ich sie so oft, und so gern lese. Solche, wie in dem Lyrischen Intermezzo Nr. 33 und Nr. 37 möchte ich den ganzen Tag wiederholen hören..." Es scheint also auch gerade die dunkle Seite Heines und seine manchmal leider ans Zynische grenzende Ironie gewesen zu sein, die in Gentz etwas zum Schwingen bringt, wie z.B. in dem Gedicht Fragen.

Es gibt wahrscheinlich keinen deutschen Dichter, der so kontroverse Reaktionen hervorgerufen hat wie Heinrich Heine. Da er fast immer mit brutalem Scharfblick für die Lächerlichkeit der Kleinbürger, die Arroganz des Adels, die Borniertheit der Chauvinisten, die kulturelle Barbarei der Jakobiner, Sozialisten und Kommunisten, und die Verlogenheit der Gesellschaft allgemein die Wahrheit sagte und diese noch mit Hohn und süffisanter Ironie ausschmückte, schaffte er es, sich ein unglaublich großes Spektrum von Gegnern zu machen. In dieser Hinsicht erinnert er in seiner Wirkung durchaus an den Mann, der heute für unsere Zeit ähnlich kompromißlos die Wahrheit sagt und schreibt und dessen Namen in den einschlägigen Medien fast nie ohne das Epithet "kontrovers" genannt wird.

Heine war sich dieses Problems durchaus bewußt. In einem Brief an seinen Freund Immermann schrieb er: "Aber wo der wahre Dichter auch sei, er wird gehaßt und angefeindet, die Pfennigsmenschen verzeihen es ihm nicht, daß er etwas mehr sein will als sie, und das höchste, was er erreichen kann, ist doch nur sein Märtyrertum." Er konnte und wollte sich nicht verbiegen, sondern versuchte die bedrohlichen Lebensumstände des Polizeistaates durch Humor zu "verarbeiten", was bei einem letztlich extrem empfindsamen Menschen wie ihm allerdings nicht ohne seelische Blessuren geschehen konnte. Er lebte gewissermaßen die Brüche seiner Zeit und brachte sie in Gedichtform zu Papier.

Er beschrieb dies so: "Ach teurer Leser, wenn Du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwei gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters ein Mittelpunkt der Welt ist, so muß es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sei ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches, weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige aber ging der große Weltriß, und eben deswegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen anderen hoch begnadigt, und des Dichtermärtyrtums würdig erachtet haben."

Die Neobiedermeier-Zeitgenossen haben offensichtlich auch solche "weitabgelegten Winkelherzen", wenn sie sich nie darum sorgen, daß nur ein Drittel der Menschheit sich vernünftig ernähren kann, ein Drittel gerade so satt wird, aber ein Drittel täglich hungert.

Den Riß in seinem Herzen hatte er als junger Mann sowohl wegen der politischen Umstände als auch wegen offensichtlich unerwiderter Liebe; er sprach sich allerdings dagegen aus, das Werk eines Dichters nur aus seiner persönlichen Geschichte abzuleiten, womit er zweifellos recht hat, denn es ist gerade das Wesen des Dichters, daß er etwas Neues schafft. Im Buch der Lieder, das 1827 erschien, waren aber immerhin 140 von 237 Liedern dem Thema Liebe gewidmet, unglücklicher Liebe, einem Liebchen, das seine Liebe nicht verdient, Liebesschmerz etc. Heine nannte es Immermann gegenüber "nur Variationen desselben kleinen Themas".

Was er hier poetisch behandelte, waren tatsächlich nicht die "großen Gegenstände der Menschheit", die Schiller bearbeitete. Trotzdem gelangen Heine eine große Anzahl poetischer Perlen, in denen eine poetische Idee oftmals in großer Einfachheit, aber doch sehr kunstvoll entwickelt und zu einem überraschenden Schluß, der eine Wahrheit aufdeckt, gebracht wird. Ein typisches Beispiel ist das folgende Gedicht in der von ihm häufig benutzten Liedform.

Aus meinen großen Schmerzen
Mach ich die kleinen Lieder,
Die heben ihr klingend Gefieder
Und flattern nach ihrem Herzen.

Sie fanden den Weg zur Trauten,
Doch kamen sie wieder klagen,
Und klagen, und wollen nicht sagen,
Was sie im Herzen schauten.

Er beginnt mit der Metapher, daß Schmerzen der Stoff sind, aus dem sich Lieder machen lassen. Es wird die Assoziation geweckt, die kleinen Lieder seien Vögel, die zum Herzen der Geliebten flattern und offensichtlich von seinen Liebesschmerzen berichten wollen. Sie gelangten tatsächlich zu ihr, aber sie kehren zurück und haben etwas im Herzen der Geliebten gesehen, was sie so traurig macht, daß sie es nicht verraten wollen. Das Bild der kleinen Vögel mit ihrem klingenden Gefieder erscheint schon fast fröhlich und steht im Kontrast zu den "großen Schmerzen".

In der ersten Zeile der zweiten Strophe bleibt die Stimmung erwartungsvoll, die Lieder kamen bei der Geliebten an, dann kommen sie zurück, und offensichtlich haben sie in ihrem Herzen etwas gefunden, was die Schmerzen noch vergrößern würde, wenn sie berichten würden, was es ist. Heine gelingt es, mit den Wiederholungen und dem Binnenreim innerhalb der Zeile in der zweiten und dritten Zeile: "...klagen, und klagen, und wollen nicht sagen", den unsäglichen Charakter des Schmerzes auszudrücken. Die Erhöhung der Spannung wird auch dadurch erreicht, daß in der siebten Zeile die dreihebigen Jamben durch Daktylen abgelöst werden.

