Frieden und Überwindung der Armut
Von Ramsey Clark
Der frühere US-Justizminister (1966-67) Ramsey Clark hielt bei
der New Yorker Konferenz des Schiller-Instituts am 7. April die folgende
Rede.
[Applaus.] Vielen Dank, vielen Dank! Welch ein gutes Publikum und Treffen
für die Sache des Friedens, die Überwindung der Armut, und dafür, die letzten
wahren Herausforderungen für die Menschheit anzupacken und in Frieden
gemeinsam auf Mutter Erde zu leben.
Wir mißhandeln unsere Mutter auf vielfältigere Art und Weise, als wir
wirklich begreifen.
Ende letzten Jahres flog ich von Norden nach Süden in Korea, und von Norden
nach Süden in Vietnam, und die Verheerungen, die diesen beiden Ländern im
letzten Jahrhundert zugefügt wurden, sind immer noch sehr sichtbar. Man sieht
diese Gebiete, in denen damals gedankenlos Agent Orange eingesetzt wurde, und
man sieht etwas, was man nur als eine gewaltige Öde bezeichnen kann -
schlimmer als eine Öde; es ist gesundheitsschädlich, sich dort aufzuhalten,
und das nach allen den Jahren. Die Geldsummen, die wir ausgegeben haben, und
das Ausmaß unserer nationalen Anstrengungen für die „Projekte“ (wenn man sie
so nennen kann) des Todes und der Zerstörung - sowohl der physischen
Zerstörung als offensichtlich auch auch der moralischen, obwohl die sich nicht
so leicht messen läßt -, sind unermeßlich.
Wir stehen immer noch vor der gewaltigen Herausforderung, Prinzipien zu
finden und nach ihnen zu leben, die uns den Frieden garantieren. Diese
Prinzipien werden uns herausführen aus den Labors, in denen immer noch
verrückte Wissenschaftler versuchen, noch bessere und wirksamere Mittel der
Massenvernichtung zu erfinden, und hineinführen in eine Gesellschaft, die sich
mehr für das Wohl ihrer Kinder interessiert als für den Zustand unserer
Landesverteidigung. (Im Grunde wird damit das Wort „Verteidigung“ auf den Kopf
gestellt, weil es eigentlich das genaue Gegenteil bedeutet, nämlich die Macht,
durch die Drohung oder Anwendung überlegener Technologien und
Massenvernichtungswaffen und überlegener einsatzbereiter Kräfte andere in die
Knie zu zwingen.) Die Erde ist immer noch bewohnbar, obwohl wir uns die größte
Mühe für das Gegenteil geben, aber wenn wir so weitermachen, dann könnten wir
eines Tages aufwachen und feststellen, daß Mutter Erde krank ist, daß wir die
Ursache ihrer Krankheit sind und daß wir, wenn wir unsere Mama nicht lieben,
einen hohen Preis dafür bezahlen werden.
Eine freudvolle Herausforderung
Tatsächlich ist die Herausforderung, eine solche Krise zu bewältigen, eine
der glücklichsten Herausforderungen, die eine Bevölkerung jemals hatte. Das
sollte einem sehr viel mehr Freude bereiten, als neue Technologien zur
Massenvernichtung zu erfinden, denn es geht nicht nur darum, die natürlichen
Bedingungen auf unserem Planeten zu erhalten, sondern darum, sie zu
verbessern. Es ist ein wunderschöner Planet, der allen Frieden und Wohlstand
bietet, dem aber wegen unserer Gier und unseres Verhaltens immer noch die
Massenvernichtung droht.
