„Wird die amerikanische Hybris enden – oder werden wir alle mit
ihr in Flammen aufgehen?”
Von Oberst a.D. Alain Corvez
Oberst a.D. Alain Corvez, Internationaler Experte und
ehemaliger Berater der französischen Ministerien für Verteidigung und Inneres,
verfaßte für die Berliner Konferenz des Schiller-Instituts den folgenden, im
Original französischen Redetext, den er dort aus Zeitgründen nur gekürzt
vortragen konnte.
Vorbemerkung
Zunächst einmal möchte ich dem Schiller-Institut dazu gratulieren, daß es
in einem kritischen Moment, wo aufgrund der Konzentration von Waffen im Herzen
Europas, die den Planeten innerhalb von Sekunden zerstören können, die Gefahr
eines Nuklearkrieges, der zur Auslöschung der Menschheit führen würde, von Tag
zu Tag deutlicher wird, diese Konferenz veranstaltet. Um auf die Verstärkung
der amerikanischen strategischen Kräfte in der NATO auf europäischem Boden zu
antworten, mußte Rußland zur Abschreckung ein entsprechendes Arsenal an seiner
Westgrenze aufbieten. Es ist höchste Zeit, daß die Strategen der verschiedenen
Länder - auch jene, die weit vom europäischen Schauplatz entfernt sind - von
den Staatschefs der ganzen Welt Zurückhaltung und mehr Weisheit fordern.
Das ist der Zweck dieser nützlichen Initiative von Frau Helga
Zepp-LaRouche, der ich ganz persönlich mein Kompliment aussprechen möchte.
Und während wir uns im humanistischen Denken Schillers vertiefen, möchte
ich daran erinnern, wie ihn Nietzsche in seiner Vorrede zu der Schrift „Über
die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ charakterisiert hat:
„Zwischen diesen ,Selbstverständlichen’ und den Einsamen stehen aber die
Kämpfenden, das heißt die Hoffnungsreichen, als deren edelster und erhabener
Ausdruck unser großer Schiller vor unsern Augen steht, so wie ihn uns Goethe
in seinem Epilog zur Glocke schildert:
Nun glühte seine Wange rot und röter
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Muth, der, früher oder später,
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter,
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit daß Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.“
In seinem ersten Werk, „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der
Griechen“, schreibt Nietzsche über Heraklit:
„Viel wichtiger aber... ist eine weitere Übereinstimmung: er glaubt wie
jener an einen periodisch sich wiederholenden Weltuntergang und an ein immer
erneutes Hervorsteigen einer anderen Welt aus dem alles vernichtenden
Weltenbrande. Die Periode, in der die Welt jenem Weltenbrande und der
Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird von ihm in höchst auffallender
Weise als ein Begehren und Bedürfen charakterisiert, das volle
Verschlungensein im Feuer als die Sattheit.“ Und weiter: „Sattheit gebiert den
Frevel: Hybris.“
Tatsächlich machen der Überfluß der Mittel, der Exzeß, der unermeßliche
Stolz die Hybris zu einem Verbrechen an der Menschheit, einer Menschheit, die
Vorsicht und Maß braucht.
Nietzsche zufolge ist Heraklit, der „weinende Philosoph“, wie ihn das
spätere Altertum nannte. „Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein
Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? ... Wird
jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt, und somit zwar die Welt
des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu
tragen immer von Neuem wieder verurteilt?“
Wir wissen, daß Heraklit später glaubte, daß „alles Widerstrebende in eine
Harmonie zusammenläuft... unsichtbar zwar für das gewöhnliche Menschenauge,
doch dem verständlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte ähnlich ist.
Vor seinem Feuerblick bleibt kein Tropfen von Ungerechtigkeit in der um ihn
ausgegossenen Welt zurück.“
Dies ist weit von der nihilistischen Vision Schopenhauers entfernt, der
glaubte, wir büßen unsere Schuld erst durch unser Leben und dann nochmals
durch unseren Tod.
Kernwaffen – Faktor des Krieges oder des Friedens?
