Was Europa zum neuen Weltparadigma beitragen sollte
Von Jacques Cheminade
Der ehemalige französische Präsidentschaftskandidat Jacques
Cheminade eröffnete den dritten Abschnitt der Frankfurter Konferenz des
Schiller-Instituts am 26. November 2017 mit dem folgenden Vortrag.
„Europa, Europa, Europa!“ „Man kann natürlich auf seinem Stuhl hoch und
runter springen und wie ein Zicklein vor sich hin meckern: ,Europa, Europa,
Europa!’, aber das führt zu nichts und bedeutet nichts.“
Diesen provokanten Satz sagte General de Gaulle in einem Interview am 14.
Dezember 1965. Noch heute behaupten einige, als de Gaulle so reagierte, sei es
ihm nur um Frankreichs große politische Pläne und Ansehen gegangen, während
andere so tun, als hätten ihn vor allem kommerzielle und wirtschaftliche,
insbesondere landwirtschaftliche Motive bewogen – eine protektionistische
Auffassung nationaler Interessen, die gegen alle übrigen Nationen geltend
gemacht würden. Beides ist falsch.
Es ist jetzt unverzichtbar, daß die europäischen Nationen sich fragen,
warum beides falsch ist, denn das wirft die Frage auf, was ein Nationalstaat
und eine Region der Welt wie Westeuropa eigentlich ist. Es ist die erste
Frage, die man stellen muß, um seine Aufgabe zu begreifen – nämlich was wir
tun könnten und sollten, um das neue Paradigma, unsere Weltlandbrücke, zu
realisieren. Tatsächlich ist es unverzichtbar, erst die Quelle zu
identifizieren, um zu verstehen, was aus ihr herausströmen könnte und sollte.
Um so mehr, als es eben dieser Charles de Gaulle war, der nach der Anerkennung
der Volksrepublik China im Januar 1964 mit recht prophetischen Worten
erklärte, was sich kein anderer vorstellen konnte: „Es ist nicht
ausgeschlossen, daß China einmal wieder das werden wird, was es in vergangenen
Jahrhunderten war: die größte Macht im Universum.“
Was de Gaulle ablehnte, war eine supranationale Institution und ein
pseudoföderales Modell der Integration, das sich gegen das Prinzip des
Nationalstaats als solches richtete. Er wußte, was Solidarität bedeutet – im
Gegensatz zu dem, was in der jetzigen Europäischen Union geschieht: ein
gemeinsames Ziel zu verfolgen und Solidarität auf gegenseitigem Verständnis zu
gründen, anstatt die Souveränität der Nationen zu untergraben. Er sagte seinem
Pressesprecher Alain Peyrefitte: „Was die Angelsachsen wollen, ist ein
uferloses Europa, ein Europa, das keine Ambition mehr hätte, es selbst zu
sein. Ein Europa ohne Grenzen, ein Europa à l’anglaise... Ein Europa, in dem
jedes europäische Land, angefangen mit unserem eigenen, seine Seele
verlöre.“
Das entscheidende Wort hier ist „Seele“. Denn wenn Europa heute zur Neuen
Seidenstraße und zur Weltlandbrücke beitragen kann, dann mit der Seele jeder
einzelnen seiner Nationen, mit der Seele seiner großen Komponisten, Dichter,
Philosophen und Staatsmänner, mit ihrer Wissenschaft, ihrer Kunst und ihrer
Technik, aber nicht mit dem sterilen Produkt eines künstlichen Gebildes, das
von einer monetaristischen Bürokratie regiert wird. In diesem Sinne war de
Gaulle definitiv und absolut proeuropäisch. In demselben Interview, in dem er
seine so oft falsch interpretierte Äußerung über die Zicklein machte, sagte er
auch:
„Solange ich Franzose bin, bin ich ein Europäer. Angesichts der Tatsache,
daß wir hier in Europa sind – und ich muß sagen, daß Frankreich schon immer
ein wesentlicher, wenn nicht maßgeblicher Teil Europas war –, bin ich
natürlich Europäer... Unsere Länder haben ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre
Lebensart, und sie sind französisch, deutsch, italienisch, britisch,
holländisch, belgisch, spanisch, luxemburgisch. Sie sind Länder, die wir immer
mehr daran gewöhnen müssen, miteinander zu leben und zu handeln. In diesem
Sinne bin ich der erste, der anerkennt und denkt, daß unser Gemeinsamer Markt
