Klassische Musik richtet sich nach Naturprinzipien
von Feride Istogu Gillesberg
Am 11.-12. Dezember 2015 fand in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ein
Symposium statt zum Thema „Fortgeschrittene Einschätzung der Stimmfunktionen
in Europa: Resonanz der menschlichen Stimme & Neurowissenschaft und
Stimme“ („Advanced Voice Functions Assessement in Europe – Resonance of the human voice & Neuroscience and voice“). Es war das sechste Symposium
dieser Art, das von der Europäischen Kooperation in Wissenschaft und
Technologie (European Cooperation in Science and Technology, COST
Action 2103) veranstaltet wurde. Ärzte, Künstler und Musiker aus verschiedenen
Nationen waren vertreten. Das Programm war sehr kompakt. U.a. hielt dort
Josipa Bainac einen Vortrag über die wissenschaftliche Stimmung, die ein
wichtiger Bestandteil der menschlichen Stimme ist. Ihre Rede beruhte auf
zweijährigen Untersuchungen der Autorin. Ich hatte die Freude, Frau
Bainac für die Neue Solidarität interviewen zu können.
Neue Solidarität: Frau Josipa Bainac, ich hatte die
Möglichkeit, Ihren spannenden Vortrag auf dem Symposium in Kopenhagen
anzuhören. Wollen Sie sich kurz vorstellen?
Josipa Bainac: Vor ungefähr zwei Jahren habe ich meinen
Abschluß an der Universität für Musik in Zagreb, Kroatien, als klassische
Sängerin und Pädagogin gemacht. Seit 2014 studiere ich Lied und Oratorium im
Masterstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Seit
meinen Studien in Kroatien habe ich mich intensiv für verschiedene
Interpretationstechniken interessiert und mich viel mit Stimmeigenschaften und
Gesangstechnik beschäftigt.
Neue Solidarität: Wie sind Sie darauf gekommen, mit der
wissenschaftlichen Stimmung zu arbeiten?
Bainac: Als klassische Gesangsstudentin habe ich viele
Konzerte gesungen, von Orchestern, Klavier, Cembalo oder Orgel begleitet. Nach
jahrelangen Erfahrungen habe ich bemerkt, wie sich das subjektive Gefühl für
die Stimme und die Gesangstechnik ändert, wenn ich mit verschiedenen
Begleitinstrumenten oder Ensembles auftrete. Bald habe ich erfahren, welche
Rolle die Stimmung und die Standardtonhöhe in der historische Musikpraxis hat,
und durch Gespräche mit meinen Kollegen - Sänger und Sängerinnen - habe ich
erfahren, daß sie manchmal bei der Interpretation unter verschiedenen
Stimmschwierigkeiten leiden, z.B. wegen der zu hohen Standardtonhöhe -, wenn
der Künstler lange Proben oder Auftritte singen muß.
Als mein Masterarbeitsthema habe ich deswegen geschrieben über „Die
historische Entwicklung der Temperatursysteme und die Standardtonhöhenauswahl
im Zusammenhang mit der Gesangstechnikentwicklung und Stimmgesundheit“. Am
Anfang war ich leider in den Untersuchungsmöglichkeiten begrenzt. Das war aber
nur der Anfang meiner Arbeit zu dieser Frage, die ich als eine Pilotstudie in
Kopenhagen präsentiert habe.
Neue Solidarität: In Ihrem Vortrag wurde erwähnt, daß in
Kroatien Aufnahmen gemacht wurden, um den Unterschied der verschiedenen
Stimmungen zu demonstrieren. Warum findet so ein Prozeß in Kroatien statt,
gibt es ein besonderes Interesse in diesem Feld?
Bainac: Ich habe mit dem Studium dieses Themas in Kroatien
angefangen. Und während des Studiums war ich im Kontakt mit Wissenschaftlern
und Persönlichkeiten, die die technischen Möglichkeiten haben,
wissenschaftliche Untersuchungen zu machen. Leider gibt es in Kroatien nicht
so viel Interesse zu diesem Thema, und deswegen war es kompliziert, meine
Arbeit wirklich zu entwickeln, aber hier in Wien habe ich mehr
Unterstützung.
Neue Solidarität: Das Schiller-Institut führt seit
Jahrzehnten eine Kampagne für die wissenschaftliche Stimmung. Wie sehen Sie
die Bedeutung der Verdi-Stimmung?
Bainac: Wenn man über die Stimmung spricht, muß man zwei
wichtige musikalische Aspekte ins Auge fassen: die Standardtonhöhe
(„Kammerton“) und das Temperationssystem. Beide haben sich im Lauf der Zeit
unabhängig voneinander entwickelt und oft gewechselt.
Man sagt oft, im Zusammenhang mit der historischen Interpretation, daß das
Temperationssystem eine große Bedeutung für das Verständnis der harmonischen
Struktur und anderen Musikkomponenten hat.
Leider vergessen wir oft die Bedeutung der Standardtonhöhe. Die Instrumente
wurden im Laufe der Zeit für die neuen, oft höheren Standardtonhöhen umgebaut
oder optimiert. Mit der Stimme ist es leider nicht so einfach, und bei der
Interpretation von Repertoire, das für eine andere Standardtonhöhe komponiert
war, kann dies zu Schwierigkeiten und in extremen Fällen zu Verletzungen
führen. Die ästhetischen Fragen werden heute, aufgrund der Art, wie heute
Musik konsumiert wird, übersehen.
