Anläßlich des 259. Geburtstags von Friedrich Schiller
Die tiefe moralische Krise des Westens,
oder warum wir eine Renaissance der klassischen Kultur brauchen!
Von Helga Zepp-LaRouche
Es ist typisch für das kurzsichtige Denken unserer Zeit, daß sich der BDI zwar
derzeit darüber sorgt, daß es einen „Systemwettbewerb“ zwischen „unserem Modell der
offenen Markwirtschaft und Chinas staatlich gelenkter Wirtschaft“ gebe, daß die
Chancen des wirtschaftlichen Austauschs zwar genutzt, die Abhängigkeiten vom
chinesischen Markt aber verringert werden sollten, daß selbst die mittelfristigen
Wettbewerbschancen jedoch vollkommen ignoriert werden. Und diese haben
offensichtlich nicht zuletzt mit den menschlichen Eigenschaften der künftigen
Arbeitskräfte zu tun, also der heutigen Kinder und Jugendlichen. Der Westen
befindet sich von diesem Standpunkt betrachtet in einer tiefen kulturellen Krise,
die gerade das Resultat jener „westlichen Werte“ ist, die uns angeblich anderen
Kulturkreisen so absolut überlegen machen sollen.
13 Tote und viele Verletzte bei einer Schießerei in einer Bar in Thousand Oaks
in Kalifornien, in der Ian David Long, ein Veteran des US Marine Corps, Amok lief,
sind nur das jüngste Beispiel in einem endlosen Alptraum in den USA, der so gut wie
täglich eine Fortsetzung findet. 2015 gab es 209 Massenschießereien, 2017 bereits
346, und dieses Jahr schon über 300 – inzwischen gibt es schon Personen, die knapp
zwei solcher Horrorsituationen entkommen sind.
Die liberalen Medien sind schnell bei der Hand, die vermeintlich
Verantwortlichen zu finden: die National Rifle Association (NRA), und der zweite
Zusatz zur amerikanischen Verfassung, nämlich das Recht, Waffen zu tragen. Aber
diese Erklärung trägt nicht all den anderen Ausdrucksformen der Verrohung Rechnung,
vor allem bei immer jüngeren Kindern. Beispielhaft sei hier nur der Fall eines
15jährigen in Florida erwähnt, der seine Mutter erwürgte, weil ihm ihre Kritik an
seinen Schulnoten mißfiel, um sie dann in einer Schubkarre zu einem Lieferwagen zu
fahren, mit dem er sie zu einer Kirche in der Nähe fuhr und dort unter einer
Feuerstelle begrub. Mit Hilfe zweier Freunde inszenierte er dann einen Einbruch und
machte laut seinen eigenen Worten einen „Grammy-gewinnenden Anruf an 911“, die
allgemeine Notrufnummer in den USA.
Sogenannte „Roheitsdelikte“ finden nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks
statt, in Berlin wurde kürzlich ein Zehnjähriger von einem anderen Zehnjährigen
nach Vorankündigung auf einer Klassenfahrt vergewaltigt. Zwei Elfjährige hielten
das Opfer fest, zwei unbeteiligte Schüler sahen zu.
Natürlich gab es schon immer schockierende Fälle kriminellen Verhaltens, aber
niemand kann bestreiten, daß der durchweg ungehinderte Zugang selbst junger Kinder
zu allen Formen der Gewalt und Pornographie im Internet bei dem gleichzeitigen
Fehlen einer Erziehung, die ihnen ein inneres moralisches Urteilsvermögen
vermitteln würde, zu einer katastrophalen Verrohung geführt hat.
Die Folge ist ein völlig verkommenes Menschenbild, insbesondere von Frauen und
von Sexualität. Nimmt man noch die Fälle hinzu, in denen exzessives Videospielen zu
einem mehr oder minder autistischen sozialen Verhalten geführt hat, dann ergibt
sich für einen nicht geringen Anteil der nächsten Generationen eine sehr negative
Perspektive bezüglich ihres kreativen Potentials.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) gab soeben „angesichts der Verrohung der
Umgangsformen und aktueller Ereignisse wie jüngst in Chemnitz“ eine Forsa-Umfrage
in Auftrag, wie es um die Sicht von Eltern und Lehrern bezüglich der Werteerziehung
in Deutschland bestellt sei. Über 90 Prozent beider Gruppen betonten, daß diese
ihnen sehr wichtig sei, daß es aber bei der Umsetzung hapere. Andere Umfragen
ergaben, daß die Gewalt gegen Lehrer ein erschreckendes Ausmaß angenommen habe.
Lehrer würden zunehmend beschimpft, bedroht und attackiert, Ergebnisse der Umfragen
ergaben, „daß der Ton in der Gesellschaft rauher wird, die Sprache verroht,
Konflikte öfter und schneller eskalieren, Autoritäten nicht mehr anerkannt werden“.
Es handele sich um ein „gesamtgesellschaftliches Phänomen“ und gehe keineswegs
vorrangig von Menschen mit Migrationshintergrund aus.
Ob es sich um Veteranen handelt, die nach Kriegseinsätzen im Nahen Osten an
Posttraumatischem Streßsyndrom leiden – in den USA begeht alle 65 Minuten einer
dieser Veteranen Selbstmord –, oder um die virtuelle Erfahrung der Gewalt bei
Videospielen oder sogenannter Unterhaltung, in beiden Fällen wird die Hemmschwelle
gegenüber Gewalt bis hin zum Töten eines anderen Menschen auf gefährliche Weise
heruntergesetzt. Und obwohl dieser Trend seit langem offensichtlich ist, wird in
einer Gesellschaft, die so viel auf ihre „liberalen Werte“ hält – sprich: „Alles
ist erlaubt“ – nichts unternommen, um diesem Absturz in die grenzenlose Dekadenz
Einhalt zu gebieten.