wesentlich ist, denn wenn es uns gelingt, ihn zu organisieren und in der Folge
eine wahre wirtschaftliche Solidarität unter den europäischen Nationen zu
schaffen, dann werden wir viel dafür getan haben, daß die Menschen einander
wirklich näherkommen, und für unser gemeinsames Leben.“
Und in einer Rede in Bonn im Juni 1965 sagte er:
„Wir Europäer sind Kathedralenbauer. Wir haben lange gebraucht. Es hat uns
viel Mühe gekostet. Aber wir haben es geschafft... Jedenfalls gibt es ein
Fundament, das ist die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Die
Säulen sind unsere sechs Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Oben wird es ein Gewölbe und ein Dach haben, und das wird unsere politische
Kooperation sein. Die Säulen werden gebaut, wenn das Fundament gelegt ist. Das
Dach wird aufgesetzt, wenn die Säulen richtig gebaut sind... Wenn unsere
Kathedrale gebaut ist, wird man sie anderen öffnen. Und wenn wir dann
Geschmack am Bauen gefunden haben, wer weiß, ob wir nicht eine noch größere
und schönere Kathedrale erbauen werden, die Union des gesamten Europa?“
Schon mitten im Zweiten Weltkrieg, am 11. November 1942, hatte de Gaulle
die Europäer eingeladen, „sich in praktischer und dauerhafter Weise zu
verbinden“.
Zwei Fallen
Es ist sehr wichtig, dieses Konzept zu verstehen. Natürlich hat sich seit
den 40er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vieles verändert, aber die
Herausforderung bleibt die gleiche, und sie ist sogar noch klarer geworden.
Dabei gibt es zwei Fallen. Die erste ist die Vorstellung, es gehe darum, zur
Vergangenheit zurückzukehren, einen Rückzug der Nation auf sich selbst, ein
feststehendes Modell. Die zweite ist, unsere Nationen einer Europäischen Union
zu unterwerfen, die zum Werkzeug eines Eine-Welt-Monetarismus geworden ist und
von Geldfälschern wie Mario Draghi regiert wird, über den Euro und die
Finanzinstitutionen eines Schein-Europa und die NATO. Beides bedeutet eine
Unterwerfung unter die herrschende Finanzoligarchie, die Ideologie und
Finanzmacht des Britischen Empire im neuen, anglo-amerikanischen Gewand. Und
aus genau diesem Grund verhinderte de Gaulle die Aufnahme Großbritanniens in
die Europäische Union.
Es ist sehr wichtig für unsere amerikanischen und chinesischen Freunde,
diesen Punkt zu verstehen: Es bedeutet ein Europa, das aus der geopolitischen
Herrschaft ausbricht, damit es wirklich es selbst sein kann, und europäische
Nationalstaaten, die ihre Bemühungen für gemeinsame Projekte bündeln, anstatt
sich einzeln oder zusammen dieser geopolitischen Herrschaft zu
unterwerfen.
Es sollte klar sein, daß die heutige Europäische Union auf einem Verrat an
den besten Quellen aus der Geschichte und Kultur Europas beruht – und ich
meine wirklich Quellen, nicht Wurzeln, die sich am Boden festkrallen. Aber es
sollte ebenso klar sein, daß die europäischen Nationen und ihre Staatsführer
und auch ihre sogenannten populistischen Gegner ihre Seelen verkauft haben.
Worin liegt also die Hoffnung? Was könnte unser europäischer Beitrag sein? Er
liegt offensichtlich in einem Verständnis, was ein Nationalstaat wirklich ist
– etwas, was auch wenn es verschüttet ist, latent in den Herzen aller wahren
Europäer vorhanden ist. Unsere Aufgabe ist es, sie aus dem Schlaf der Vernunft
zu wecken.
Ein Nationalstaat ist mehr als bloß ein Territorium oder ein Staat mit
einer bestimmten Bevölkerung, Religion oder Tradition. Er ist die Dynamik
einer Idee, die sich entwickelt und ihre Kraft und ihren Umfang in der
Geschichte vergrößert. Friedrich Schiller, Heinrich Heine, Francois Rabeleis,
Miguel Cervantes, Dante Alighieri, Alexander Puschkin, Percy B. Shelley und,
in ihren besten Momenten, Adam Mickiewicz und Victor Hugo brachten diese
„Idee“ in ihren Schriften hervor, wie viele andere Poeten auf ihre eigene
Weise.
