Die amerikanische Verweigerung einer multipolaren Welt macht den Übergang
schmerzhaft
Von Alain Corvez
Oberst a.D. Alain Corvez ist ehemaliger Berater des
französischen Verteidigungs- und Innenministeriums sowie von UNIFIL.
Die Welt ist in eine Phase ständiger Turbulenzen eingetreten, infolge der
immer brutaleren Konfrontation zwischen der alten, von den USA dominierten
unipolaren Welt – eine Dominanz, die durch den Kollaps der Sowjetunion
gerechtfertigt war, die bis dahin ihr einziger wirklicher Gegner im
Gleichgewicht des nuklearen Schreckens war; einer unipolaren Welt, die sich
weigert, die neue Realität des Entstehens anderer Mächte zu akzeptieren, die
logischerweise ihre eigenen Forderungen an die Führung in der Welt haben.
Diese multipolare Welt ist seither eine unvermeidliche Realität geworden,
und der Kandidat Trump hat dies offenbar während seines Wahlkampfs verstanden.
Die Länder, die sich unter der anfänglichen Bezeichnung BRICS versammelt
haben, organisieren sich auf strategischer und wirtschaftlicher Ebene, um eine
neue Welt der Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten anzustreben; einige
Staaten sind Nuklearmächte, andere klassische Mächte, die einen wichtigen
Einfluß ausüben, wie Brasilien, Südafrika und Iran.
Getrieben von dem amerikanischen „deep state“, sah sich Präsident Trump
nach seiner Wahl gezwungen, die repressive Politik der versteckten Oligarchie
zu betreiben, die tatsächlich die Vereinigten Staaten regiert, und die
Grausamkeiten gegen Staaten zu verstärken, die ihre Vormachtstellung
anfechten, die durch nichts mehr gerechtfertigt ist: Schläge gegen Syrien bei
verschiedenen Anlässen unter fadenscheinigsten Vorwänden, Drohungen, Nordkorea
unter einer Welle von Feuer und Blut verschwinden zu lassen, robuste
Interventionen in verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Somalia, Jemen
(zusammen mit ihrem saudischen Verbündeten), Afrika, wo sie ihre
Militärpräsenz verstärkt hatten, Drohungen, das gleiche in Kuba und Venezuela
zu veranstalten.
Kurz, die Vereinigten Staaten wollen die Unipolarität der Welt wider alle
Vernunft ausdehnen, dabei angeregt und sogar getrieben von Israel, das sich
seine Existenz nur in permanentem Konflikt mit seinen Nachbarn vorstellen
kann, ungeachtet der UN-Resolutionen, die zur Zurückhaltung gegenüber der
einheimischen palästinensischen Bevölkerung auffordern, die es rücksichtslos
unterdrückt und der es die grundlegendsten Rechte verweigert. Die Brutalität
seines Verhaltens gibt uns zu denken, daß dieser Schurkenstaat weiß, er
repräsentiert eine geopolitische Inkongruenz, die von den meisten Nationen
verurteilt wird und die nur möglich ist wegen der bedingungslosen
Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, deren Politik er durch die
Finanzmacht seiner zionistischen Netzwerke kontrolliert.
Um die repressive Seite dieser Politik zu untermauern, verletzte Donald
Trump das Völkerrecht erneut, indem er entschied, die amerikanische Botschaft
nach Jerusalem zu verlegen und den von seinem Vorgänger und fünf Mitgliedern
des UN-Sicherheitsrats plus Deutschland am 14. Juli 2015 mit dem Iran
unterzeichneten Vertrag aufzukündigen. Die USA werfen dem Iran vor, für den
islamischen Terrorismus verantwortlich zu sein, während im Gegenteil der Iran
an vorderster Front dagegen kämpft und die USA einen wachsenden schädlichen
Einfluß im Nahen Osten ausüben, der paradoxerweise das Ergebnis der
militärischen Interventionen im Irak und Jemen durch Trumps Vorgänger ist.
Europa sieht seinem Schicksal ins Auge: ein historischer Augenblick
In diesem kriegstreiberischen Umfeld sieht sich die Europäische Union in
einem entscheidenden Moment ihrer Geschichte, zerrissen zwischen ihrem
Atlantizismus, der seit ihrer Gründung durch Verträge verstärkt wurde, die sie
an die Atlantische Allianz und die NATO binden, einerseits, und andererseits
ihren wirtschaftlichen und strategischen Interessen, die sie zu einer Entente
und Zusammenarbeit mit dem Iran und Rußland bringt.