Im völligen Kontrast dazu hat die chinesische Regierung kürzlich Hip-Hop-Musik
und banale Quiz-Shows verboten, da die Schlagertexte ein degradierendes Frauenbild
vermittelten und die Shows die Kreativität der Zuschauer verhinderten. Noch
wichtiger: Präsident Xi Jinping betonte vor kurzem in einem Brief an acht
Professoren der Zentralen Akademie der Schönen Künste (CAFA) die außerordentliche
Bedeutung der ästhetischen Erziehung für das gesunde Wachstum der Jugend Chinas,
sowohl in physischer als auch geistiger Hinsicht. Die ästhetische Erziehung spiele
eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines schöneren Geistes, sie erfülle
die Studenten mit Liebe und fördere das Schaffen großer Kunstwerke.
In China geht die Bedeutung der ästhetischen Erziehung auf Konfuzius zurück,
aber auch in der modernen Geschichte widmeten sich bedeutende Gelehrte und Erzieher
der Anwendung dieser Methode mit dem Ziel der moralischen Veredlung der Schüler und
Studenten.
Einer der Begründer der modernen Ästhetik, Wang Gouwei, ein Gelehrter am
Qinghua-Institut für chinesische Studien, verschrieb sich der Erforschung des
Elends der Menschen, das seiner Erkenntnis nach von der Begierde komme. Die
Begehrlichkeit mache die Menschen unglücklich, sie treibe sie dazu an, Dinge haben
zu wollen, was zu zwanghaften Verhalten führen könne, und beim Verlust der
angestrebten Objekte zum innerlichen Unglücklichsein und zu äußerlichen sozialen
Übeln führe. Ob es einen Weg gebe, diese Begehrlichkeit zu besiegen? Ja, sagt Wang
Guowei, das sei die Schönheit.
Zu einer ähnlichen Ansicht war schon der ehemalige Präsident der Peking
Universität, Cai Yuanpei, gekommen, der in einem Aufsatz vom 10. Mai 1919 schrieb:
„Ich glaube, daß die Wurzel der Probleme unseres Landes in der Kurzsichtigkeit von
so vielen Leuten liegt, die schnellen Erfolg oder schnelles Geld ohne irgendeine
höhere moralische Denkweise haben wollen. Die einzige Medizin ist die ästhetische
Erziehung.“
In der gleichen philosophischen Tradition schrieb Zhu Guangqian in seiner
Schrift: „Ästhetik erklärt“, daß die Probleme der Gesellschaft darin lägen, daß die
Herzen der meisten Menschen schlecht seien. Um die Herzen der Menschen zu reinigen,
müsse man den Geist und die Seele kultivieren, höhere und reinere Ziele setzen, als
nur reich werden oder schöne Kleider oder eine hohe Regierungsposition haben zu
wollen. Um den Geist einer Person zu läutern, müsse man zuerst ihr Leben
verschönern.
Dieser Aufgabe ist das gesamte Werk Friedrich Schillers gewidmet; der Veredlung
des Menschen durch die ästhetische Erziehung. Aber vor allem in seinen Ästhetischen
Briefen, die er als Reaktion auf die absolute Verrohung der Französischen
Revolution durch den Terror der Jakobiner geschrieben hatte, beschäftigte er sich
mit der Frage, woher die Veredlung der Menschen kommen könne, wenn die Regierungen
korrupt und die Massen verroht seien. Einzig und allein die große klassische Kunst
sei dazu in der Lage, weil sie den unfehlbaren Schlüssel zu den höchsten Regungen
der menschlichen Seele besitze und das höchste Ideal der Menschlichkeit überhaupt
aufstellen könne. In der Vorrede zur „Braut von Messina“ führte Schiller aus, daß
die große klassische Kunst in der menschlichen Seele eine Kraft wecke, die auch
bleibe, wenn das Erleben des Kunstwerks bereits abgeschlossen ist.
Wenn der Westen mit seiner Kultur des „Alles ist erlaubt“ so weitermacht, dann
ist schon jetzt klar, wer den „Systemwettbewerb“, von dem der BDI spricht, gewinnen
wird. Denn China tut enorm viel, um die 5000 Jahre alte Kultur möglichst vielen
Bürgern nahe zu bringen, und Xi Jinping setzt sich persönlich für die Verbreitung
der konfuzianischen Philosophie in alle Poren der Gesellschaft ein.
Wir im Westen haben in jedem Fall ein riesiges Problem, weil wir seit dem durch
den Kongreß für Kulturelle Freiheit, die Frankfurter Schule und die 68er bewirkten
Paradigma- Wandel bereits mehrere Generation hatten, die sich bewußt gegen die
Ideale unserer klassisch- humanistischen Tradition gerichtet haben. Trotzdem wird
es nur möglich sein, die kulturelle und moralische Krise zu überwinden, wenn wir zu
den Idealen von Nikolaus von Kues, Leibniz, Lessing, Schiller und von Humboldt,
Bach und Beethoven – um nur einige zu nennen – zurückkehren und diese
einschließlich der großen Werke der klassischen Kunst an die gegenwärtige und die
kommenden Generationen vermitteln.
Sie, lieber Leser, können den 259. Geburtstag von Friedrich Schiller nicht
besser feiern, als sich dem Schiller-Institut anzuschließen.
zepp-larouche@eir.de
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