Unsere Welt hat die Akkumulation gigantischer Vernichtungsmittel erlebt,
seit dem Auftauchen der Atombombe in unseren Arsenalen – eine tödliche
Waffe, die, wie General de Gaulle sagte, nicht bloß ein einfacher Fortschritt
in der Waffentechnik war, sondern ein technologischer Sprung, der die
traditionellen Regeln des Krieges über den Haufen wirft. Denn erstmals in der
Geschichte erfand der Mensch eine Waffe, die man nicht mehr einsetzten konnte,
sobald mehr als ein Land sie besaß. Sie ist ausschließlich eine
Abschreckungswaffe, und deshalb ist jedes Land, das sie besitzt, sicher, daß
keine feindliche Macht das Risiko eingehen kann, vernichtet zu werden, wenn es
angreift. Deshalb ist es unmöglich, sie vernünftig einzusetzen, weshalb sie
auch als „Nichtgebrauchswaffe“ bezeichnet wird.
Im Bereich der Wissenschaft glaubte de Gaulle, daß das Elektronenmikroskop
einen ähnlichen Sprung darstelle:
„Sehen Sie, ich glaube nicht, daß das Elektronenmikroskop bloß ein enormes
Vergrößerungsglas ist - das, was es uns zu entdecken erlaubt, ist nicht das,
wonach wir suchen. Es löst einige unserer Probleme, aber es schafft auch neue.
Wir sind mit der Atombombe noch nicht am Ende. Das mächtigste Mittel des
Krieges begann, indem es Frieden brachte – einen seltsamen Frieden, aber
doch einen Frieden. Warten wir es ab.“
Der kürzlich verstorbene große französische Anthropologe und Philosoph René
Girard, der die Mimetische Theorie erfand, schrieb in „Die unbekannte Stimme
des Realen“ unter Bezug auf Nietzsche:
„Wahre Vergeltung [im Sinne der Nietzscheschen Mißgunst] holt uns ein in
Form der absoluten Kernwaffen, die unseren Planeten auf die Größe eines
primitiven Dorfes reduzieren, in dem wir wieder von der Aussicht eines Krieges
bis zum Tode geschreckt sind. Wahre Vergeltung ist so schrecklich, daß ihre
hartnäckigsten Unterstützer nicht wagen, sie freizusetzen, da sie genau
wissen, daß alle Greueltaten, die sie an ihren Gegnern verüben können, von
ihren Gegnern auch ihnen selbst zugefügt werden können.“1
Was für eine Theorie hätte wohl Heraklit formuliert, wenn er von der
Möglichkeit gewußt hätte, daß die Menschheit die Kernfusion entfesselt, wenn
er schon von einem „alles vernichtenden Weltenbrande“ sprach?
Ein großer französischer Stratege, General Pierre-Marie Gallois, der mich
ehrte, indem er mich in seine Denkfabrik aufnahm, erzählte mir von seinen
Gesprächen mit General de Gaulle über die Atomwaffen, und darüber, daß nur
sehr wenige Menschen, selbst unter den Spezialisten, dieses neue Konzept
verstanden. So denken weiterhin in den Begriffen des militärischen Zwangs,
während es in Wirklichkeit darum ging, jemanden davon abzuschrecken, uns
anzugreifen.
Ich zitiere ihn:
„Plötzlich in das atomare Zeitalter gestürzt, argumentierten die Menschen
immer noch so, als könne man dies vernünftigerweise weiter im klassischen Stil
tun. Sie dachten in Begriffen des Zwangs, wo es um Abschreckung ging. Sie
verglichen die verfügbaren Kräfte zahlenmäßig, wo sie die Schäden hätten
einschätzen sollen, die der Stärkste erleiden würde – egal, wie mächtig
er ist – wenn er die Existenz des Schwächsten bedrohte.“2
Umkehrung der Rollen
Derzeit engagiert sich die NATO in einem unerhörten, klassischen und
nuklear-militärischen Aufmarsch in Europa, vor allem an den Grenzen Rußlands,
in Polen und den baltischen Staaten, zusätzlich zu den Kräften, die in
Rumänien, Italien, Deutschland und Polen stationiert sind. Ich will hier nicht
auf die Details der eingesetzten Truppen eingehen, die von zahlreichen
Experten genau geschrieben wurden. Diese Kräfte des Atlantikpaktes umfassen
auch nukleare Streitkräfte, im Rahmen des globalen Aegis-Systems der
Vereinigten Staaten, von dem man ursprünglich sagte, es richte sich gegen die
Bedrohung aus dem Iran, obwohl für jeden klar ersichtlich war, daß sein Zweck
war, das wiederaufkommende Rußland zu bedrohen. Dieses System, das auch im
Atlantik und im Pazifik aufgeboten wird, umfaßt seegestützte, luftgestützte
und landgestützte mobile Einrichtungen. Auch wenn es als Verteidigungssystem
gegen eine hypothetische russische oder chinesische Bedrohung dargestellt
wird, ist es tatsächlich auch offensiv, und seine Marschflugkörper oder
ballistischen Raketen können auch offensiv eingesetzt werden.
