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Friedrich Schiller



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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Kraft zur Liebe

Ein besonderer Tribut zur Ehrung von Dr. Martin Luther King

Von Dennis Speed

    „Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und die schöpferischen Kräfte, durch die wir gültige revolutionäre Prinzipien des Universums entdecken können, bilden ein nahtloses Ganzes, in dem klassische Kultur, Moral und Naturwissenschaften durch eine gemeinsame Leidenschaft für universelle Gerechtigkeit und Wahrheit vereint sind. Wo sind die Männer und Frauen, die fähig sind, anstelle der ,gängigen Meinungen’ der Herrschaft der Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit den Weg zu bahnen?“
    – Lyndon LaRouche, „Das Wesen des Moralischen“, 1998

„Kraft zur Liebe: Konzert für Einigkeit – ein besonderer Tribut zur Ehrung von Martin Luther Kings Zukunftsvision“ – so lautete der Titel des Konzertes zum Martin-Luther-King-Gedenktag am 15. Januar als Höhepunkt eines zweitägigen Kongresses, den das Schiller-Institut und die Stiftung zur Wiederbelebung der Klassischen Kultur (Foundation for the Revival of Classical Culture) im New Yorker Stadtteil Brooklyn veranstalteten. Italienische Opernarien von Giuseppe Verdi, deutsche Lieder von Franz Schubert und Johann Sebastian Bach sowie afroamerikanische Spirituals in Fassungen für Chor und Solostimme bildeten zusammen das Repertoire des Konzerts.

Den 350 Zuhörern wurde zudem die Kantate The Life of Christ (Das Leben Christi) präsentiert, die der berühmte Tenor Roland Hayes 1948 komponierte. Sie umfaßt zehn Stücke, denen der Aufführende weitere Lieder nach Wahl hinzufügen kann.

Zu dem besonderen Anlaß wählte das dreistimmige Ensemble aus den Tenören Everett Suttle und Reginald Bouknight und dem Bariton Frank Mathis vier Stücke aus, die zusätzlich zu den zehn Kernstücken aufgeführt wurden. Eine vierte Stimme, die von Roland Hayes selbst als Erzähler, übernahm die Mezzosopranistin Elvira Green. Das Quartett wurde am Klavier begleitet von dem Sänger, Dirigenten und künstlerischen Leiter des Harlem Opera Theatre, Gregory Hopkins.

Green und Hopkins arbeiteten jahrzehntelang mit der bekannten Gesangspädagogin Sylvia Olden Lee zusammen, der ersten Afro-Amerikanerin, die von der New Yorker Metropolitan-Oper angestellt wurde. Lee war fast zehn Jahre lang bis zu ihrem Tod 2004 Mitglied im Beirat des Schiller-Instituts.

Eine solche Aufführung von „Das Leben Christi“ gab es bisher nur sehr selten, vielleicht noch nie. Die Darstellung legte besonderen Wert auf den dramatischen Inhalt von Hayes’ Erzählung der Lebensgeschichte Jesu und auf den schlichten, ehrfürchtigen Charakter seiner Kompositionsweise. Hayes wollte ganz bewußt die Stimmung und auch annähernd die Form der Wochenkantaten heraufbeschwören, die Johann Sebastian Bach immer wieder neu für seine Leipziger Kirche komponierte. Die ineinander verschlungene Kombination der Stimmen des Quintetts hatte die Wirkung, daß das Publikum nicht bloß dem Spannungsbogen der einzelnen Lieder, sondern dem der gesamten Komposition folgte.

Monsignore Kieran Harrington von der Sankt-Josefs-Kathedrale, die das gesamte Konzert live im Internet übertrug, leitete die Aufführung mit einer kurzen Begrüßung und Andacht ein. Er betonte darin, solche Veranstaltungen unter dem Motto „Einigkeit“ könnten viel dazu beitragen, daß die Vision der Vereinigten Staaten internationaler wird und Amerika mehr Rücksicht auf die Kriegs- und Krisensituationen in aller Welt nimmt. Er nannte namentlich Syrien, Nigeria und Venezuela, wo für die Menschen Krieg, Terrorismus und wirtschaftliche Not Alltag sind.

„Einigkeit“ meint hier aber nicht das kindische „Warum können wir uns nicht einfach alle vertragen?“, sondern das Prinzip der Einigkeit der amerikanischen Republik, von dem der Gründervater Alexander Hamilton und sein engster Freund Gouverneur Morris in der von Morris verfaßten Präambel der amerikanischen Verfassung sprechen.

Monsignore Harrington bat dann die Ehrengarde der New Yorker Polizei mit dem Baßbariton William Bove, das Lied God Bless America anzustimmen. Wie Dennis Speed als Sprecher des Schiller-Instituts dem Publikum anschließend erläuterte, war dies eine spezielle Ehrung der 64 Mitglieder des weltberühmten russischen Alexandrow-Ensembles, die am Weihnachtstag 2016 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Das Alexandrow-Ensemble seinerseits hatte dasselbe Stück am 10. Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001 zu Ehren der Vereinigten Staaten und der New Yorker Polizei aufgeführt. Die Ehrengarde der New Yorker Polizei unter der Leitung von Lieutenant Tony Giorgio hatte bereits an einer Gedenkfeier für das Alexandrow-Ensemble mitgewirkt, die das Schiller-Institut am 7. Januar am Fuß des „Tränen-Denkmals“ in Bayonne/New Jersey gegenüber Manhattan veranstaltet hatte.