In vielen dieser Variationen desselben "kleinen Themas" erscheint die Geliebte einerseits als unerreichbar schön, aber kalt im Herzen, falsch, treulos oder sogar grausam. Die Heine-Literatur ist voll von Vermutungen, daß Heines enttäuschte Liebe zu seiner Cousine Amalia zumindest in den früheren die Quelle ist, aus der sich diese Gedichte speisen. Aber das Thema ist zu generisch bei ihm und sagt wohl eher etwas über sein Verhältnis zu Frauen allgemein aus, das bekanntermaßen nicht unproblematisch war.

Sind die Heineschen Liebesgedichte schön? Ja, sie sind es; viele von ihnen sind lyrische Kleinode, die in der Tat verzaubern können. Ihre Liedform eignete sich darüber sehr zur Komposition, so sind aus dem Buch der Lieder an die 10 000 (!) Kompositionen entstanden. Alleine das Gedicht: Du bist wie eine Blume wurde 388mal vertont! Sind die Gedichte klassisch? Sie sind es nicht. Sie finden ihre Aufhebung in der Ironie, aber nicht in der höheren Ebene des Erhabenen oder einem über das Individuelle hinausgehenden universellen Gattungscharakter.

Heine schrieb 1854 über sich selbst: "Mit mir ist die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward. Diese Doppelbedeutung wird mir von den deutschen Literaturhistorikern zugeschrieben." Er war der Auffassung, daß das von ihm so bezeichnete Ende der "Kunstperiode" gekommen sei, womit er die Goethesche Kunstidee meinte, die zwar am Schönen orientiert, aber realitätsfern gewesen sei. Er verlangte dagegen vom Dichter, daß er am politischen Kampf der Gegenwart teilnehmen müsse.

Am Ende der Reise von München nach Genua schreibt er: "Die Poesie, wie sehr ich sie auch liebte, war mir immer nur ein heiliges Spielzeug, oder geweihtes Mittel für die himmlischen Zwecke. Ich habe nie großen Wert gelegt auf Dichter-Ruhm, und ob man meine Lieder preiset oder tadelt, es kümmert mich wenig. Aber ein Schwert sollt ihr mir auf den Sarg legen; denn ich war ein braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit." Das war er zweifellos.

Aber trotzdem bleibt Heine in seiner Beurteilung dessen, was er "Kunstperiode" nennt, zwiespältig. Wenn er nur über Goethe spräche, könnte man ihm durchaus zustimmen. Und vor allem auf die Epigonen Goethes, zu denen für eine gewisse Zeit auch die Frühromantiker gehörten, die Heine "jene blöde Jüngerschar" nennt, die sich "auf das matte Nachpiepsen jener Weisen, die der Alte gepfiffen" beschränken, trifft seine Charakterisierung zu, daß sie die Kunst als höhere zweite Welt priesen und sich der ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrange gebühre, abwendeten.

Aber er schrieb in der Romantischen Schule selber über Schiller: "Schiller hat sich jener ersten Welt viel bestimmter angeschlossen und wir müssen ihn in dieser Hinsicht loben. Ihn, den Friedrich Schiller, erfaßte lebendig der Geist seiner Zeit, er rang mit ihm, er ward von ihm bezwungen, er folgte ihm zum Kampfe, er trug sein Banner, und es war dasselbe Banner worunter man auch jenseits des Rheines so enthusiastisch stritt, und wofür wir auch immer noch bereit sind, unser bestes Blut zu vergießen. Schiller schrieb für die großen Ideen der Revolution, er zerstörte die geistigen Bastillen, er baute jenen ganz großen Tempel der Freiheit, und zwar am jenem ganz großen Tempel, der alle Nationen, gleich einer einzigen Brüdergemeinde, umschließen soll, er war Kosmopolit."

Er schreibt in der Romantischen Schule weiter, Schiller habe die großen Freiheitskämpfe der Menschheit behandelt, und auch Goethe dies getan, aber in einer Weise, die eher einen demobilisierenden Effekt gehabt habe. Da heißt es weiter: "Freilich, auch Goethe besang einige große Emanzipationsgeschichten, aber er besang sie als Artist. Da er nämlich den christlichen Enthusiasmus, der ihm fatal war, verdrießlich ablehnte, und den philosophischen Enthusiasmus unserer Zeit nicht begriff, oder nicht begreifen wollte, weil er dadurch aus seiner Gemüthsruhe herausgerissen zu werden fürchtete: so behandelte er den Enthusiasmus überhaupt ganz historisch, als etwas Gegebenes, als einen Stoff, der behandelt werden soll, der Geist wurde Materie unter seinen Händen, und er gab ihm die schöne gefällige Form, ... Das Beispiel des Meisters leitete die Jünger, und in Deutschland entstand dadurch jene literarische Periode, die ich einst als die ,Kunstperiode' bezeichnet, und wobei ich den nachteiligen Einfluß auf die politische Entwicklung des deutschen Volkes nachgewiesen habe. Keineswegs leugnete ich bei dieser Gelegenheit den selbständigen Wert der Goetheschen Meisterwerke. Sie zieren unser teures Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren, aber es sind Statuen. Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor, wie die Schillerschen. Die Tat ist das Kind des Wortes, und die Goetheschen schönen Worte sind kinderlos. Das ist der Fluch alles dessen, was bloß durch die Kunst entstanden ist."

