Wilhelm Furtwänglers Dirigieren
Von Jochen Heibertshausen
Jochen Heibertshausen ist Furtwängler-Spezialist, Dirigent und
Orchestermusiker. Den folgenden Vortrag hielt er bei der Konferenz des
Schiller-Instituts in Bad Soden am 1. Juli 2018, er wurde für den Druck leicht
bearbeitet.
Helga Zepp-LaRouche: Bevor wir mit den angekündigten Reden beginnen,
möchte ich Jochen Heibertshausen heraufbitten, den Dirigenten unseres
wunderschönen Konzertes gestern, wo er versucht hat, eine andere
Dirigiermethode in der Tradition von Wilhelm Furtwängler anzuwenden. Es wird
Ihnen vielleicht aufgefallen sein, daß es anders war, als man es gewöhnlich
hört. Ich möchte ihn bitten, zum Podium zu kommen und ein paar Worte dazu zu
sagen, um das für uns alle verstehbarer zu machen.
Jochen Heibertshausen: Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben.
Ich bin sehr glücklich, daß ich hier sein und dieses wundervolle Projekt
machen kann. Es war das erste Konzert meines Lebens in der 432er-Stimmung als
Dirigent (Applaus). Ich war vom Resultat überrascht, und ich freue mich sehr,
daß ich durch das Schiller-Institut Menschen wie die Künstler Gian Marco Sanna
mit dem Geminiani-Projekt in der Verdi-Stimmung und Leena Malkki Guignard
kennenlernen durfte. Wir haben jetzt zusammen ein einzigartiges Projekt in
Schweden vor: die vielleicht erste Opernaufführung in der Stimmung a'=432 Hz
nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist wirklich einzigartig, das wird in diesem
Sommer Ende Juli in Schweden stattfinden. Das wird dann das zweite Ereignis
sein, das durch die Verbindungen des Schiller-Instituts zustande kommt.
Aber nun zu der Frage: Warum gerade Furtwängler? Natürlich wegen seiner
Interpretationen! Wir lieben seine Interpretationen.
Als ich dieses Genie entdeckt habe, fragte ich mich: Wie hat er das
gemacht?
Ich meine das nicht nur im Sinne etwa seiner Intelligenz, seiner geistigen
Bildung, Ausbildung, denn er war der Sohn Adolf Furtwänglers, des berühmtesten
Archäologen des frühen 20. Jahrhunderts, und war schon von Kindheit an mit
hochgebildeten geistigen Menschen umgeben, kannte die Antike, wurde
bestmöglich humanistisch gebildet und ausgebildet. Eine solche Ausbildung
konnte ich mir als „Kind vom Lande“ nicht vorstellen, da ich sie in dieser
Zeit und diesen Umständen nicht hatte.
Ich dachte, ich könnte mich ihm so nicht nähern, ihn so nicht verstehen.
Deshalb versuchte ich herauszufinden, wie er es „praktisch“ gemacht hat, aus
der Sicht des Musikers, der ich bin. Ich entdeckte, daß er in einem ganz
anderen Moment schlug, also anders aktiv war, als andere Dirigenten.
Er selbst hat das in einem Artikel aus dem Jahr 1937 beschrieben. Er sagte,
daß wenn man auf den Punkt schlägt – also den Moment, wenn das Metronom klickt
–, das Orchester nicht mit dem Dirigenten zusammen sein kann. Was wäre, wenn
man diesen Punkt einfach weglassen würde?
Furtwängler schlägt also vor dem Punkt aktiver, im Punkt inaktiver. Er
beschreibt das in einer Aufzeichnung, in welcher er sagt: „Im Prinzip liegt
alles in der Vorbereitung.“
Furtwängler ist also in ständiger Vorbereitung – jede Note, jede
Phrasierung, jeden Augenblick. Er ist nicht wie ein General, der sagt „Los“,
und dann folgt die Armee. Nein, er bereitet ständig vor. Er verdichtet, bevor
der Klang kommt.
Ich beschreibe das meinen Musikern so: Es ist wie die Kunst des
Bogenschießens – ich glaube, das ist eine japanische Kunst –, man fängt bei
Null an (aus der Entspannung) und dann spannt man an und spannt und spannt,
und in dem Augenblick, wenn der Klang kommen soll, läßt man los, den Pfeil
(Ton) fliegen.