In gewissem Sinne hatten alle Beiträge des Konzerts die Form eines Gebets. Vielen im Publikum war bewußt, daß 2017 der 50. Jahrestag der berühmten Rede von Dr. Martin Luther King gegen den Vietnamkrieg ist, die er am 4. April 1967 in der New Yorker Riverside Church hielt. Diese Rede war außerordentlich mutig. Die Massenmedien, unter anderem die New York Times, griffen King an, seine Spendeneinnahmen versiegten und sein Ansehen sank auf einen Tiefpunkt. King hatte wegen der radikalen Slogans der Black-Power-Bewegung schon an Einfluß verloren, und aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung wurde ihm vorgeworfen, mit seiner kontroversen Haltung zum Vietnamkrieg und seinem gleichzeitigen Einsatz für die streikenden Müllmänner in Memphis/Tennessee übernehme er sich. Als er am 3. April 1968 seine letzte Rede hielt, war er nicht mehr der beliebte Friedensnobelpreisträger vom Dezember 1964. „Er ward verachtet und verschmäht“ (Zitat aus Händels Messias) von seinen früheren Unterstützern im liberalen Establishment.

Die von den Sopranistinnen Indira Mahajan und Gudrun Bühler vorgetragenen beiden deutschen Lieder - Schuberts Ave Maria und Bachs Bist du bei mir - hatte man nicht ausgewählt, weil sie relativ bekannt sind, sondern weil beides Gebete sind, die sich mit dem Tod beschäftigen. „Bist du bei mir / geh ich mit Freuden / zum Sterben / und zu meiner Ruh“, heißt es in Bachs Stück. Indira Mahajans Aufführung des bekannten katholischen Gebets Ave Maria, das heute in den Kirchen nur noch selten in lateinischer Sprache zu hören ist, wurde von den Zuhörern besonders aufmerksam verfolgt und wertgeschätzt.

Die darauf folgenden Stücke aus Verdis Opern Don Carlos (nach dem Schauspiel von Schiller) und Othello (nach dem Drama von Shakespeare) waren ebenfalls Gebete: Das erste, Dio, che nell’alma infondere, ist gleichzeitig Gebet und Freiheitslied, ein Duett, in dem die beiden Figuren - gesungen von Frank Mathis und Everett Suttle - sich gegenseitig in ihrer Hingabe für die Sache der Freiheit bestärken. Das zweite, Desdemonas Lied an die Weide, eine der berühmtesten Arien der Oper, sang Gudrun Bühler so eindrucksvoll, daß das Publikum hinterher lange gebannt schwieg. Desdemonas Agonie, als sie ihren Tod durch ihren geliebten Othello erwartet - ein Schicksal, das sie weder verdient noch verursacht hat, aber nicht ändern kann -, ändert nichts an ihrer Liebe zu ihm.

Gethsemane in Memphis

Ähnlich wie bei Abraham Lincoln mit seiner Ansprache von Gettysburg und seiner Rede zur zweiten Amtseinführung gibt es auch zwei große Reden Martin Luther Kings, die sein öffentliches Leben und Wirken in Amerika entscheidend prägten. Seine Rede beim Marsch auf Washington zum Thema „Ich habe einen Traum“ (I have a dream) hielt er vor mehr als 250.000 Menschen, und sie wurde live im Fernsehen übertragen. Seine letzte Rede in Memphis, „Ich war auf dem Gipfel des Berges“ (I have been to the mountaintop), hielt er praktisch aus dem Stegreif, an einem regnerischen, stürmischen Abend, vor rund 600 Menschen in einer nur zu zwei Dritteln gefüllten Kirche, und viel weniger Menschen haben sie in ganzer Länge gesehen oder gehört. Ihr Schluß ist jedoch sehr bekannt:

    „Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute abend wissen, daß wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“1

Aber schon der Anfang der Rede macht deutlich, daß King Christus nacheifert und sich selbst auf die Bühne der Universalgeschichte stellt. Dies ist nicht bloß eine Entscheidung seines persönlichen Willens, sondern eines ontologischen Willens:

    „Ich freue mich über jeden von euch, der heute abend hier ist, trotz einer Sturmwarnung. Ihr zeigt, daß ihr in jedem Fall weitermachen wollt. Es geschieht etwas in Memphis, es geschieht etwas in unserer Welt. Wißt ihr, wenn ich am Anfang der Zeit stünde und die Möglichkeit hätte, so etwas wie einen allgemeinen Überblick über die ganze Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag zu gewinnen, und wenn Gott, der Allmächtige, zu mir sagen würde: ‚Martin Luther King, in welchem Zeitalter würdest du gern leben?’, dann würde ich meinen geistigen Flug in Ägypten beginnen. Und ich würde Gottes Kinder beobachten bei ihrem wunderbaren Treck aus den dunklen Kerkern Ägyptens durch das Rote Meer, durch die Wüste zum Gelobten Land.