Aber warum bleibt dann trotz seiner hohen Meinung, die Heine offensichtlich von Schiller hatte, letztlich doch Goethe für ihn der wichtigere Bezugspunkt? Diese Frage stellt sich umso mehr, daß man damals keineswegs von der "Goethezeit" sprach; dies ist ein Begriff, der erst später von den Brüdern Grimm geprägt wurde. Zu seiner Zeit war Schiller der weitaus beliebtere Dichter. Und wenn Schiller beides verbinden konnte, den "ganz großen Tempel bauen" und das klassische Kunstideal verkörpern, warum war es dann notwendig, "die alte deutsche Lyrik" abzuschließen, warum konnte man nicht den von Schiller gesetzten Standard für den Künstler und die Kunst aufrechterhalten und nur durch die eigene Individualität bereichern?

Und in diesem Punkt muß man auch festhalten, daß das Kunstideal der Klassik vielleicht nicht in derselben Weise ohne die zehn Jahre enger Zusammenarbeit zwischen Schiller und Goethe, angereichert durch den Dialog mit Körner und Wilhelm von Humboldt, zustandegekommen wäre. Der Rückgriff auf das klassische Griechenland, die Debatte, was notwendig ist, um einem Werk "Klassizität" zu verleihen, und wie universell geltende Gesetze der Kunst erarbeitet werden können - darin bestand gerade das Verdienst der Weimarer Klassik, die den höchsten Begriff der Humanität hervorgebracht hat, der je gedacht worden ist.

Es war auch Schiller, der mit feinem Empfinden sofort begriff, welche katastrophalen Konsequenzen die Schriften der Frühromantiker haben würden - die im übrigen bewußt zum Angriff auf die Weimarer Klassik und insbesondere Schiller angesetzt hatten. Mit diesem romantischen Angriff auf die klassische Form und den universellen Gegenstand der klassischen Dichtung wurde Tür und Tor geöffnet für immer "interessantere" Neuerungen, die zum Dekonstruktivismus und der völligen Prinzipienlosigkeit der heutigen Zeit geführt haben.

Obwohl Heine in der Romantischen Schule mit erbarmungslosem Humor mit den Romantikern abrechnete, und obwohl er eine große Anzahl poetisch durchkomponierter Gedichte schrieb, so gibt es auch diese Aussage von ihm in der schon erwähnten, mit Geständnisse überschriebenen autobiographischen Schrift vom März 1854, also knapp zwei Jahre vor seinem Tod:

"Ein geistreicher Franzose - vor einigen Jahren hätten diese Worte noch einen Pleonasmus gebildet - nannte mich einst einen romantique defroqué. Ich hege eine Schwäche für alles was Geist ist, und so boshaft die Benennung war, hat sie mich dennoch höchlich ergötzt. Sie ist treffend. Trotz meiner exterminatorischen Feldzüge gegen die Romantik, blieb ich doch selbst immer ein Romantiker, und ich war es in einem höheren Grade, als ich es selbst ahnte. Nachdem ich in dem Sinne für romantische Poesie in Deutschland die tödtlichsten Schläge beygebracht, beschlich mich selbst wieder eine unendliche Sehnsucht nach der blauen Blume im Traumlande der Romantik, und ich ergriff die alte bezauberte Laute und sang ein Lied, worin ich mich allen holdseligen Übertreibungen, aller Mondscheintrunkenheit, allem blühenden Nachtigallen-Wahnsinn der einst so geliebten Weise hingab. Ich weiß, es war das letzte freye Waldlied der Romantik, und ich bin ihr letzter Dichter... Es ziemt mir nicht, mich hierüber weitläuffig auszulassen, aber ich darf mit gutem Fuge sagen, daß ich in der Geschichte der deutschen Romantik eine große Erwähnung verdiene. Aus diesem Grunde hätte ich in meinem Buche de l'Allemagne, wo ich jene Geschichte der romantischen Schule so vollständig als möglich darzustellen suchte, eine Besprechung meiner eigenen Person liefern müssen. Indem ich dieses unterließ, entstand eine Lakune, welcher ich nicht leicht abzuhelfen weiß..."

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Heines politischer Instinkt

Eines der größten Verdienste Heines war sein unglaublich feines Gespür für die menschenverachtende Haltung der Oligarchie. Auch wenn ihm offensichtlich nicht die volle Komplexität der Auseinandersetzung zwischen der Amerikanischen Revolution und dem britischen Empire, in der während Heines gesamten Erwachsenenlebens Lord Palmerston eine entscheidende Rolle spielte, bewußt war, so erkannte er doch intuitiv die Auswirkungen dieses Konfliktes.

Als Heine vom April bis August 1827 nach England reiste, tat er dies hauptsächlich, um aus Hamburg wegzukommen, wo er politische Repressalien befürchtete wegen seiner Napoleon-freundlichen Ansichten, die er in den Ideen und in Nordsee III zu Papier gebracht hatte. Er ließ sich nicht eine Sekunde vom offiziellen Englandbild beeindrucken, das dieses Land als Musterbeispiel einer konstitutionellen Monarchie darstellte. Heines Blick für die Brutalität des oligarchischen Systems des Empires, in dem der Adel die Masse der Bevölkerung nur als menschliches Vieh betrachtet, war präzise. Er schreibt über die große Armut in London, der damals größten Stadt der Welt, sie komme erst am Abend aus ihren Schlupfwinkeln hervor:

"Sie scheut das Tageslicht umso ängstlicher, je grauenhafter ihr Elend kontrastiert mit dem Übermute des Reichtums, der überall hervorprunkt, nur der Hunger treibt sie manchmal um die Mittagszeit aus dem dunklen Gäßchen, und da steht sie mit stummen, sprechenden Augen und starrt flehend empor zu dem reichen Kaufmann, der geschäftig-geldklimpernd vorübereilt, oder zu dem müßigen Lord, der, wie ein satter Gott, auf hohem Roß einherreitet und auf das Menschengewühl unter ihm dann und wann einen gleichgültig vornehmen Blick wirft, als wären es winzige Ameisen, oder doch nur ein Haufen niedriger Geschöpfe, deren Lust und Schmerz mit seinen Gefühlen Nichts gemein hat - denn über dem Menschengesindel, das am Erdboden festklebt, schwebt Englands Nobility, wie Wesen höherer Art, die das kleine England nur als ihr Absteigequartier, Italien als ihrer Sommergarten, Paris als ihren Gesellschaftssaal, ja die ganze Welt als ihr Eigentum betrachten. Ohne Sorgen und ohne Schranken schweben sie dahin, und ihr Gold ist ein Talisman, der ihre tollsten Wünsche in Erfüllung zaubert."

Als Heine von der Ecke jener Straße in London, die von der Börse nach Downingstreet führt, das tosende Leben der Menschenmenge betrachtet, die sich dort dahinwälzt, drängt sich ihm das Bild der vor der russischen Armee fliehenden Franzosen bei der Überquerung der Beresina auf, dem Stalingrad Napoleons, bei dem 25 000 Soldaten und an die 30 000 Zivilisten umkamen.

"...da schien es mir, als sei ganz London so eine Beresinabrücke, wo jeder in wahnsinniger Angst, um sein bißchen Leben zu fristen, sich durchdrängen will, wo der kecke Reuter den armen Fußgänger niederstampft, wo derjenige, der zu Boden fällt, auf immer verloren ist, wo die besten Kameraden fühllos einer über die Leiche des anderen dahineilen, und Tausende, die, sterbensmatt und blutend, vergebens sich an der Planke der Brücke festklammern wollten, in die kalte Eisesgrube des Todes hinabstürzen."

Was Heine hier mit dem sensiblen Empfindungsvermögen des Dichters warhrnimmt, sind die Auswirkungen des britischen Empire, das seit 1763 in der Form der Britischen Ostindiengesellschaft begonnen hatte, sich wie die Arme einer Krake um weite Teile der Welt zu schlingen, wo ein Menschenleben in der Tat nichts bedeutete. Die Metapher von der Beresinabrücke beschreibt die Auswirkungen der Doktrin des Freihandels eines Adam Smith, den Heine nach gegebener Quellenlage nicht kannte, der aber wohl das Menschenbild beobachtete, das mit dieser Theorie der Geldwirtschaft verbunden ist. Ähnliches ließe sich in der heutigen Zeit über die Globalisierung sagen, die gewissermaßen die ganze Welt zu einer Beresinabrücke gemacht hat.

Heines tiefe Einsichten in die Unterschiede der nationalen Ideologien, die er in all seinen Reisebildern verrät, sind, obwohl sie vor rund 180 Jahren geschrieben wurden, im Grundsatz auch heute noch auf den Punkt gebracht: So ertrüge der Engländer den Anblick einer bevorrechteten Aristokratie weit geduldiger als der Franzose - wer wollte das angesichts der abscheulich vielen Live-Übertragungen von der Hochzeit von Charles und Lady Di, Charles und Camilla, dem Begräbnis von Queen Mum, dem 80. Geburtstag von Elisabeth etc. und der offensichtlichen Bereitschaft der Briten, diese abgetakelte Monarchie beizubehalten, bezweifeln.

Aber auch sein Vergleich, der Engländer liebe die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, das er ohne absonderliche Zärtlichkeit besitze, der Franzose liebe sie wie seine erwählte Braut, der er sich mit den überspanntesten Beteuerungen zu Füßen werfe, der Deutsche hingegen liebe die Freiheit wie seine alte Großmutter, trifft heute leider im Kern noch zu. Denn daß die deutschen Zeitgenossen die Freiheit, sei es die Deutschlands oder die der Bürger, leidenschaftlich verteidigen würden, kann ernstlich niemand behaupten, zumindest wenn man unter Freiheit nicht irrationale Anarchie, sondern Souveränität und das Recht auf ein erfülltes Leben versteht.

Heines Antipathie gegen England nahm mit den Jahren eher noch zu. 1832 schrieb er: "Ich kann sie nicht leiden. Sie sind erstens langweilig, und dann sind sie ungesellig, eigensüchtig, sie quäken wie die Frösche, sie gehen in die Kirche mit ihren vergoldeten Gebetbüchern, und sie verachten uns Deutsche, weil wir Sauerkraut essen."

Und zehn Jahre später, 1842, ließ er sich so über "jene Insel der Verdammnis" aus: "Die Stockengländer, Gott verzeih mir die Sünde, sind mir in tiefster Seele zuwider; und manchmal betrachte ich sie gar nicht als Menschen, sondern ich halte sie für leidige Automaten, für Machinen, deren inwendige Triebfeder der Egoismus. Es will mich dann bedünken, als hörte ich das schnatternde Räderwerk, womit sie denken, fühlen, rechnen, verdauen und beten. Ihr Beten, ihr mechanisches anglikanisches Kirchengehen mit dem vergoldeten Gebetbuch unter dem Arm, ihre blöde langweilige Sonntagsfeier, ihr linkisches Frömmeln ist mir am widerwärtigsten, ich bin fest überzeugt ein fluchender Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für Gott als ein betender Engländer!"