Das ist Furtwänglers Bewegung [macht die Dirigierbewegung vor]: erst
schnell, dann langsam, und dann läßt er es klingen.
So ist es bei allen guten Musikern, auch die Bewegung des Geigers ist so
[zeigt diese Bewegung]. Der Geiger gibt aus der Ruhe den Impuls, erzeugt die
Spannung, und der Klang kommt als Entspannung.
Diese Erkenntnis hat meine gesamte Musikauffassung völlig verändert. Wenn
ich in Orchestern spiele, schlagen die heutigen Dirigenten so [zeigt die
Bewegung], und das Orchester spielt hinterher. Sie können sich das bei YouTube
anschauen: Fast alle Dirigenten sind vor dem Orchester. Ich hatte eine
Information von der Mutter meines Lehrers. Sie hat Furtwängler dirigieren
gesehen, und ich fragte sie: „Was hat er anders gemacht als alle anderen
Dirigenten?“ Sie antwortete: „Er war immer hinterher.“
„Furtwänglers Musikinterpretationen liebte ich sehr und freute mich nun
darauf, ihn von der Bühne aus zu erleben. An seinen Dirigierstil mußte ich
mich erst gewöhnen, das hatte ich schon bei Konzerten gemerkt. Ich durfte mit
dem Einsatz nicht warten, bis er abwärts schlug, da mußte ich mich umstellen
und außerdem beim Tempo aufpassen.“
– Aus der Autobiographie der Sopranistin Erna Berger, „Auf den Flügeln
des Gesangs“
Er hat also darauf gewartet, daß der Klang kommt, und bringt ihn dann in
die richtige Form. Das ist für mich bei Furtwängler der große Unterschied zur
heutigen Dirigierweise.
Aber das verstehen, und eine Beethoven-Symphonie so zu dirigieren, das ist
natürlich zweierlei, das ist ein langer Weg!
Im piano und in den langsamen Tempi ist diese Vorbereitung anders
als bei der schnellen Vorbereitung. Bei der schnellen Vorbereitung sind fast
alle Dirigenten vor dem Schlag, aber nicht so Furtwängler. Sie können ihn im
Video beim Till Eulenspiegel [von Richard Strauss] sehen: Er bereitet
vor und läßt den Klang kommen. Es gibt noch sehr viel mehr zu entdecken.
Es ist kein Dirigieren aus dem Kopf alleine, sondern aus dem Charakter. Es
basiert auf Furtwänglers ästhetischen Empfindungen.
Friedrich Schiller beschreibt das in seinem Aufsatz Über Anmut und
Würde. Dort schreibt er, daß wir in der Kunst Charakterbewegungen
brauchen, er nennt das „sympathetische Bewegungen“. Das hier [imitiert das
„Auf-den-Punkt-Schlagen“] ist keine sympathetische Bewegung, das ist ein
Befehl.
Furtwängler macht Charakterbewegungen. Wenn man genau hinseht, macht er die
Vorbereitung auch im forte. Das überträgt sich ganz anders auf das
Orchester und hat mich sehr überrascht und fasziniert.
Lange habe ich vergeblich von Dirigenten und Orchestern erwartet und
gewünscht, daß irgendjemand versucht, den Weg zu diesem Dirigat und dieser
Interpretationsweise zu gehen. Nun sage ich mir: „Jetzt mußt du es selbst
machen.“
Im Konzert gestern hatten wir sehr gute Musiker, aber auch Studenten, die
noch am Anfang ihrer Studien sind und von alledem nichts wußten. Diese Art des
Dirigierens hat aus den Bewegungen heraus andere Momente schaffen können und
sie funktioniert. Man muß genau wissen, wie man es macht.
Einmal traf ich in Ulm auf der Straße die Leute vom Schiller-Institut, sie
hatten einen Stand mit Zeitungen, ich glaube über die BüSo. Sie haben mich
später angerufen, ich kam in Kontakt mit Lyndon, Helga [LaRouche], Benjamin
[Lylloff], und wir haben gemeinsam Ideen entwickelt, was für mich wunderbar
war, vielen Dank dafür.
Wir bleiben in Verbindung, und ich werde versuchen, diese Ideen zusammen
mit Benjamin umzusetzen. Vielleicht werden wir eine Schule gründen, um das zu
lehren.
Vielen Dank. (Applaus)
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