Diese Idee ist dynamisch, wie alle Ideen, und ihr politischer Ausdruck ist,
da bin ich mir sicher, unser bester Beitrag zum Neuen Paradigma der Welt. Wenn
Sie von ihnen inspiriert sind, beginnen Sie, die konfuzianische Tradition
Chinas zu verstehen, und Sie tappen nicht in die Fallen der Geopolitik und des
Monetarismus. Große Geister tendieren stets dazu, jenseits der kleinen Dinge
übereinzustimmen. Im Westfälischen Frieden von 1648 findet man das Konzept des
Vorteils des anderen und in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das
„Streben nach Glückseligkeit“ – das gleiche Konzept der Glückseligkeit, das
auch Präsident Xi Jinping entwickelt hat, eine Glückseligkeit, die man nur
erreichen kann, wenn man sie auch anderen ermöglicht.
Damit man etwas beitragen kann, müssen wir Europäer alle unser Gewissen
erforschen, denn der Weg zur Vernunft führt immer über das Herz. Dieses
Bemühen unsererseits, so daß es die Chinesen verstehen, wäre für uns der beste
Weg, uns der Herausforderung der Gürtel- und Straßen-Initiative zu stellen:
aus der gegenwärtigen Europäischen Union, dem Euro und der NATO ein wahres
Europa von Nationalstaaten aufzubauen, wie de Gaulle sagte, „vom Atlantik bis
zum Ural“. Und diesmal noch weit darüber hinaus, den Atlantik einerseits mit
dem Chinesischen Meer und anderseits mit einem wiedergeborenen Amerika
verbindend. Das sollte und würde für die Welt sehr lehrreich sein.
Wenn wir diese Anstrengung machen, kämen wir heraus aus der Ideologie,
Erfolg könne man nur auf Kosten der anderen haben, und „wer hat, dem wird
gegeben“. Und die Chinesen würden dies begrüßen. Es würde uns von der albernen
Vorstellung befreien, die Neue Seidenstraße sei deshalb gut, weil man sie als
Werkzeug gegen die Vereinigten Staaten benutzen kann. Auch das würden die
Chinesen begrüßen. Präsident Trumps Chinabesuch hat bewiesen, daß die
chinesische Regierung für eine Entwicklungsgemeinschaft aller Nationen kämpft,
weil sie versteht, daß ihr eigenes bestes Interesse mit dem Interesse aller
anderen übereinstimmt. Unsere Arbeit hier in Europa sollte darin bestehen, den
kulturellen Pessimismus der Geopolitik und der Habgier zu überwinden und
unsere besten Momente wiederzubeleben, wie unsere großartige Renaissance, in
denen wir versuchten, zur Gründung einer Republik beizutragen und zu den
Küsten Amerikas strebten, um dem Griff der europäischen Oligarchie zu
entkommen. In diesem Sinne sollte es unser Beitrag sein, unsere eigene
Geschichte zurückzugewinnen und wiederzuentdecken, wie wir unsere Revolutionen
in der Wissenschaft und der Kunst hervorgebracht haben.
Quellen der europäischen Zivilisation
Es bedeutet, einen selbstzerstörerischen Eurozentrismus abzuschütteln und
der Welt das Geschenk eines wahren Internationalismus zu machen, befreit von
einem narzißtischen Nationalismus wie dem Kosmopolitentum der finanziellen
Sklaventreiber. Um die Tatsache zu begreifen und anderen freudig mitzuteilen,
daß Europa nur existieren kann, weil es – trotz eines Karls des Großen – vom
Untergang des Römischen Reichs bis zu unserer großartigen Renaissance
bemerkenswerte Leistungen in anderen Teilen der Welt gegeben hat, vor allem in
China, aber auch in Indien, Kambodscha und Teilen Afrikas. In diesem Sinne
müssen wir verstehen, daß wir selbst auch andere Quellen in unserer
Zivilisation haben als die griechische und die jüdisch-christliche, damit
unser Beitrag fruchtbar ist. Das bedeutet aber nicht, die jüdisch-christlichen
Beiträge zu unterschätzen, sondern ganz im Gegenteil, zu erkennen, daß sie
nicht nur wesentlich sind für die kommende Welt, sondern auch substantiell für
uns.