Ich staune über die Wissenschaft; ich habe mich immer über die Wissenschaft
gefreut, weil ich dachte, daß sie unsere Bemühung ist, alle Aspekte der
Umgebung, in der wir leben, zu verstehen - nicht nur die globale, sondern auch
die planetare und interplanetare. Auf unserem Planeten sind immer noch große
Unternehmungen möglich, und noch interessanter wird es sein, jedenfalls was
die uns noch unbekannten Aspekte angeht, das ganze übrige Universum zu
meistern. Die größte Herausforderung für uns ist einfach die, mit Liebe und
Zuneigung und konstruktivem Verhalten miteinander zu leben - in unserer
Familie, mit unseren Nachbarn und im ganzen Land - und, am allerwichtigsten,
in Frieden und konstruktiver Zusammenarbeit mit allen unseren Nachbarn, mit
denen wir diesen Planeten teilen - diesen Planeten, der immer noch überwiegend
sehr schön ist, auf dem es aber wegen unserer Gedankenlosigkeit und des
gefährlichen Mißbrauchs von „Mutter Natur“ immer mehr Ödland gibt.
Wir hätten die Fähigkeiten, alle unsere Probleme zu lösen, aber wir geben
uns mehr Mühe, Probleme zu schaffen, dafür wenden wir den größeren Teil
unserer Energie und Ressourcen auf. Und leider haben wir sogar den Ehrgeiz,
andere auf der Welt durch Drohung und Anwendung von Gewalt zu beherrschen -
etwas, was ein menschenliebendes Volk schon längst verhindert und überwunden
hätte.
Aber schauen Sie sich die Größe unserer Streitkräfte an, denken Sie an die
ständigen Ausgaben für das Erfinden und Bauen und manchmal das Anwenden -
entweder als Drohung oder durch tatsächlichen Einsatz - der
Massenvernichtungsmittel, die wir jetzt haben. Wenn man auf die
Rüstungsausgaben verzichtet und sie einsetzt für Bildung und
Nahrungsmittelproduktion und Wohnungsbau und den Schutz der Familien in Asien,
in Afrika und in Lateinamerika, dann würde dies die Lebensqualität auf der
Erde auf eine neue Ebene heben. Doch wir geben immer noch Milliarden für
vielfältige Formen der Gewalt und die Androhung ihres Einsatzes aus, um andere
dazu zu bringen, so zu handeln, wie wir es wollen, in einer Weise, die weder
deren Kinder noch unseren eigenen nützt.
Solange wir nicht unsere vermeintliche große Verpflichtung zur
Überlegenheit bei Gewaltmitteln verwerfen, solange wir nicht erkennen, wie sie
unsere Gegenwart und die Zukunft unserer Kinder gefährden, solange wir die
Mittel zur Massenvernichtung nicht abschaffen und ihre Gegenwart nicht länger
in unserer Mitte tolerieren - solange werden wir in der Gefahr leben, daß
unser eigenes Verhalten die Möglichkeit der zukünftigen Generationen, in
Frieden und Wohlstand zu leben, stark beeinträchtigt oder zunichte macht.
Dazu braucht es nicht viel, nur soviel, unsere Gier nach Besitz zu
überwinden und das zu genießen, was wirklich gut und wirklich wichtig ist: die
Gesundheit und das Wohlergehen und die Bildung aller Kinder überall, aller
Erwachsenen und Senioren wie mir selbst, überall sicherzustellen. Wir müssen
mit unserem Verstand und unseren Energien, die offensichtlich ausreichen, wenn
man sie richtig nutzt, dafür sorgen, daß jedes Kind, das auf der Erde geboren
wird, Gesundheit hat, Bildung, und die Chance, alle seine Potentiale für den
eigenen Beitrag zum eigenen Wohl, dem der Familie und dem von uns allen zu
entwickeln.
Das ist eine Herausforderung, die wirklich Freude macht - jedenfalls viel
mehr, als in irgendeinem Labor an der Entwicklung neuer Technik zur
Massenvernichtung zu arbeiten, auch wenn diese Technik scheinbar einen Nutzen
hat. Denn in Wirklichkeit zerstört sie die Umwelt, die wir brauchen, damit das
Leben auf unserem Planeten weiterbestehen kann.