Frankreich, das unter Präsident Sarkozy leider wieder in die militärische
Organisation der NATO zurückgekehrt ist, ist an diesem kriegsartigen Einsatz
beteiligt und hat erst jüngst beschlossen, die Stationierung von
NATO-Streitkräften auf seinem Territorium zuzulassen, auch wenn sie im Prinzip
nur den militärischen Stäben angehören, in denen sich unsere höheren Offiziere
und Unteroffiziere inzwischen daran gewöhnen, brillante Karrieren machen zu
können, und die daher nicht dazu neigen, die NATO als ein militärisches
Instrument der USA zu betrachten, sondern eher als ein Bündnis der freien und
rechtschaffenen Welt, das den Liberalismus und die Menschenrechte verteidigt
gegen eine Welt, die dies nicht tut.
Das AEGIS-System ist ein weltweites System, das in der Lage ist, überall
auf dem Planeten einen Nuklearangriff durchzuführen. Es wird der
Öffentlichkeit bisher verlogenerweise als ein Verteidigungssystem präsentiert,
aber sein Zweck ist es, der Welt deutlich zu machen, daß die Vereinigten
Staaten die Herren des Planeten sind und beabsichtigen, jedem Land zu
diktieren, wie es zu leben hat, welche Regeln es zu befolgen hat, welche
Gepflogenheiten es einzuhalten und welche es aufzugeben hat, und daß es einen
völligen Freihandel einzuführen hat, durch die Beseitigung von Schutzzöllen
und vielleicht sogar von Grenzen. Die USA wollen ihr Modell durchsetzen
– auf das Risiko, dadurch einen Nuklearkrieg auszulösen, der die
Apokalypse des alles vernichtenden Weltbrandes auslösen würde, von dem
Heraklit im 6. Jahrhundert vor Christus gesprochen hat. Die Europäische Union
hat in ihrem Grundlagenvertrag die Regeln des unbegrenzten Liberalismus, des
freien und unverzerrten Handels, der Beseitigung der Binnengrenzen ebenso in
Stein gemeißelt wie sie ihre Verteidigung strukturell in die militärische
Organisation der NATO eingebunden hat.
Das gesamte amerikanische Militärsystem – mit seinem
unvergleichlichen Budget von mehr als 700 Mrd. Dollar, wenn man alle Mittel
für die Verteidigungs- und Geheimdienstorganisationen zusammenrechnet –
richtet sich nun gegen Rußland und China, wegen ihrer angeblichen
Hegemonialambitionen in Europa einerseits und Asien andererseits – womit
die Rollen vertauscht sind.3 Diese Strategie bezieht auch ihre
Verbündeten mit ein – insbesondere die EU mit ihrem Weihrauchträger
Frankreich –, die aber mit Sicherheit vor dem Zerbrechen zu stehen
scheint, mit Hilfe unserer britischen Freunde, die das Schiff verlassen
wollen, bevor es sinkt.