Ohne die Besucher aus China beispielsweise, die zur Zeit des Konzils von
Florenz mit Toscanelli zusammentrafen, wäre Amerika wahrscheinlich erst sehr
viel später von uns Europäern „entdeckt“ worden und die Sache der Freiheit von
der Oligarchie wahrscheinlich mindestens zeitweilig verloren gegangen.
Heute ist die Gürtel- und Straßen-Initiative, zusammen mit der Existenz der
BRICS, nicht nur ein Netzwerk von Infrastrukturprojekten, wirtschaftlichen
Einrichtungen und Hochgeschwindigkeitsbahnen, sondern auch eine Änderung des
Paradigmas, nicht nur für China, auch wenn es von China inspiriert ist,
sondern universell, was die Chinesen viel besser verstehen als wir. Es ist ein
potentieller Sprung von einer geopolitischen und finanziellen Ordnung, die auf
dem Besitz von Waren und Territorien beruht, zu einer Wirtschaftsordnung des
Austauschs und der gegenseitigen Entwicklung, auf der Grundlage von
Verbindungen und ständigen Innovationen, anstatt auf der Grundlage von
Annexionen und Besitzungen.
Um dies zu verstehen, müssen wir den Ansatz von Gottfried Wilhelm Leibniz
in dieser Frage aufgreifen und mit den Chinesen teilen. Ausgehend vom Prinzip
der Universalität der Vernunft, schloß Leibniz am Ende des 17. Jahrhunderts,
namentlich in seiner Novissima Sinica, nicht nur, daß die Theologie des
offenbarten Christentums und die natürliche Philosophie des Konfuzianismus
kompatibel sind, sondern auch, daß es notwendig sei, eine wirtschaftliche,
wissenschaftliche und kulturelle Kooperation zwischen den beiden
„entwickelteren Extremen Eurasiens“ – Westeuropa und China – in Gang zu
setzen. Er schreibt:
„Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist
es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische
Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an den zwei
äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und China, das gleichsam wie ein
Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert.“
Leibniz war der Ansicht, daß die Europäer in den Wissenschaften der
nicht-physischen Dinge und den metaphysischen Spekulationen über die Geometrie
vom Standpunkt der Philosophie fortgeschrittener seien, während die Chinesen
einen besseren Begriff von der praktischen Philosophie und den Regeln des
Lebens hätten. Deshalb lehrte der belgische Jesuit Ferdinand Verbiest den
Kaiser Kang Xi die „europäischen Wissenschaften“, Trigonometrie und
astronomische Mathematik, sodaß der Kaiser ein hochgebildeter Mann wurde, der
die Geometrie vom Standpunkt der Geometrie und nicht bloß als ein Handwerk
betrachtete, und der ein Buch verfaßte, um Kinder mit den Prinzipien dieser
wunderbaren Wissenschaft bekannt zu machen. Leibniz erreichte, daß die
Jesuitenpriester, die vom französischen König nach China entsandt wurden,
diese Kenntnisse in der gebildeten Schicht Chinas weiter verbreiteten, damit
mit dem Austausch von Waren auch ein Austausch von Ideen einherging. Aber für
Leibniz war diese Beziehung keine Einbahnstraße, worauf er ironisch und
gleichzeitig ernsthaft hinweist: „Jedenfalls scheint mir die Lage unserer
hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden moralischen
Verfalls so zu sein, daß es beinahe notwendig erscheint, daß man Missionare
der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen
Theologie lehren könnten, in gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die
sie die geoffenbarte Theologie lehren sollen.“
Europa sollte dazu beitragen, das Wissen über diesen ersten Entwurf einer
globalen Seidenstraße, ein Netz des physischen wie des mentalen Austauschs,
auf beiden Seiten zu vertiefen. Dabei ist es eine gute Lehre für uns alle, zu
verstehen, wie diese Mission in der Geschichte erstickt wurde: zuerst von den
„Ultramontanen“ in Rom, die nicht anerkennen wollten, daß das ren und
das li – die Idee eines universellen, souveränen Guten – mit dem Geist
des Christentums vereinbar ist, und dann durch den brutalen Angriff des
Britischen Empires, unterstützt von den Franzosen, wie Victor Hugo es
anprangerte, insbesondere durch die Opiumkriege, die mörderische
Kanonenboot-„Diplomatie“ und die Plünderung des Landes.