Die EU war in den Augen der Vereinigten Staaten im letzten Krieg eine
„Festung“, die sie kontrollieren mußten, ursprünglich gegen die UdSSR und
heute gegen Rußland. Es ist offensichtlich, daß die europäische Führung nicht
weiß, wie sie sinnvoll auf die amerikanische Aufkündigung des Nuklearabkommens
mit dem Iran reagieren soll. Sie versucht, die amerikanischen Sanktionen gegen
ihre Unternehmen zu umgehen, die wichtige Geschäfte in diesem Land betreiben,
ohne jedoch die perverse Bindung an ihren Verbündeten auf der anderen Seite
des Atlantiks abzubrechen. Unter dem Druck dieser Sanktionen und der
öffentlichen Meinung in den Mitgliedsstaaten, die ihre wirtschaftlichen
Richtlinien scharf kritisieren, ist die EU in ihren Grundfesten erschüttert.
Der Augenblick scheint für sie gekommen zu sein, endlich zu begreifen, daß
ihre Interessen denen der imperialistischen USA entgegengesetzt sind und daß
sie sich von dieser tödlichen Bevormundung emanzipieren muß. Der Rückzug
Donald Trumps aus dem Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan (JCPA) ist der
erwartete Moment, um endlich das Europa der Nationen aufzubauen, das General
de Gaulle wollte. Ansonsten wird es der impotente Wirtschaftsriese bleiben,
der es seit seiner schlecht durchdachten Vergrößerung politisch geworden ist,
denn die EU ist lediglich eine technokratische Organisation, die aufgrund
ihrer supranationalen und föderalen Formen, die für die Diversität von Völkern
und Nationen, aus denen sie besteht, völlig ungeeignet sind, zu keiner
politischen Existenz fähig ist.
Es ist traurig, sich daran zu erinnern, daß der General all dies bereits
vorausgesagt hatte, wie André Malraux in seinem Buch Les Chênes qu'on
abat... (dt: „Eichen, die man fällt“) berichtet. Es ist die Geschichte
seines vortrefflichen Dialogs in Colombey am 11. Dezember 1969, weniger als
ein Jahr vor dem Tod des Generals:
„Ich empfand es nie als gut, das Schicksal eines Landes jemandem
anzuvertrauen, der verschwindet, wenn das Land bedroht wird. Übertragen wir
ihm lieber [die Verantwortlichkeit für] Europa! … Letztendlich habe ich getan,
was ich konnte. Wenn wir mit ansehen müssen, daß Europa stirbt, so soll es so
sein; das geschieht nicht alle Tage.“
Es scheint jedoch nicht so zu sein, daß die EU die Richtung der
Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten einschlägt, wenn man sieht, daß
Frankreich die USA in Syrien unterstützt, indem unsere Armee illegal
losgeschickt wird, um das amerikanische Vorgehen gegen die von Präsident
Baschar al Assad vorgeschlagene politische Lösung zu decken, welche von
Rußland, dem Iran und der Türkei unterstützt wird, auch wenn die Rolle der
letzteren zweideutig bleibt. Allen ist klar, daß die amerikanisch-europäische
Option, Syrien aufzuspalten und seinen rechtmäßigen Präsidenten zu beseitigen,
gescheitert ist, und daß wir gut beraten wären, unsere Diplomatie darauf
auszurichten, endlich den Dialog mit Syrien unter Baschar al Assad
wiederaufzunehmen.
Ganz ähnlich warten wir nach wie vor darauf, daß die französische
Regierung die Verbrechen verurteilt, die von Saudi-Arabien mit Unterstützung
der Vereinigten Staaten und Großbritanniens im Jemen begangen werden;
schlimmer noch, wir haben kürzlich erfahren, daß der französische Präsident
entschieden hat, die französische Armee nach dem Jemen zu schicken, um die
Minen am Hafen von Hodeidah zu räumen, dem wichtigsten Zugang für alle
humanitäre Hilfe. Wenn dies ein Versuch ist, eine Vermittlerrolle zwischen den
verfeindeten Lagern zu spielen, wären wir hocherfreut, aber wenn dies eine
Reaktion auf saudische und emiratische Forderungen ist, was wohl
wahrscheinlicher ist, dann wäre dies einmal mehr eine Parteinahme für die
arabischen Verbündeten der USA in Opposition zum Iran, mit dem wir angeblich
unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu erhalten
versuchen.
Es ist also nicht kohärent, wenn man behauptet, wir seien das Land der
Menschenrechte, wenn man gleichzeitig die Diktaturen am Golf und ihre
Verbrechen im Jemen unterstützt und nicht nur den Iran, sondern auch alle
anderen Länder vor den Kopf stößt, die die grausame Zerstörung eines armen,
aber schönen Landes, der Wiege des Arabismus und Hüter arabischer und sogar
universeller Kulturreichtümer, ablehnen. Sein uraltes archäologisches Erbe
geht in Rauch und Flammen auf durch Flugzeugangriffe, Bomben und verschiedene
andere Waffen der Saudis und der Emirate, die für Milliarden von Dollars im
Westen eingekauft wurden. Das jüngste Treffen in Paris, zu dem alle
Kriegsparteien zusammenkamen, kann diese Inkohärenz nur unterstreichen.