China hat durch seine mühsamen und fleißigen Anstrengungen enorme
wirtschaftliche Fortschritte gemacht, den Hunger beseitigt und die
Unterentwicklung der Mehrheit seiner Bevölkerung überwunden. Es hat eine große
wohlhabende Klasse geschaffen, den Lebensstandard allgemein gehoben und
bedeutende finanzielle Reserven angehäuft, und gleichzeitig die
Zentralisierung des kollektivistischen Kommunismus beibehalten, was ihm den
großen Vorteil verschaffte, die zentrale Kontrolle über die Öffnung seiner
immensen Bevölkerung für den Welthandel und die Kontrolle über die großen
anpassenden Reformen zu behalten. Das Gegenteil geschah in der Sowjetunion,
die sich unter der Perestroika eines Gorbatschow, der gute Absichten hatte,
aber die Kontrolle über den Reformprozeß verlor, sehr schnell auflöste.
China wird von den Vereinigten Staaten als Rivale betrachtet, der zu
zerstören ist, bevor er zu mächtig wird. Deshalb bestreitet es ihm das Recht,
seine Lebensinteressen zu verteidigen, insbesondere in den benachbarten
Meeren, indem es feindliche Bündnisse der Länder schafft, die Wert auf den
Schutz durch die USA legen.
Tatsache ist jedoch, daß die wohlabgestimmte chinesische Diplomatie eine
wachsende Zahl von Ländern in der Region überzeugt hat, daß China keine
imperialen Absichten verfolgt und vielmehr eine internationale Kooperation
bevorzugt, um wirtschaftliche Projekte zu realisieren, die für alle von
Vorteil sind. Die gewaltigen Projekte in dem Programm, das den europäischen
Ländern vorgeschlagen wurde, das aber auch der übrigen Welt offensteht und als
„Straße und Gürtel“ der Neuen Seidenstraße bezeichnet wird, haben bereits
viele Länder überzeugt, die sich den Institutionen angeschlossen haben, die
diese Projekte vorschlagen und finanzieren. So wie die Asiatische
Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) und die Shanghaier Kooperation (SCO),
die BRICS, ASEAN – der sich auch der Iran angeschlossen hat, am
Kreuzungspunkt zwischen den Nahen Osten und dem kaukasischen Asien mit 400
Mio. Einwohnern in seiner unmittelbaren Umgebung –, ALBA (die
Bolivarische Allianz für Amerika) und UNASUR (Union Südamerikanischer Staaten)
in Lateinamerika.
Einige Länder spielen auf beiden Seiten mit und bleiben freundlich
gegenüber Amerika, während sie mit China und Rußland handeln, aber der
Eindruck ist, daß ihre wirtschaftlichen und sogar ihre strategischen
Interessen sie näher an das Win-Win-System heranziehen, sodaß wir erleben, daß
selbst bisher rivalisierende Parteien ihre Forderungen hintanstellen, um
Partner dieser heuen Weltordnung zu werden. Indien und China sind ein Beispiel
dafür, aber nicht das einzige.
Die amerikanische Diplomatie stellt Rußland als eine imperiale Macht dar,
die bereit ist, in Europa einzumarschieren. Aber das ist so offensichtlich
falsch, daß man sich fragt, wie die europäischen Länder diese Idee akzeptieren
können – wenn der Grund nicht ist, sich mit den USA zu verbünden, um
nicht selbst mehr für ihre Verteidigung ausgeben zu müssen. Aber diese
Falschheiten scheinen in jüngster Zeit in Brüssel an Boden zu verlieren, wo
man unter dem Druck der verschiedenen Völker und Länder erkennt, daß die
Sanktionen den EU-Mitgliedstaaten mehr schaden als Rußland, das Optionen in
Asien und in seinem eigenen riesigen Territorium entwickelt.
Am 8. Juni hat der französische Senat für einen Vorschlag gestimmt, die
Sanktionen schrittweise aufzuheben, nachdem das Parlament dies bereits im
April getan hatte. Und der Präsident der EU, Herr Juncker, nahm am
Petersburger Wirtschaftforum teil, da er dem ständigen Druck nicht länger
widerstehen konnte, der tief aus dem wahren Europa kommt, das kein Problem
hat, zu verstehen, daß Entente und Kooperation mit dem riesigen Rußland für
seine Zukunft notwendig ist.