Dieses historische Wissen sollte uns helfen, die Fehler der Vergangenheit
zu vermeiden, und dann unsere Beziehungen mit den Augen der Zukunft zu
betrachten.
Zukunftsorientierte Zusammenarbeit
Es gibt jetzt natürlich viele Gebiete der Kooperation, aber sie sind immer
noch viel zu begrenzt. Wenn man in der Geschichte der Wissenschaften
betrachtet, was wir Europäer einbringen können, dann gibt es so viel gemeinsam
zu studieren: die Werke Wernadskijs, die deutsche und russische Schule der
kosmischen und astronautischen Studien, die italienische Schule der
Hydrodynamik, die französische Entwicklung der Laserfusion etc.
Konkret gibt es vieles zu teilen, vorausgesetzt, es gibt den politischen
Willen und kein ideologisches Mißtrauen. Mir wurde oft gesagt, wenn die
Wissenschaftler ihre eigenen Kommunikationskanäle schaffen, dann besteht das
Problem bei allen diesen Unternehmungen darin, daß es keine Kooperation
seitens der europäischen Verwaltungen gibt – die gehen viel zu oft von der
Lage in China vor fünf oder zehn Jahren aus, ohne die enormen Fortschritte,
die China in den letzten Jahren gemacht hat, zu berücksichtigen.
Die Franzosen scheinen noch stärker durch die Bürokratie gelähmt zu sein
als die Deutschen: Es gibt derzeit 5000 chinesische Doktoranden in
Deutschland, aber nur 500 in Frankreich. Die letzte französisch-chinesische
Wissenschaftskommission traf sich vor sechs Jahren, und in den letzten zehn
Jahren gab es nicht einmal fünf Besuche leitender Wissenschaftler von beiden
Seiten! Das schlimme ist die Zensur vieler Initiativen durch unsere
Sicherheits- und Verteidigungsdienste und das Fehlen einer langfristigen
Strategie für die Kooperation.
Frankreich hat zwar zwei gemeinsame Projekte mit China im Luft- und
Raumfahrtsektor: CFOSAT, ein Satellit, der 2018 gestartet werden soll, um die
Ozeane zu beobachten, und SVOM, für 2020 geplant, zur Beobachtung von
Gammastrahlpulsen. Das französische Projekt Cardiospace wurde in die
Tiangong-2-Mission der chinesischen Weltraumstation eingegliedert. Aber das
ist natürlich noch weit entfernt von dem, was wir beitragen könnten und
sollten. Ich kämpfe dafür, einen gemeinsamen Bereich weitreichender
Kooperationen zu schaffen, auf französisch-chinesischer und auf
europäisch-chinesischer Ebene, für eine wirklich ehrgeizige Weltraumpolitik,
das Aufblühen einer „blauen“ Meereswirtschaft und die Entwicklung Afrikas.
All das kann man auf französischer oder europäischer Ebene nicht von unten
her beschließen oder arrangieren. Man braucht eine Strategie von oben her, die
durch Auftragstaktik vorangetrieben wird, um zu einem Austausch der Ideen,
Forschung, Innovationen und Waren zu gelangen, was erreicht werden muß, um
eine Gemeinschaft der Entwicklung und des weltweiten Friedens zu erreichen.
Chinas Aufstieg ist für uns Europäer eine Gelegenheit, unsere Augen zu
öffnen, uns selbst zu betrachten und unsere Köpfe zu erheben, statt mit dem
Kopf zwischen den Beinen zu laufen. Das wird uns glücklicher machen, so wie
alle die chinesischen Kinder, die von einer freudigen Neugier erfüllt sind.
Unsere Herausforderung als Erwachsene ist es, für sie zu sorgen, rational zu
sein und wieder von ganzem Herzen stolz auf unsere Nationen zu sein, stolz auf
die gemeinsame Arbeit für eine Zukunft auf der Grundlage einer
Prinzipiengemeinschaft, von Solidarität und Frieden.
Kriechen wir nicht mehr in der Vergangenheit herum, sondern tun den Sprung
in die Zukunft, um unsere Seelen, die Seelen Europas und anderer Nationen,
wiederzufinden und zu erneuern. Das ist für uns als wahre Europäer ein
obligatorischer Beitrag, und es ist Zeit, wahrhaft menschlich zu sein.
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