    Trotz dieses großartigen Anblicks würde ich dort nicht stehenbleiben. Ich würde mich weiterbewegen und meinen Geist zum Olymp erheben. Und ich würde Platon, Aristoteles, Sokrates, Euripides und Aristophanes um den Parthenon versammelt sehen bei ihren Diskussionen über die großen und ewigen Menschheitsfragen. Aber ich würde dort nicht stehenbleiben. Ich würde mich weiterbewegen, zur Blütezeit des Römischen Reiches... Aber ich würde dort nicht stehenbleiben. Ich würde sogar vordringen in das Zeitalter der Renaissance und einen kurzen Eindruck von den kulturellen und ästhetischen Leistungen der Renaissance erhalten. Aber ich würde dort nicht stehenbleiben... So seltsam es anmuten mag: Ich würde mich an den Allmächtigen wenden und sagen: ,Wenn Du mir erlaubst, nur ein paar Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leben, dann bin ich glücklich.’

    Freilich, das ist eine seltsame Erklärung...“

Kings Rede war nicht, wie die meisten glauben, der letzte Ausbruch wilder rhetorischer Ekstase eines Predigers, sondern ein bewußtes und optimistisches Annehmen des Kelches von Gethsemane, 43 Minuten lang. Sie ist ein beispielhafter Akt des Mutes, vergleichbar der historischen Jeanne d’Arc, deren Handeln direkt in die Gründung der französischen Nation mündete.

Der Mord, der keine 24 Stunden später an King verübt wurde – von mehreren Tätern, nicht vom angeblichen Einzeltäter James Earl Ray, der später vehement bestritt, Kings Henker gewesen zu sein, und ein Buch mit dem Titel Wer tötete Martin Luther King mitverfaßte – kam für ihn nicht unerwartet, sicher auch nicht herbeigewünscht, doch er fürchtete ihn nicht. King schöpfte seine Kraft aus der inneren Musik seiner Mission, für die Sache der Freiheit zu handeln. Nicht nur King kannte diese Kraft; sie war die Quelle der Intention, die den afro-amerikanischen Spirituals innewohnt, wie er wohl wußte. Kings Fähigkeit, diese Kraft in seinen Hörern – nicht nur Afro-Amerikanern – zu wecken, erwuchs aus seiner Fähigkeit, wie sie auch Roland Hayes besaß, den göttlichen Funken zu hören: nicht Resignation, sondern die optimistische Überwindung der Sklavenmentalität.

Hayes’ Komposition Das Leben Christi wurde ausgewählt, um dem Publikum diese Neueinschätzung der letzten Stunden Martin Luther Kings zu vermitteln. Hayes’ einzigartige Erfahrungen mit den klassischen Wurzeln des afro-amerikanischen Spirituals – klassisch in dem Sinne, wie das Schiller-Institut und die Stiftung für die Wiederbelebung der Klassischen Kultur diesen Begriff verwenden – macht dies zum besten Rahmen, um Martin Luther Kings „Nachfolge Christi“ in den letzten Stunden seines Lebens psychologisch wahr darzustellen.

Als all jene, die bewußt und in voller Absicht daran mitwirkten, die Sklaverei als Institution zu erhalten, mit ihren gesamten gesellschaftlichen Institutionen – außer den Sklaven – zu Bestien wurden, machte die Erfindung des afro-amerikanischen Spirituals es möglich, daß Amerika dennoch seine Menschlichkeit bewahrte. Die Aufführung von drei Spirituals zu Beginn des Programms mit dem Öffentlichen Chor des Schiller-Instituts in New York, unter der Leitung der Gründerin und Mitleiterin der Gruppe Diane Sare, vermittelte diese Idee, vor allem das Spiritual Soon Ah Will Be Done With the Troubles of the World. Der Chor, der das Konzert eröffnete, nahm anschließend Platz im Publikum.

Das Schiller-Institut beabsichtigt, sein „singendes Publikum“ in den kommenden Monaten auf 1500 Teilnehmer auszuweiten, um den Paradigmenwandel herbeizuführen, der mit der neuen wirtschaftlichen Plattform, die jetzt erreicht werden muß, einhergehen muß.

Es ist für die Vereinigten Staaten lebenswichtig, daß tragende Elemente der amerikanischen klassischen Kultur wie das afro-amerikanische Spiritual, wie es von Roland Hayes, Sylvia Lee, Hall Johnson, Harry Burleigh und Antonin Dvorak entwickelt, erhalten und aufgeführt wurde, es den Bürgern heute wieder möglich machen, „auf dem Berg zu stehen“, auf dem auch Moses und Martin Luther King standen.


Anmerkung

1. Zitiert nach: King, Martin Luther: Testament der Hoffnung: letzte Reden, Aufsätze u. Predigten von Martin Luther King. Eingel. u. übers. von Heinrich W. Grosse. - Orig.-Ausg., 4. Aufl., (25.-32. Tsd.). - Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1981.