Dies löst natürlich in Washington Sorgen aus, das Westeuropa seit 1945 als
ein Glacis zum Schutz vor dem sowjetischen Rußland betrachtete. Nach dem Sieg
über den sowjetischen Kommunismus 1989 und der Auflösung der UdSSR hat eine
gewisse Hybris, ein übersteigertes Selbstbewußtsein, Amerika dazu verleitet,
das neue Rußland zu zerstören, indem es Politiker und Oligarchen kaufte und
den tschetschenischen Terrorismus in verschiedener Art und Weise unterstützte.
Putin, ein scharfsinniger Stratege, der die Arbeitsweise des
Kräftegleichgewichts versteht, wollte seinerseits dem Zerfall seines Landes
ein Ende setzen und zu einem Verständnis mit der größten Macht der Erde
gelangen, und akzeptierte Zugeständnisse, zu denen er aufgrund seiner Schwäche
gezwungen war, ist jedoch immer weniger dazu bereit, die lebenswichtigen
Interessen Rußlands zu opfern, die durch die imperiale Hysterie der USA
bedroht sind, die den Angegriffenen als Angreifer darstellen.
Offen gesagt, welcher ernsthafte Stratege könnte sich vorstellen, daß
russische Divisionen in Osteuropa einmarschieren würden, um die früheren
Satellitenstaaten zurückzuerobern? Wozu, zu welchen Zweck? Um ihre Rohstoffe
oder industriellen Werte zu gewinnen, oder sie zum orthodoxen Glauben zu
bekehren?
Alle Experten wissen, daß der Putsch im August 2008 in Georgien zu dem
Zweck gestoppt wurde, um deutlich zu machen, wo die Grenzen der Osterweiterung
der NATO (unter Verletzung früherer Versprechungen) liegen, nachdem das
US-Außenministerium die Provokationen gegen die Regierung in Tiflis angeführt
hatte. Die Rückkehr der Krim zum Vaterland 2014 nach einem fast einstimmigen
Votum der Bevölkerung war die Folge eines „offenen Staatsstreichs“ (wie es der
amerikanische Stratege George Friedman genannt hat), der in Kiew eine
Regierung an die Macht gebracht hatte, die der Bevölkerung im Osten und Moskau
feindlich gesonnen ist. Die Abstimmung erfolgte nach den Regeln der Vereinten
Nationen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Putins wiederaufkommendes Rußland versuchte lange Zeit, zu einer Einigung
mit den Vereinigten Staaten und seinen europäischen Nachbarn zu gelangen, aber
die hegemonialen Absichten der Oligarchie in Washington konnten es nicht
akzeptieren, daß die Welt multipolar werden könnte und daß Amerika die Führung
des Planeten mit neuen Partnern teilen könnte. Scheinbar hofft der Kandidat
Donald Trump, mit diesem kurzsichtigen System zu brechen. Wir können nur
hoffen, daß ihm dies gelingt, um der Welt und um Amerikas willen, da er
vorschlägt, dem militärischen Interventionismus ein Ende zu setzen, mit
Rußland zu kooperieren und mit China zu sprechen, um sich auf die Entwicklung
der nationalen Wirtschaft konzentrieren zu können, indem er die Pensionsfonds,
die in die Globalisierung investiert wurden, um mehr Profite zu machen,
zurückholt, um sie in die amerikanische Wirtschaft zu investieren und
Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb wird er in den westlichen Medien als Clown
dargestellt, auch wenn die amerikanischen Bürger seine Botschaft verstanden
haben und für ihn stimmen.
Es ist irreführend, Rußland vorzuwerfen, daß es an seinen Grenzen zu Polen
und zu den baltischen Staaten Truppen versammelt, weil Moskau seine Truppen
dort als Reaktion auf die wiederholten Drohungen der NATO vor seiner
Türschwelle aufbaut, insbesondere in den baltischen Staaten. Der frühere
US-Verteidigungsminister Chuck Hagel hat wiederholt erklärt, der
Truppenaufmarsch der NATO nahe Rußland sei ein Fehler und kontraproduktiv.
Deshalb habe ich von der Hybris der Vereinigten Staaten gesprochen, denn
sie scheinen nicht zu erkennen, daß ihre militärische Eskalation gegen Rußland
die ganze Welt in große Angst versetzt, weil dabei Kernwaffen im Spiel sind.