Wenn die menschliche Natur Herausforderungen mag - und ich muß zugeben, daß
ich eine große Leidenschaft für Herausforderungen habe, die interessieren mich
viel mehr als alles andere -, dann werden wir diese Herausforderungen
annehmen. Dann können wir das gewaltige Leid überwinden, das man selbst sehen
kann, bei jeder Reise durch die armen Gebiete in den Vereinigten Staaten, so
wie in großen Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Wenn unsere Zeit und
Energie und unsere Wünsche wirklich auf Lebensqualität ausgerichtet wären, und
damit meine ich die Lebensqualität auf der Erde und aller lebenden Geschöpfe,
die auf ihr herumwimmeln, dann müßten wir nicht die erste Gattung sein, die
sich selbst vernichtet, und wahrscheinlich auch die meisten anderen mit sich
vernichtet. Vielleicht kämen danach andere Lebensformen auf, die nicht so
kriegerisch sind.
Mehr Leid als Wohlstand
Wir müssen uns der Frage stellen, warum wir immer noch Wissenschaftler
haben, die Milliarden für die Suche nach immer besseren
Massenvernichtungswaffen ausgeben, für die Herstellung von Technologien, die
uns mit ihrem Produkt der Massenvernichtung einzwängen und aufzehren, während
wir weit darin zurückliegen, gesunde und glückliche Kinder in harmonischen
Familien aufzuziehen, und zwar nicht nur dort, wo wir leben, was dank unseres
Wohlstands keine große Herausforderung ist, jedenfalls keine so große wie in
den meisten Teilen der Welt. Wir haben ein wichtiges, urmenschliches Interesse
daran, das für die Zukunft der Erde wesentlich ist, für die Gesundheit aller
Kinder auf dem Planeten zu sorgen, von denen die meisten keine
Krankenversorgung haben - weder in Form von Krankenversicherungen, noch in
Form einfacher menschlicher Fürsorge. Denn die Kinder haben zwar die
Mutterliebe, aber wenn die Mutter selbst hungrig und krank ist, dann sind ihre
Möglichkeiten begrenzt. Und wenn man durch die Welt reist, dann sieht man, daß
das Leid größer ist als der Wohlstand derjenigen, die im Überfluß
schwelgen.
Das ist eine der interessantesten, schwierigsten und sicherlich eine der
größten Herausforderungen, die die Menschheit jemals hatte, einfach aufgrund
der Zahl der Menschen, um die es heute geht. Wir müssen uns dazu verpflichten,
dauerhaft die Lebensqualität für alle Menschen auf der Welt zu verbessern,
indem wir nicht nur den Militarismus, sondern auch alle anderen Formen der
Gewalt gegen die Menschheit beseitigen.
Und die gefährlichste davon ist vielleicht gar nicht der Militarismus,
sondern die Gefahr für die Umwelt. Wir haben einen wunderschönen Planeten. Er
wurde uns kostenlos überlassen, aber wir müssen ihn pflegen. Aber das
„Gewinnstreben“, wie man es in unserem System nennt, mißachtet nicht nur das
Wohl von Mutter Erde, sondern beutet sie noch aus, denn für das Ergebnis unter
dem Strich muß man nicht in die Erhaltung der Umwelt investieren und in die
Produktivität der Böden und nicht in das Wissen, das Verständnis und die
Entschlossenheit der Menschen zu einem Leben in Freiheit und Frieden.
Ich reise zuviel, ein vernünftiger Mensch würde das nicht tun, und ich
reise nicht oft an glückliche Orte. Ich komme vielleicht durch den Flughafen
von Paris, aber dann bin ich auf dem Weg nach Bangladesch oder einem anderen
Ort, wo die Bedingungen für die Menschen inakzeptabel sind, wo schon die
Sicherheit für Leib und Leben nicht gewährleistet ist, von Nahrung,
Krankenversorgung und Bildung ganz zu schweigen. Wir stehen vor einer
gewaltigen Herausforderung. Dennoch läßt sich für Menschen mit Gewissen kaum
eine größere Quelle der Freude vorstellen, als sich dafür ins Zeug zu legen
und zu erleben, daß man sich wohldurchdacht und mit genügend Wissen der
Erhaltung des Lebens auf der Erde widmet, und der Chancen für alle die Kinder,
die nach uns kommen, daß sie immer bessere Bedingungen genießen werden als
jene, die wir ihnen hinterlassen.