Kriegsgrollen
Die Kriegsdrohungen gegen den Iran, die von Israel und seinen
amerikanischen Golf-Verbündeten ausgestoßen werden, werden immer präziser.
Aber die Strategen in Washington und Tel Aviv wissen sehr wohl, daß der Iran
inzwischen militärisch zu stark geworden ist und starke Verbündete hat, wie
Rußland und China. Selbst ohne Kernwaffen schreckt der Iran seine Feinde mit
zerstörerischen Gegenschlägen ab, die er bei einem Angriff lancieren
kann.
Wenn man die verschiedenen Provinzen des Iran besucht, kann man überdies
feststellen, daß das Land vorbereitet ist. Seine administrativen,
wirtschaftlichen, sozialen und Sicherheitseinrichtungen funktionieren in allen
Städten gut; eine Subsistenzwirtschaft ist aktiv trotz der 30jährigen
Sanktionen, und Donald Trumps Projekt, das in Wirklichkeit auf einen
Regimewechsel abzielt, ist bereits gestorben, bevor es überhaupt begonnen hat,
denn alle Iraner haben unter den jetzigen Widrigkeiten ihre Unterstützung für
ihre Führung verstärkt.
In Korea hat sich die amerikanische Regierung nach anfänglichen
Beleidigungen seltener Vulgarität seit September letzten Jahres besonnen, da
sie verstanden hat, daß sie ein Land nicht länger militärisch in Schranken
halten kann, das Kernwaffen und Atomraketen besitzt, die das Gebiet der
Vereinigten Staaten erreichen können. Trump erklärte sich zu Verhandlungen
bereit, deren erster Schritt das Treffen beider Präsidenten in Singapur am 8.
Juni war.
Singapur und die Geburt einer neuen Welt?
Der Gipfel zwischen Kim Jong-un und Donald Trump war für beide
Präsidenten ein Medienerfolg und läßt die Hoffnung aufkommen, daß eine neue
Ära der Beziehungen zwischen den Nationen eingeleitet wurde, die den jetzigen
militärischen Zwang zur Durchsetzung der Ansichten des vermeintlich Stärkeren
durch eine Konfliktlösung mittels Dialog und Verhandlungen ersetzt.
Aber hüten wir uns vor einer falschen Analyse: Der Gipfel erfolgte unter
den von Kim Jong-un gesetzten Bedingungen, denn der koreanische Präsident
hatte nukleare Abschreckung in seinem Verhandlungskoffer, was die USA aus
Angst vor Vergeltung daran hinderte, Korea anzugreifen. Ansonsten wäre Korea
„in einer Flut aus Blut und Feuer“ zerstört worden, wie es ein Donald Trump
versicherte, der letztlich verstanden hat, daß nur Verhandlungen diese
Konfrontation beenden könnte. Es war Abschreckung durch einen „Schwachen gegen
den Stärkeren“, die hier ins Spiel kam; der Schwächste wurde unangreifbar
aufgrund der unerträglichen Zerstörungen, die er seinem Angreifer zufügen
kann.
Kim weiß um Trumps Neigung, internationale Verträge zu zerreißen, die
sein Land einmal unterschrieben hat, und er wird sein Nukleararsenal nicht
aufgeben, bevor er nicht als Gegenleistung die Entmilitarisierung der
Halbinsel und die Aufhebung aller gegen sein Land verhängten Sanktionen
erreicht hat. Er hat seine Weitsicht genügend unter Beweis gestellt und ist in
der Lage, entweder Gewalt oder Öffnung anzuwenden, so daß wir sicher sein
können, daß er seine Druckmittel nicht aus der Hand geben wird, bevor er
erhält, was er will: Eine friedliche Verständigung mit seinem südlichen
Nachbarn, der dazu ebenfalls bereit ist. Jüngste Absprachen haben bereits den
enormen Fortschritt in diese Richtung gezeigt -Entmilitarisierung der gesamten
Halbinsel, d.h. auch die Auflösung der US-Militärbasen zusammen mit ihren
THAAD-Systemen.