Es ist offensichtlich, daß Rußland nicht hinnehmen wird, vernichtet zu
werden, ohne im gleichen Ausmaß zurückzuschlagen. Das wäre dann nicht der
Dritte Weltkrieg, sondern das Ende der Menschheit.
Es ist an der Zeit, daß die – zumindest militärisch –
wichtigste Weltmacht, was ihre Arsenale und die Zahl ihrer Stützpunkte in
aller Welt angeht, maßvoll wird und aufhört, sich der Erkenntnis zu
verweigern, daß sich die Welt ändert, daß das Gleichgewicht sich verändert,
daß die aufstrebenden Nationen sich behaupten. Es ist an der Zeit, daß diese
Mächte beschließen, eine Kooperation zum Vorteil aller einzugehen, wobei die
mächtigsten den ärmsten beistehen, und der wissenschaftliche Fortschritt der
gesamten Menschheit dient.
Das Drama unserer Zeit ist, daß Exzesse und Blindheit der Vereinigten
Staaten das Resultat einer messianischen Vorstellung sind, die Politiker an
die Macht gebracht hat, die seit dem Kollaps des Kommunismus in der
Sowjetunion überzeugt sind, die Vereinigten Staaten seien mit der göttlichen
Mission betraut, die Welt zu führen - weil das höchste Gut, der Liberalismus,
das absolute Böse, den totalitären Kollektivismus, besiegt habe.
Darüber hinaus gibt es die Interessen der Finanzmächte, die in den
Washingtoner Lobbies organisiert sind, deren Besitz einen großen Teil des
Planeten umfaßt, wozu auch die Medien und ihre Propagandamittel gehören. Diese
Netzwerke sind die eigentlichen Entscheidungsträger der amerikanischen
Politik, und zwar so sehr, daß die Regierung oft gar nicht in der Lage ist,
ihre eigenen Beschlüsse durchzusetzen, wenn sie diesen Interessen nicht
entsprechen. In dieser Hinsicht ist es der Regierung Obama zwar gelungen,
einige Reformen durchzusetzen, wie die allgemeine Krankenversicherung oder das
Nuklearabkommen mit dem Iran, aber sie sind immer noch da.
Gegen Ende seiner Amtszeit scheint der US-Präsident ihren Forderungen
nachzugeben, insbesondere in Syrien, wo die Aktionen am Boden trotz der
Bekanntgabe von Vereinbarungen mit Rußland zur Beendigung des Blutbades die
Kämpfe weiterhin anheizen. Überrascht durch Rußlands Militärintervention im
September 2015, die die Akteure zwang, ihre Masken abzunehmen und sich zu
entscheiden, die islamischen Terroristen zu bekämpfen oder nicht, halten
Amerikas Führer weiter fest an der Politik der Regimewechsel gegen jede
Regierung, die ihre Politik nicht akzeptiert, was insbesondere einem Israel
sehr nützt, das die Gelegenheit nutzt, den Palästinensern noch mehr Rechte und
Land zu nehmen, unter klarem Verstoß gegen die Vorschriften der UN.
Rußland hat mit seiner Intervention in Syrien gezeigt, daß es eine Armee
geschaffen hat, deren Technologie mit den USA mithalten kann und in einigen
Bereichen sogar noch moderner ist. Auch wenn die russische Armee nicht so groß
ist und keine ausländischen Stützpunkte hat – was beweist, daß es keine
imperiale Agenda hat –, ist es in der Lage, mit jedem vorsätzlichen
Angriff auf seine vitalen Interessen umzugehen. Rußland hat gezeigt, daß es
hofft, mit den Vereinigten Staaten, den Europäern, China, Indien und Asien
insgesamt zu kooperieren. Die Konfrontationshaltung der US-Regierung –
die sich weigert, anzuerkennen, daß ihre weltweite Suprematie beendet ist, die
mit anderen Ländern zusammenarbeiten könnte, statt Spannungen und Kriege zu
schüren, wie sie es seit 2001 schon tut – kann gegen die Pläne der
übrigen Welt keinen Erfolg bringen.