Heine zitiert nicht die Ideologen der englischen Aufklärung, aber er charakterisiert die praktische Auswirkung der mechanistischen und deterministischen Weltsicht eines Thomas Hobbes, John Locke oder John Stuart Mill, deren menschenverachtende Theorien England in dieser Periode beherrschten. Dazu gehörten Vorstellungen, daß der Mensch keinen freien Willen habe, sondern daß Freiheit nur das Vermögen sei, seine Begierden auszuleben, daß jeder Mensch der Wolf des anderen sei und daß alles Wissen das Ergebnis von Erfahrungen sei. Damit wird gerade das geleugnet, was den Menschen von den Tieren unterscheidet, nämlich seine Fähigkeit zur Entdeckung universeller Prinzipien, von Ideen. Egoismus als inwendige Triebfeder, das ist nur ein anderer Begriff für den Utilitarismus, der damals das Empire beherrschte.

Heines Englandbild wurde noch schlechter: Die Engländer seien "erzprosaische Geschöpfe, von keinen poetischen Illusionen geblendet, in ihrem Calcul weder durch das Pochen ihres Herzens, noch durch den Flügelschlag großmütiger Gedanken gestört, keine Einbildungskraft." Heine nahm auch die englischen Touristen als ausgesprochene Bildungsphilister aufs Korn. Von dieser durchgängig negativen Meinung nahm er nur Shakespeare und den Staatsmann George Canning aus.

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Heine und die Völkerverständigung

Wenn man der Auffassung ist, daß die deutsch-französische Freundschaft für das Wohlergehen Europas von zentraler Bedeutung ist, dann gebührt Heine der erste Platz als Repräsentant dieser Beziehung. Denn in einer äußerst schwierigen politischen Periode, die von Restauration und im wesentlichen gescheiterten Revolutionen gekennzeichnet war, bemühte er sich in einer großen Anzahl von Artikeln darum, den Franzosen Deutschland und den Deutschen Frankreich näher zu bringen. Wer damals die Schriften Heines las, hatte eine bessere Einsicht in die Verhältnisse des jeweils anderen Landes, als das der heutige Zeitgenosse hat, der auf die Medien angewiesen ist, in denen vielleicht mehr einzelne Prädikate zu finden sind, denen aber die poetisch-philosophische Gesamtsicht fehlt, in der Heine es zu großer Meisterschaft brachte.

In der Vorrede zu den Französischen Zuständen beschreibt er, wie er seine Mission sieht: "Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen sich die Völker nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen, das große Völkerbündnis, die Heilige Allianz der Nationen, kommt zustande, wir brauchen aus wechselseitigem Mißtrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freiheit. Dieser Wirksamkeit bleibt mein Leben gewidmet; es ist mein Amt."

Es ist interessant, wie er hier den Namen des Systems der Restauration - die Heilige Allianz, die das Bündnis der reaktionären Aristokratie Europas war und die sich gerade gegen den konstitutionellen Nationalstaat verschworen hatte - umdeutet und gerade für eine Allianz souveräner Nationen mit politisch informierten Staatsbürgern verwendet.

Heine entschloß sich, in das Paris der Juli-Revolution zu fahren, nachdem seine Versuche, eine akademische Laufbahn in Deutschland einzuschlagen - nach seinem Verdacht, auf das Betreiben ultramontaner Kreise - , gescheitert waren. Er traf am 19. Mai 1831 in Paris ein. Die angesehenste Person in der Juli-Revolution war der inzwischen altgewordene Marquis de Lafayette, der sich für die Verwirklichung einer am amerikanischen Vorbild orientierten Republik einsetzte. Aber er wurde von Louis Philippe, der ihm eine konstitutionelle Monarchie versprach, betrogen. Louis Philippe entpuppte sich als wahrer Sohn seines Vaters, Philippe Egalité, welcher der bedeutendste britische Einflußagent in der Französischen Revolution gewesen war.

Der "Bürgerkönig" stellte sich als König der Bourgeoisie und des Geldadels heraus, die denselben Egoismus an den Tag legten wie zuvor der Adel. Heine, der zunächst begeistert war, vom Deutschland der Karlsbader Beschlüsse fort und in Paris als dem aufregendsten Ort in Europa zu sein, stellte bald fest, daß das Volk durch seinen Sieg nichts "als Reue und größere Not" gewonnen habe. Aber obwohl er allmählich seine Begeisterung für die politischen Verhältnisse und bald darauf auch für die französische Literatur verlor, liebte er Paris und die heitere Lebensart der Franzosen.

Er fühlte sich zunächst von den Saint-Simonisten, deren Begründer an der Amerikanischen Revolution teilgenommen hatte, angezogen. Diese Bewegung vertrat ein etwas mechanistisches Geschichtskonzept, bei dem die Feudalordnung durch eine industrielle Leistungsgesellschaft abgelöst würde und alle die gleichen wirtschaftlichen Aufstiegschancen haben sollten.

Vom heutigen Standpunkt des Neobiedermeier aus betrachtet, ist das bemerkenswerteste, daß Heine in der beginnenden Industrialisierung den Weg sah, wie eines seiner Hauptanliegen, die Überwindung der Armut der Masse der Bevölkerung überwunden werden könnte - die Lösung der "großen Suppenfrage", wie er dies wiederholt genannt hatte. Als dann später im Mai 1843 zwei neue Eisenbahnlinien nach Orléans und Rouen in Betrieb genommen wurden, erschien ihm dies von gleicher Bedeutung wie die Entdeckung Amerikas und die Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks.