All das wird zwangsläufig zu einer Distanzierung Südkoreas von den
Vereinigten Staaten, zumindest in Verteidigungsfragen, und zu einer Annäherung
an China führen, das zweifellos seine guten Dienste anbieten wird. Rußland
wird auch sicherlich zu diesem Prozeß beitragen, aber auch Indien und andere
Länder werden diesen Prozeß hin zu einer gelasseneren Welt begleiten, in der
nicht militärische Gewalt herrscht, sondern Wirtschaftskooperation die
Entwicklung eines jeden ermöglicht und unausweichliche Interessenkonflikte
durch konstruktiven Dialog überwunden werden.
Japan seinerseits, das mit dem Norden und dem Süden der Halbinsel wegen
seiner geographischen Nähe und durch das Thema Unfrieden gleichermaßen direkt
befaßt ist, wird seine Diplomatie und seine Verteidigung anpassen müssen, d.h.
sich von den USA distanzieren und sich China annähern. Jüngste Erklärungen
zeigen, daß sich Japan zunehmend in einen Detente-Prozeß mit seinen Nachbarn
begeben könnte, da es verstanden hat, daß die Zukunft der Region und die der
übrigen Welt in der Beilegung von Interessenkonflikten durch Dialog und
Verhandlungen liegt und nicht länger durch Krieg, denn letzterer ist durch die
Realität von Kernwaffen unmöglich geworden – ein wirkliches Damoklesschwert,
von dem sich der Planet jedoch eines Tages befreien wird.
Durch die Ankündigung über die Schaffung eines neuen Spacewar-Kommandos
am 18. Juni hat sich die amerikanische Regierung nicht gerade dem Frieden
zugewandt und hat damit einen weiteren Vertrag verletzt, den aus dem Jahr
2015, der den Einsatz von Massenvernichtungswaffen im Weltraum
untersagt.
Die wichtigen Abkommen, die auf dem jüngsten Gipfel der Shanghai
Cooperation Organisation (SCO) am 9.-10. Juni in Qingdao verabschiedet wurden,
zeigen, daß die BRICS und ihre Verbündeten sich organisieren und eine Entente
anstreben, um eine neue Welt aufzubauen, der mehr und mehr Nationen sich
anschließen wollen – eine Welt, die aus vielerlei Formen der Zusammenarbeit
besteht. Der Erfolg dieses Gipfels ist um so beeindruckender, wenn man an das
totale Scheitern der G-7 in Kanada denkt, auf dem die Europäer gegeneinander
und gegen die USA kämpften, und die Japaner nur erstaunt zuschauten.
Die SCO zieht immer mehr Nationen an, die in ihr ein Mittel politischer,
wirtschaftlicher und strategischer Kooperation sehen, was sie gegen die
imperialistischen Ambitionen der USA rückversichert. Die SCO kann über die
alten Rivalitäten unter Staaten hinausgehen und Ziele vorgeben, die allen
nützen. Das ist beispielsweise der Fall für Indien und Pakistan, ständige
Mitglieder neben China, Rußland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan,
Usbekistan, d.h. acht Länder, die insgesamt über 3 Mrd. Einwohner zählen. Wenn
man noch die 125 Mio. Einwohner der vier Länder mit Beobachterstatus
hinzunimmt, Iran, Afghanistan, die Mongolei und Weißrußland, kommt die SCO auf
3,2 Mrd. Einwohner, mehr als 42% der Weltbevölkerung und nach den Statistiken
des IWF mehr als 37.000 Mrd. Dollar Wirtschaftsleistung.
Der Gipfel vom 9.-10. Juni zeigte volle Unterstützung der
Mitgliedsstaaten für den Iran, insbesondere von China und Rußland, und ihre
feste Absicht, nachhaltige Handelsbeziehungen mit der Islamischen Republik
Iran zu entwickeln – über die üblichen strategischen Konvergenzen hinaus, die
bekräftigt wurden.
Schluß
Wie General de Gaulle 1964 vor mexikanischen Studenten sagte: Wenn wir
uns nicht in einer schrecklichen nuklearen Katastrophe zerstören, ist die
Zukunft der Welt gekommen, weil sie die Zukunft des Menschen ist und damit der
Zusammenarbeit zwischen den Staaten und der Hilfe des Stärksten für den
Schwächsten. „Jenseits der Entfernungen, die kürzer werden, der Ideologien,
die sich auflösen, der Politik, der die Luft ausgeht und solange sich die
Menschheit nicht eines Tages durch ungeheure Zerstörung auslöscht, ist die
Tatsache, die die Zukunft bestimmen wird, die Einheit unseres Universums; ein
Anliegen, das des Menschen; eine Notwendigkeit, die des weltweiten
Fortschritts und damit der Hilfe an alle Länder, die sie für ihre Entwicklung
wünschen; eine Pflicht, die des Friedens – das sind für unsere Gattung die
eigentlichen Bedingungen des Lebens.“
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