Die Macht der Musik erlernen
Der folgende Dialog befaßt sich auf konkrete Art und Weise mit der Macht
der Musik. Es wird darin erläutert, warum und wie junge Menschen die Kunst der
Belcanto-Stimme erlernen müssen, um sich diese Macht anzueignen. Es handelt
sich um einen Auszug aus einem Gespräch zwischen der Exekutivdirektorin der
Foundation for the Revival of Classical Culture (Stiftung für die
Wiederbelebung der klassischen Kultur) Lynn Yen und der Sopranistin und
Gesangspädagogin Carmela Altamura, Initiatorin der Organisation Inter-Cities
Performing Arts und des Internationalen
Altamura-Caruso-Gesangswettbewerbs.
Lynn Yen: Wie die englische Sprache inzwischen gesprochen
wird, das ist eine Katastrophe.
Carmela Altamura: Es liegt alles im Sprechen! Kunst fängt mit
dem Sprechen an!
Yen: Man hört das sofort, wenn man einfach nur eine Rede von
John F. Kennedy anhört und das mit einer beliebigen Rede von heute
vergleicht.
Altamura: (Sie beschreibt die Arbeit mit einem ihrer
Gesangsschüler.) Er ist ziemlich gut. Er benutzt mich als Resonanzboden.
Und ich sage: ,Nein, nein, nein, deine Diktion. Deine Diktion! Du machst das
zu angestrengt. Und dann wird dein Kiefer zu steif. Man versteht es nicht.
Sprich auf den Vokalen, sprich auf den Vokalen! Beachte die Betonungen! Setze
die Betonungen so, wie sie normal fallen.“ Mein Gott, das dauert eine
Ewigkeit!
Yen: So wurden die Umstände geschaffen, unter denen der
Verfall der Kultur sich immer mehr beschleunigt.
Altamura: Überall beschleunigt sich der Verfall. Ich bin sehr
froh, daß Sie es ansprechen.
Yen: Unserer Ansicht nach gibt es nur ein wirksames Mittel,
um das heute anzupacken.
Altamura: Das ist der Belcanto-Gesang.
Altamura: Der einzige.
Altamura: Aber die Lehrer! Die haben keine Ahnung.
Altamura: Sie haben überhaupt keine Ahnung.
Yen: Das Gute an der schlechten Situation heute ist, daß im
Bildungswesen ein solches Chaos herrscht, daß sie jeden einladen, der auch nur
annähernd eine gute Idee hat, worauf die Schüler positiv reagieren... Meiner
Überzeugung nach brauchen wir eine Art Grundsatzbeweis, indem man eine Auswahl
junger Schüler nimmt und demonstriert, daß wir sie prinzipiell in einer
ziemlich kurzen Zeit auf eine höhere Ebene des Ausdrückens einer Idee bringen
können.
Altamura: Sie auszudrücken, genau.
Yen: Und um das zu erreichen, haben wir zunächst damit
angefangen, daß die Leute sich mit Händels Messias beschäftigen - nicht
weil der Text Englisch ist, sondern weil sie sich, da es ein englischer Text
ist, nicht beklagen können, sie wüßten nicht, was der Text bedeutet. Aber ihr
gesprochenes Englisch...
Altamura: Die Vokalformation in der Bandbreite der
gesprochenen Sprache ist italienisch, egal was man singt.
Altamura: Egal in welcher Sprache. Ob das Chinesisch ist oder
Japanisch oder Russisch... Alle großen Sänger haben diese Vokalformation. Dazu
gehören der Registerwechsel und die Register. Wenn man die Register wechselt,
macht man es nicht mehr künstlich. Man macht es im Geist.
Altamura: Es ist der Geist, der den Stimmbändern sagt,
wieviel Spannung sie brauchen.... Und es muß mühelos aussehen, ganz mühelos.
Und der Geist gibt den Stimmbändern, die wirklich winzig sind, Befehl, sich
anzuspannen, gerade genug.