Ganz modern relativitätstheoretisch denkend schrieb er: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur genug Geld, um auch die letztere anständig zu töten! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden, vor meiner Tür brandet die Nordsee." Zweifellos wäre Heine heute begeistert mit der Concorde nach Amerika geflogen und mit dem Transrapid nach Beijing gefahren und hätte so noch mehr Zeit und Raum "anständig töten" können!

Wenn man bedenkt, daß Europa heute deshalb nicht funktioniert, weil wir es in den verschiedenen Nationen nicht geschafft haben, die oligarchische Denkweise abzuschaffen und wirkliche Republiken im Sinne der Amerikanischen Revolution zu errichten, dann sind Heines Betrachtungen zu diesem Thema gerade wegen der Zeit, in der er sie angestellt hat, sehr aufschlußreich, da sie demonstrieren, daß Heine sich dieser Problematik sehr wohl bewußt war. Da alle Vertreter republikanischer Ideen in Deutschland damals als "französische Partei" beschimpft wurden, schrieb Heine in den Französischen Zuständen:

"Aber ihr wißt nicht, daß auch Deutschland nicht mehr durch die alten Kniffe getäuscht werden kann, daß sogar die Deutschen gemerkt haben, wie der Nationalhaß nur ein Mittel ist, eine Nation durch eine andere zu knechten, und wie es überhaupt in Europa keine Nationen mehr gibt, sondern nur zwei Parteien, wovon die eine Aristokratie genannt, sich durch Geburt bevorrechtigt dünkt und alle Herrlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft usurpiert, während die andere Demokratie genannt, ihre unveräußerlichen Menschenrechte vindiziert und jedes Geburtsprinzip abgeschafft haben will, im Namen der Vernunft. Wahrlich, ihr solltet uns die himmlische Partei nennen, nicht die französische, denn jene Erklärung der Menschenrechte, worauf unsere ganze Staatswissenschaft basiert, stammt nicht aus Frankreich, wo sie freilich am glorreichsten proklamiert worden ist, nicht einmal aus Amerika, woher sie Lafayette geholt hat, sondern sie stammt aus dem Himmel, dem ewigen Vaterlande der Vernunft."

In einem Artikel, den die Redaktion der Allgemeinen Zeitung, für die Heine als Auslandskorrespondent schrieb, abgelehnt hatte und in dem er noch einmal als Aufgabe bezeichnete, die Partei der Aristokratie zu bekämpfen, heißt es: "Nur die nordamerikanische und die weiland französische Republiken verdienen, als wahre Demokrazien, unsere Betrachtung. Aber ich bemerke, daß jene nur auf einem frischen, jungfräuligen, neuen Welttheil, wie Amerika, gedeihen konnte, und daß es thörigt wäre sie etwa nachbilden zu wollen auf dem alten Scherbenberg einer tausendjährigen Civilisation, auf dem fieberhaften, abgematteten, kranken Boden Europas."

Die Beschreibung des Europa der damaligen Zeit war durchaus zutreffend, aber Heines Schlußfolgerung kann keineswegs geteilt werden. Seine pessimistische Beurteilung ist nicht unverständlich, denn der Zeitgeist war reaktionär, und die politischen Oppositionsbewegungen - von den damaligen Republikanern und Jakobinern über das Junge Deutschland, die "Amis du Peuple", die Gesellschaft für Menschenrechte bis zu den Kommunisten - waren durchweg entweder in kleinbürgerlichen, mittelmäßigen oder rigiden Revolutionsvorstellungen befangen. Der perfide Feldzug, den Ludwig Börne gegen Heine führte, und auf den er drei Jahre nach dessen Tod brillant geantwortet hat, ist ein Beispiel für die politische Impotenz und das dogmatische Denken der damaligen politischen Gruppierungen.

Als hätte Heine vorausgeahnt, wie einmal die Revolutionären Garden während der Kulturrevolution die Wandmalereien im Sommerpalast in Beijing mit roter Farbe übermalen würden, schrieb er 1855 in der Einleitung zu Lutetia:

"Nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Iconoclasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie dann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrepfeifereyen, die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um und pflanzen darauf Kartoffeln, die Lilien welche nicht spannen und arbeiten und doch so schön gekleidet waren wie König Salomon werden ausgerauft aus dem Boden der Gesellschaft, wenn sie nicht etwa zur Spindel greifen wollen; den Rosen und den müßigen Nachtigallbräuten geht es nicht besser, die Nachtigallen, die unnützen Sänger werden fortgejagt und ach! mein Buch der Lieder wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder auch Schnupftaback darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft - Ach! das sehe ich alles vorraus und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist."

Es ist die Frage, ob ein einzelner Mensch, gerade wenn er mit einem so reichen Empfindungsvermögen ausgestatten ist wie Heinrich Heine, in einer Zeit, wie die, in der er gelebt hat, seinen Glauben an die Verwirklichung seiner politischen Ideale behalten kann. Denn obwohl er forderte, daß der Dichter ein politischer Schriftsteller sein müsse, lag ihm die Beteiligung an oder gar Führung von politischen Bewegungen keineswegs. Daß er zehn Jahre in der "Matratzengruft" zubringen mußte, war ein zusätzlicher Schicksalsschlag, den er zwar tapfer abzuwehren versuchte, indem er immer weiter dichtete, durchaus Gedichte von großer poetischer Schönheit - aber ohne die Ebene des Erhabenen, zu der Schiller, der nicht weniger unter Krankheit zu leiden hatte, bis zu seinem Tode fähig war.