Die Weigerung, die neuen Realitäten anzuerkennen, der Wunsch, eine
veraltete Ordnung aufrecht zu erhalten, illustriert durch ein Papiergeld, mit
dem sie ihre Schulden finanziert, aber keine wirtschaftliche Entwicklung,
droht der Welt in einer nuklearen Apokalypse ein Ende zu bereiten. Alle
Länder, in denen die Vereinigten Staaten interveniert haben – von
Afghanistan bis Libyen – wurden zerstört, während der Nahe Osten in ein
dramatisches Chaos gestürzt wurde. Ihre Politik in Syrien ist unklar, weil sie
gleichzeitig mehrere Karten ausspielt und gleichzeitig rivalisierende Kräfte
unterstützt, an dem einen Tag mit Rußland Vereinbarungen schließt, am nächsten
Tag eine mögliche Lösung verweigert und ständig die religiösen
Feindseligkeiten unterstützt, die von Saudi-Arabien geschürt werden.
Diese Widersprüche zeigen sich auch in der Politik gegenüber dem Iran,
einem großen, für die Stabilität des Nahen Ostens und des Kaukasus
unverzichtbaren Akteur. Sie unterzeichnete die Vereinbarung, den Iran wieder
in das Konzert der Nationen aufzunehmen, droht aber gleichzeitig, ihn wieder
auszuschließen und sogar finanzielle Vergeltungsmaßnahmen gegen Länder zu
ergreifen, die zu schnell mit Teheran zusammenarbeiten.
Der Neue Warschauer Pakt
Wir wissen, daß die NATO Anfang Juli einen Gipfel in Warschau veranstalten
wird, nach dem großen ANAKONDA-Manöver unter der Führung der USA mit
Beteiligung von 24 Ländern, darunter Makedonien und sogar Albanien, natürlich
die baltischen Staaten, die Türkei, Kanada und Finnland – aber zum Glück
ohne Frankreich. Das hat symbolische Bedeutung, denn der Warschauer Pakt hörte
nach der Auflösung der Sowjetunion und dem, wie wir hofften, Ende des Kalten
Krieges auf zu existieren. Ein solcher Gipfel an einem solchen Ort klingt wie
eine nutzlose und gefährliche Herausforderung, insbesondere angesichts der
Verstärkung der Nuklearwaffen der NATO in Europa. Rußland ist für niemanden
eine Bedrohung. Es organisiert einfach eine wirtschaftliche und strategische
Kooperation mit den Asiaten und mit Afrika und Lateinamerika. Es wäre auch
bereit, dies mit den USA und Europa zu tun, aber letztere sind immer noch zu
unterwürfig gegenüber Washington, um das Angebot anzunehmen, obwohl man
aufgrund des Drucks der Bevölkerung einige Versuche sehen kann, die Ketten
dieser Sklaverei abzuschütteln.
Deshalb würde ich mir als französischer Patriot wünschen, daß sich
Frankreich aus der NATO zurückzieht und sich weigert, an dem Warschauer Gipfel
teilzunehmen, dessen Zweck es lediglich ist, Rußland zu provozieren. Ich werde
auf verschiedenen Internetseiten in Artikeln und Büchern als pro-russisch,
pro-chinesisch, pro-iranisch oder wütend anti-amerikanisch bezeichnet, aber
tatsächlich bin ich einfach pro-französisch und überzeugt, daß es im Interesse
meines Landes liegt, jegliches Blockdenken aufzugeben und die Souveränität der
Staaten zu respektieren. Ich möchte, daß Frankreich seine eigene Souveränität
zurückgewinnt und seine unabhängige Politik wieder aufnimmt, die seit General
de Gaulle seine Tradition war, was Vereinbarungen mit unseren Nachbarn nicht
ausschließt.