Man muß es sich vorstellen, wie wundervoll Gott uns geschaffen hat, daß wir
so etwas können. Und der Geist hört die Note, das ist der Grund, warum ich
alle Schüler das langsam üben lasse, damit ihr Herz da drin verfeinert und
entwickelt wird. Alle wollen schnell singen - Fast Food. Ich sage Ihnen:
„Moment mal! Moment! Gebt doch euren Muskeln eine Chance.“
Wenn man das Intervall von c nach d singt, ist das nur eine kurze Distanz.
Aber wenn man ein Intervall von c nach a singt, die Sexte, dann ist das
länger. Es braucht mehr Zeit. Auch für das Gehirn. Man braucht Zeit, das
auszudrücken, alles dauert länger. (Sie singt das Intervall zweimal auf
unterschiedliche Weise.) Deshalb plazieren sie (heutige Sänger) die
Abstände nicht gut. Sie plazieren die Melodien nicht richtig. Daran erkennt
man immer, wer wirklich professionell ist. Die Sänger müssen Instrumentalisten
werden und die Instrumentalisten Sänger.
Altamura: Bitte vergeben Sie mir, wenn ich Sie mit alledem
langweile, aber ich sehe, daß ihr auf dem richtigen Weg seid.
Yen: Nein, das ist sehr wichtig. Schauen Sie, wir schleichen
uns quasi an die Leute heran. Wir wollen nicht einfach sagen - weil das so
auch nicht wirklich stimmt -: „Leute, ihr seid alle hoffnungslos ungebildet.“
Wir möchten, daß die Menschen die Erfahrung machen: „Wir können es viel
besser.“ Und wenn man es besser macht und besser klingt...
Altamura: Es geht um die Qualität. Die Qualität! Jede Stimme,
alles, was Gott geschaffen hat, hat eine eigene innere Qualität, wenn sie
richtig ausgebildet wird. Ob es Lieder sind, Oratorien, ob Oper, Operette, wir
suchen immer nach der besten Qualität, die man produzieren kann. Und die
meisten heute treffen die Tonhöhe nur ungefähr. Sie singen, aber nie wirklich
in der präzisen Tonhöhe. Immer nur angenähert. Das macht mich wahnsinnig!
(Sie singt einige ungenaue Intervalle vor.) Mensch, Leute! Das macht
mich wahnsinnig! Alles nur angenähert. Aber es ist nichts angenähert! Die
Achse, die die Welt zusammenhält, dreht sich mathematisch. Alles ist
geordnet.
Yen: Dazu kommt das Konzept der Resonanz in der richtigen
Stimmung, deshalb hat Verdi dafür gekämpft. Wenn man das als Prinzip im Geist
eines Schülers verankern kann, dann und nur dann kann er das Konzept der
Wahrheit wirklich verstehen.
Altamura: Aber wissen Sie ..., wir müssen ihnen das
Herausragende beibringen. Denn sie verlangen viel zuwenig von sich. Wir müssen
die Latte höher legen. Heute wird so ein Müll als Kunst toleriert. In
Wirklichkeit ist das doch nur eine Ausrede, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Yen: Es ist furchtbar. Man sieht es an der Carnegie Hall, am
Lincoln Center... Dort ist es sogar am schlimmsten.
Altamura: Und das ist schockierend!
Altamura: Es kann nicht zwischen Vergnügen, Unterhaltung und
Kunst unterscheiden. Das sind drei völlig verschiedene Dinge. Man kann von
allen angetan sein, aber wo auch immer muß es herausragend sein. Und dann gibt
es da den schmalen Pfad des Herausragenden in der wahren Kunst. Das erfordert
viel Zeit und lange Vorbereitung. Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige
sind es. Denn das erfordert außergewöhnlich viel Liebe. Und man muß sich von
der Idee verabschieden, daß man es bequem hat und Geld hat und all das. Das
kommt dann von selbst. Gott gibt uns die Mittel, das zu erreichen, wozu er uns
berufen hat. Solange wir ehrlich suchen... „Sucht als erstes das Königreich
Gottes, und alles andere wird euch zufallen.“ Das Herausragende, das ist das
Königreich... Man soll den Schülern keine Angst machen, aber man muß die Latte
immer höher legen, Tag für Tag, immer ein bißchen höher. Sie ersteigen den
Berg und merken es gar nicht! Und dann schauen sie plötzlich zurück und
denken: „Bin ich das wirklich?“
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