Mutter Erde hat tiefe Narben unseres Verhaltens, man kann sie sogar in den
Städten und Landgebieten der blühendsten Nationen sehen. Aber besuchen Sie die
Kontinente, auf denen so viele arme Menschen leben, in Afrika und in vielen
Teilen unserer eigenen Hemisphäre, in Teilen Asiens, wo Millionen und
Abermillionen Menschen ohne angemessene Krankenversorgung, angemessene
Bildung, anständige Wohnungen oder auch nur anständige Ernährung leben. Wenn
Sie Herausforderungen lieben, dann leben wir in der besten aller Zeiten, denn
wir haben die größte Herausforderung und die klare Möglichkeit, alle
Bedrohungen für die Lebensbedingungen der Menschen auf diesem Planeten
anzupacken und zu lösen. Es ist nicht notwendig, daß Kinder schon im
Kindesalter sterben, daß sie unterernährt sind und jung sterben, daß sie ohne
Frieden und Sicherheit leben, aber dennoch ist das für viele, wenn nicht die
meisten in der Dritten Welt eine ständige Bedrohung. Und sogar hier, sogar in
Großstädten wie New York, gibt es Kinder, die in einer Armut und
Vernachlässigung aufwachsen, die für ein menschliches Gewissen inakzeptabel
ist.
Noch weit zu wandern bis zum Ruh’n
Der Wald lockt tief und dunkel nun –
Doch ich hab’ noch meinen Teil zu tun
Und weit zu wandern bis zum Ruh’n.1
Wir müssen aber erkennen, daß wir uns auf einem Weg befinden, der ein
Wettlauf zwischen Bildung und Katastrophe ist, zwischen dem Einsatz für das,
was für das menschliche Leben auf diesem Planeten in den kommenden
Jahrhunderten wesentlich ist, so wie es uns unsere Bildung sagt. Wie leben
hier recht bequem, aber wenn man sich einmal umsieht, dann sind die realen
Gefahren gewaltig, insbesondere im Bereich der Umwelt, wo wir an Boden
verlieren. Das wird nicht erkannt, und die Menschen, die unter den schlimmsten
Bedingungen leben, sind am wenigsten in der Lage, etwas daran zu ändern.
Deshalb müssen diejenigen mit mehr Möglichkeiten uns allen zu Hilfe kommen,
denn auf diesem kleinen Planeten mit seiner inzwischen großen Bevölkerung
sitzen wir buchstäblich alle im selben Boot, meine Brüder. Wie es in dem alten
Lied heißt: „Wenn man das eine Ende schüttelt, wird das andere gerüttelt.“
Diejenigen unter uns, die diese einzigartigen Chancen haben, Dinge zu
wissen und ein Leben in Frieden zu führen und es sich vorzustellen - wir
müssen die Ärmel hochkrempeln und uns erfreuen an dem wichtigsten Kampf, vor
dem die Menschheit je stand, nämlich mit einer wachsenden Bevölkerung in
Frieden zu leben. Wir sollten uns dieser Herausforderung mit Freude stellen.
Wir haben das Glück, eine wichtige Aufgabe zu haben. Wir müssen es nur
erkennen, die Ärmel hochkrempeln und es anpacken. Das ist die wahre Freude im
Leben, wie schon Saul sagte: Sie liegt darin, sich intensiv für eine große
Sache einzusetzen, von der man überzeugt ist, und gut abgekämpft zu sein,
bevor man zum alten Eisen geworfen wird. Es ist die Gelegenheit, unseren
Kindern zu einer Welt zu verhelfen, in der wir dazu beigetragen haben, viele
der existierenden Herausforderungen zu bewältigen, damit sie in einer Zukunft
von Frieden und Überfluß leben, in der die Liebe alle Gesellschaften
durchdringt, jede für sich und alle zusammen.
Vielen Dank.
Anmerkung
1. „The woods are lovely, dark and deep, / But I have promises to keep,
/ And miles to go before I sleep.” Aus dem Gedicht „Stopping by Woods
on a Snowy Evening” von Robert Frost. Übersetzung von Walter A. Aue
(„Halten am Walde im Abendschnee“, http://myweb.dal.ca/waue/Trans/Frost-Woods.html)
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