Giuseppe Verdi war nicht nur Komponist, sondern auch Sänger - ein Bariton,
der die Gesangstechnik gemeistert hat und mit diesem Wissen sehr sorgfältig
die Musik für Sänger geschrieben hat. Es ist bekannt, daß er auch sehr genau
und streng mit seinen Mitarbeitern - Librettisten usw. - gearbeitet hat.
Während den Überlegungen, was die universale Standardtonhöhe sein sollte,
hat sich Verdi für die französische Standardtonhöhe (a’ = 435 Hz) eingesetzt.
Er wurde aber kurz danach für die Standardtonhöhe a’ = 432 Hz gewonnen, wegen
ihrer wissenschaftlicher Genauigkeit, wie in seinem Briefwechsel nachzulesen
ist.
Nach vielen Besprechungen mit Wissenschaftlern und Mathematikern kam ich zu
der Meinung, daß es wirklich keine wissenschaftlichen Beweise gibt, die
bestätigen könnten, daß eine Frequenz gegenüber einer anderen Vorteile
hat.
Ich habe dann mit renommierten Sängern und ihrem Repertoire experimentiert.
Und aufgrund von objektiven und subjektiven Bewertungen habe ich dann
festgestellt, daß die Standardtonhöhe von 432 Hz, wenn sie z.B. bei der
Interpretation von Verdis und Mozarts Opernarien verwendet wird, viele
Vorteile vor den heutigen 443 Hz hat.1 Für ausgezeichnete Sänger,
die keine technischen Probleme haben, sind auch immer die Passaggionoten
zwischen den Stimmregistern problematisch. Wenn man den Kammerton von 432 Hz
nimmt, werden die Vokale runder und natürlicher gesungen - coperto. Das
verschiebt die Formanten tiefer und macht den Weg zu den Passaggionoten
günstiger, denn die Stimmqualität des Passaggiobereichs zwischen den
Stimmregistern kommt in dieser Stimmung früher. Das ist natürlich auch mit dem
Text verbunden, der so vertont ist, daß die Bedeutung durch Registerwechsel
unterstrichen ist.
Bei 443 Hz kommt die Passaggio in der Stimme abrupt, weil die Sänger oft in
dieser Stimmung hellere Vokale - auch in der Passaggiotransition - singen.
Natürlich versuchen die Sänger immer, den Formantenbereich mit den Obertönen
zu verbinden, aber in der tieferen Stimmung macht der Körper das unbewußt und
ganz natürlich durch die Rundung des Vokaltrakts. Die Sänger bewerten diese
Standardtonhöhe von 432 Hz als die, die ihnen mehr Stimmfreiheit,
Flexibilität, schönere Farbe, Stimmleichtigkeit anbietet. Bei 443 Hz macht der
Sänger das alles bewußt - mehr oder weniger erfolgreich.
Neue Solidarität: Unsere Organisation legt großen Wert auf
die klassische Kultur. Wie sehen Sie die Rolle der klassischen Musik, welche
Bedeutung hat sie für die Entwicklung einer Gesellschaft?
Bainac: Musik ist immer ein bedeutender Aspekt jeder
Zivilisation, ob man über Ritualmusik oder über unsere raffinierte und durch
Jahrhunderte entwickelte europäische Musik spricht. Das sind alles im
einfachsten Sinne Kombinationen von Frequenzen, die nach der Kenntnis des
Komponisten so arrangiert sind, daß sie eine gewisse Wirkung auf den Zuhörer
haben. Meiner Meinung nach werden diese Grundprinzipien der europäischen Musik
heute von den Interpreten und auch von den Komponisten ignoriert. Man kann
auch oft die sinnlose Phrase hören, daß im Bereich der klassischen Musik schon
alles gesagt sei, alles schon komponiert sei, und deswegen muß der Zuhörer
heute verschiedenste intellektuelle Durchfälle von den Komponisten dulden. Das
kommt leider seit dem 20. Jahrhundert aus dem Bedürfnis, alles zu
quantifizieren - am besten gleich auf Profit umrechnen. Und die Komponisten
und Interpreten haben sich nur auf den leichtgewonnenen Affekt des Publikums
und persönlichen Erfolg ausgerichtet.
Die Tatsache, daß Musik ein Naturphänomen ist, das schon lange vor der
Menschlichkeit existiert hat, muß man wieder entdecken. Dann sehen wir, daß
diese Quelle unerschöpflich ist. Deswegen würde ich klassische Musik nicht nur
als Musik aus einer gewissen Periode bezeichnen, sondern als Musik, die sich
nach Naturprinzipien richtet, die eine objektive und positive Wirkung auf uns
hat.
Bainac: Wie immer haben auch wir in unserer Zeit gewisse
kulturelle Probleme und Fragen. Die klassische Musik ist heute ganz populär
und für die Massen zugänglich geworden. Das könnte auf den ersten Blick auf
die Welt der klassischen Musik eine gute Wirkung haben. Leider hat es sich
aber gezeigt, daß das breite Publikum sich nur auf die oberflächlichen Aspekte
der Musik orientiert. Und die natürliche Wahl der Künstlern - Interpreten oder
Komponisten - ist damit verschwunden. Deswegen liegt heute bei uns, wie wir
Musik und alle anderen Künste unterstützen; daß wir wirklich nur das
hinterlassen, was wir für die nächsten Generationen wertvoll finden.
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