Waldeinsamkeit

Ich hab in meinen Jugendtagen
Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;
Die Blumen glänzten wunderbar,
Ein Zauber in dem Kranze war.

Der schöne Kranz gefiel wohl Allen,
Doch der ihn trug hat Manchem mißfallen;
Ich floh den gelben Menschenneid,
Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit.

Im Wald, im Wald! da konnt ich führen
Ein freies Leben mit Geistern und Tieren;
Feen und Hochwild von stolzem Geweih,
Sie nahten sich mir ganz ohne Scheu.

Sie nahten sich mir ganz ohne Zagnis,
Sie wußten, das sei kein schreckliches Wagnis;
Daß ich kein Jäger, wußte das Reh,
Daß ich kein Vernunftmensch, wußte die Fee.

Von Feenbegünstigung plaudern nur Toren  -
Doch wie die übrigen Honoratioren
Des Waldes mir huldreich gewesen, fürwahr
Ich darf es bekennen offenbar.

Wie haben mich lieblich die Elfen umflattert!
Ein luftiges Völkchen! das plaudert und schnattert!
Ein bißchen stechend ist der Blick,
Verheißend ein süßes, doch tödliches Glück.

Ergötzten mich mit Maitanz und Maispiel,
Erzählten mir Hofgeschichten, zum Beispiel:
Die skandalose Chronika
Der Königin Titania.

Saß ich am Bache, so tauchten und sprangen
Hervor aus der Flut, mit ihrem langen
Silberschleier und flatterndem Haar,
Die Wasserbacchanten, die Nixenschar.

Sie schlugen die Zither, sie spielten auf Geigen,
Das war der famose Nixenreigen;
Die Posituren, die Melodei,
War klingende, springende Raserei.

Jedoch zu Zeiten waren sie minder
Tobsüchtig gelaunt, die schönen Kinder;
Zu meinen Füßen lagerten sie,
Das Köpfchen gestützt auf meinem Knie.

Trällerten, trillerten welsche Romanzen,
Zum Beispiel das Lied von den drei Pomeranzen,
Sangen auch wohl ein Lobgedicht
Auf mich und mein nobeles Menschengesicht.

Sie unterbrachen manchmal das Gesinge
Lautlachend, und frugen bedenkliche Dinge,
Zum Beispiel: "Sag uns, zu welchem Behuf
Der liebe Gott den Menschen schuf?

Hat eine unsterbliche Seele ein Jeder
Von euch? Ist diese Seele von Leder
Oder von steifer Leinwand? Warum
Sind eure Leute meistens so dumm?"

Was ich zur Antwort gab, verhehle
Ich hier, doch meine unsterbliche Seele,
Glaubt mirs, ward nie davon verletzt,
Was eine kleine Nixe geschwätzt.

Anmutig und schalkhaft sind Nixen und Elfen;
Nicht so die Erdgeister, sie dienen und helfen
Treuherzig den Menschen. Ich liebte zumeist
Die, welche man Wichtelmännchen heißt.

Sie tragen Rotmäntelchen, lang und bauschig,
Die Miene ist ehrlich, doch bang und lauschig;
Ich ließ nicht merken, daß ich entdeckt,
Warum sie so ängstlich die Füße versteckt.

Sie haben nämlich Entenfüße
Und bilden sich ein, daß Niemand es wisse.
Das ist eine tiefgeheime Wund,
Worüber ich nimmermehr spötteln kunnt.

Ach Himmel! wir Alle, gleich jenen Zwergen,
Wir haben ja Alle etwas zu verbergen;
Kein Christenmensch, wähnen wir, hätte entdeckt,
Wo unser Entenfüßchen steckt.

Niemals verkehrt ich mit Salamandern,
Und über ihr Treiben erfuhr ich von andern
Waldgeistern sehr wenig. Sie huschten mir scheu
Des Nachts wie leuchtende Schatten vorbei.

Sind spindeldürre, von Kindeslänge,
Höschen und Wämschen anliegend enge,
Von Scharlachfarbe, goldgestickt;
Das Antlitz kränklich, vergilbt und bedrückt.

Ein güldnes Krönlein, gespickt mit Rubinen,
Trägt auf dem Köpfchen ein jeder von ihnen;
Ein jeder von ihnen bildet sich ein,
Ein absoluter König zu sein.

Daß sie im Feuer nicht verbrennen,
Ist freilich ein Kunststück, ich will es bekennen;
Jedoch der unentzündbare Wicht,
Ein wahrer Feuergeist ist er nicht.

Die klügsten Waldgeister sind die Alräunchen,
Langbärtige Männlein mit kurzen Beinchen,
Ein fingerlanges Greisengeschlecht;
Woher sie stammen, man weiß es nicht recht.

Wenn sie im Mondschein kopfüber purzeln,
Das mahnt bedenklich an Pissewurzeln;
Doch da sie mir nur Gutes getan,
So geht mich nichts ihr Ursprung an.

Sie lehrten mir kleine Hexereien,
Feuer besprechen, Vögel beschreien,
Auch pflücken in der Johannisnacht
Das Kräutlein, das unsichtbar macht.

Sie lehrten mich Sterne und Zeichen deuten,
Sattellos auf dem Winde reiten,
Auch Runensprüche, womit man ruft
Die Toten hervor aus ihrer Gruft.