Unsere Ära erlebt die Rückkehr zu nationalen Gefühlen in Europa, während
der Eindruck entsteht, daß die verschiedenen Völker, wenn sie nicht in einem
gestaltlosen Eintopf verschwinden wollen, ihr Erbe schützen und durch den
Austausch mit anderen bereichern müssen. Ein Europa der Nationen ist dazu
aufgefordert, die Technokraten der EU abzulösen, die unfähig sind, mit den
großen Herausforderungen unserer Zeit fertigzuwerden. Selbst seine ernsthaften
Anhänger fangen an zu erkennen, daß es nicht ausreicht, „wie eine Ziege auf
dem Stuhl herumzuhüpfen und Europa, Europa, Europa zu schreien“ – wie es
de Gaulle einmal gesagt hat –, und daß das überhaupt nicht
weiterhilft.
Ich glaube nicht, daß Robert F. Kennedy, Jr. als antiamerikanisch oder als
Verräter betrachtet werden sollte. Aber in einem Artikel in Politico
vom 24. Februar 2016 („Warum die Araber uns in Syrien nicht wollen“) beurteilt
er die Politik seines Landes genauso wie ich:
„Sie hassen nicht ,unsere Freiheiten’, sie hassen es, daß wir unsere Ideale
in ihren Ländern verraten – wegen des Öls.“ Er führt in seiner
Auflistung auch die Iraner auf und erinnert an den Sturz Mossadeghs, der 1952
von der CIA gestürzt wurde, nachdem dies dem britischen MI6 nicht gelungen
war.4
Schlußfolgerung
Es ist höchste Zeit, daß die amerikanische Hybris ersetzt wird durch einen
Geist der Zusammenarbeit, den die ganze Welt mit Erleichterung begrüßen würde.
Eine Zusammenarbeit aller Länder auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts
und gemeinsamer Interessen – in einem solchen friedlichen Umfeld
zwischen den Nationen könnte eine vollkommene nukleare Abrüstung auf die
Tagesordnung kommen, und die nuklearen Mächte könnten vereinbaren, sie
gleichzeitig durchzuführen.
Frankreich, daß seine Größe in der Vergangenheit in der Verteidigung
universeller Werte gezeigt hat, könnte zu diesem Prozeß beitragen, wenn andere
betroffene Nationen ihre Drohungen zurückgenommen haben. Aber die
Abschreckung, die bisher einen neuen, tödlichen Weltkrieg verhindert hat, wird
auch weiterhin in der einen oder anderen Form fortgesetzt werden müssen, um
den Frieden auf dem Planeten zu garantieren.
Abschließend möchte ich noch einen großen französischen Philosophen
zitieren, der auch ein außergewöhnlicher Staatsmann war – General de
Gaulle. In seiner Rede vor Studenten der Universität von Mexiko sagte er
1964:
„Tatsächlich bleibt jenseits der schrumpfenden Distanzen, der schwächer
werdenden Ideologien und der politischen Systeme, die ihren Schwung verlieren
– und wenn sich die Menschheit nicht eines Tages in einer monströsen Akt
der Selbstzerstörung vernichtet – als Tatsache, die unsere Zukunft
beherrschen wird, die Einheit des Universums: eine Sache – die des
Menschen; eine Notwendigkeit – die des Fortschritts der Welt und daher
auch der Unterstützung all jener Länder, die dies wünschen, um sich zu
entwickeln; eine Pflicht - die des Friedens. Diese bilden für unsere Gattung
die Grundlage unserer Existenz.“
Anmerkungen
1. René Girand, „Nietzsche contre le Crucifié”, in La voix
mécommue du réel; Une théorie des mythes archaiques et modernes, Grasset,
2002.
2. Vortrag von General Gallois 1984 bei einem Kolloquium, das vom Institut
Charles de Gaulle und der Universität de Franche-Comté in Arc-et-Senans
veranstaltet wurde.
3. Nach Angaben des britischen IISS (International Institute for Strategic
Studies) betragen die Verteidigungsausgaben schätzungsweise: Vereinigte
Staaten 597,5 Mrd.$, China 145,8 Mrd.$, Saudi-Arabien 81,9 Mrd.$, Rußland 65,5
Mrd.$, Großbritannien 56,2 Mrd.$, Indien 48 Mrd.$ und Frankreich, an siebter
Stelle, 46,8 Mrd.$.
4. Siehe http://www.politico.eu/article/why-the-arabs-dont-want-us-in-syria-mideast-conflict-oil-intervention/
|