Sie haben mir auch den Pfiff gelehrt,
Wie man den Vogel Specht betört
Und ihm die Springwurz abgewinnt,
Die anzeigt, wo Schätze verborgen sind.

Die Worte, die man beim Schätzegraben
Hinmurmelt, lehrten sie mich, sie haben
Mir alles expliziert  -  umsunst!
Hab nie begriffen die Schatzgräberkunst.

Wohl hatt ich derselben nicht nötig dermalen,
Ich brauchte wenig, und konnt es bezahlen,
Besaß auch in Spanien manch luftiges Schloß,
Wovon ich die Revenüen genoß.

O, schöne Zeit! wo voller Geigen
Der Himmel hing, wo Elfenreigen
Und Nixentanz und Koboldscherz
Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz!

O, schöne Zeit! wo sich zu grünen
Triumphespforten zu wölben schienen
Die Bäume des Waldes  -  ich ging einher,
Bekränzt, als ob ich der Sieger wär!

Die schöne Zeit, sie ist verschlendert,
Und Alles hat sich seitdem verändert,
Und ach! mir ist der Kranz geraubt,
Den ich getragen auf meinem Haupt.

Der Kranz ist mir vom Haupt genommen,
Ich weiß es nicht, wie es gekommen;
Doch seit der schöne Kranz mir fehlt,
Ist meine Seele wie entseelt.

Es glotzen mich an unheimlich blöde
Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,
Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
Ich gehe gebückt im Wald herum.

Im Walde sind die Elfen verschwunden,
Jagdhörner hör ich, Gekläffe von Hunden;
Im Dickicht ist das Reh versteckt,
Das tränend seine Wunden leckt.

Wo sind die Alräunchen? Ich glaube, sie halten
Sich ängstlich verborgen in Felsenspalten.
Ihr kleinen Freunde, ich komme zurück,
Doch ohne Kranz und ohne Glück.

Wo ist die Fee mit dem langen Goldhaar,
Die erste Schönheit, die mir hold war?
Der Eichenbaum, worin sie gehaust,
Steht traurig entlaubt, vom Winde zerzaust.

Der Bach rauscht trostlos gleich dem Styxe;
Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe,
Todblaß und stumm, wie 'n Bild von Stein,
Scheint tief in Kummer versunken zu sein.

Mitleidig tret ich zu ihr heran  -
Da fährt sie auf und schaut mich an,
Und sie entflieht mit entsetzten Mienen,
Als sei ihr ein Gespenst erschienen.

Dieses Gedicht, das zu Heines letztem Zyklus Romanzero gehört, ist eine der schönsten lyrischen Perlen deutscher Dichtung; obwohl es durchaus romantische Aspekte hat, ist es erschütternd auf eine Weise, die sich über die Romantik erhebt. Schon die Überschrift "Waldeinsamkeit war eines der Schlagworte der Romantik. Romantisch auch das Eintauchen in die Welt der Feen und Elfen, und um alle Bezüge zu verstehen, muß man die "Elementargeister" Heines hinzunehmen.

Heine zeichnet hier sein eigenes Leben. Von unvergleichlicher Schönheit ist die Schilderung seiner als glücklich empfundenen Jugend und seines Dichterlebens. Der Blumenkranz als Zeichen dieser Jugend und Schmuck des Dichters: Solange er ihn trägt, liegt ein Zauber über ihm und seinem Leben. Mit der Formulierung "Der schöne Kranz gefiel wohl allen, doch der ihn trug hat Manchem mißfallen", deutet Heine darauf hin, daß viele seine Gedichte z.B. aus dem Buch der Lieder schätzten, ihn, den Dichter aber völlig ablehnten, wie dies schon in Bezug auf Gentz und Metternich erwähnt wurde.

Der ganze Phantasiereichtum eines ungeheuer produktiven Dichterlebens wird spielerisch ausgebreitet, allerdings als Rückschau von dem Grauen des Krankenlagers. Vielleicht in keiner anderen Dichtung gewinnt der Leser einen solchen Einblick in die unsterbliche Seele Heines, die "nie davon verletzt, was eine kleine Nixe geschwätzt". Und wir alle haben gleich jenen Wichtelmännchen in ihren Rotmäntelchen unsere kleinen Entenfüßchen.

Am Ende des Gedichts, als er in den Wald zurückkehrt, "doch ohne Kranz, und ohne Glück", also ohne Jugend und ohne Dichtung, erschrickt die Nixe bei seinem Anblick, "als sei ihr ein Gespenst erschienen". Ist es, weil Heine, der auf dem Krankenlager nur von seiner glücklichen Dichterjugend geträumt hat, nun aufwacht, und sich bewußt wird, daß er dem Tode nahe ist und selber wie ein Gespenst aussieht - denn Heine magerte immer mehr ab, bis er zum Schluß nur noch Haut und Knochen war? Vielleicht deutet die Stimmung des unergründlichen Schmerzes, der die letzten acht Strophen beherrscht, aber auch auf etwas anderes hin.

Der Kranz ist nicht nur Metapher für Jugend, Dichtkunst und Glück, sondern vielleicht für die Kreativität schlechthin. Und wieviele Menschen waren in ihrer Jugend durchaus von Idealen und Kreativität erfüllt, und haben diese später durch die Lebensumstände und Anpassung an eine Biedermeierumgebung eingebüßt? Heine hat uns auch heute enorm viel zu geben. Wir müssen nur seinen Freiheitskampf fortführen und ihm beweisen, daß man auf dem Boden Europas sehr wohl wirkliche Republiken bauen kann.

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