Kreativität als das wahre Selbstverständnis der Frauen
Von Helga Zepp-LaRouche
Bei der internationalen Frauen-Konferenz der
Soong-Ching-Ling-Stiftung vom 14.-16 Oktober in Beijing hielt die Vorsitzende
des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, den folgenden Vortrag. Er wurde
zum Abdruck aus dem Englischen übersetzt.
Wie im jüngsten Weißbuch über den Status der Frauen in China hervorgehoben
wird, wurden in den letzten 20 Jahren im Kontext des allgemeinen
wirtschaftlichen Fortschritts in China auch große Fortschritte bei der
Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter gemacht. In mehreren
Kategorien hat China die Milleniums-Ziele der Vereinten Nationen bereits
vorzeitig erreicht. Es ist aber auch klar, daß der Abstand zwischen den
städtischen Zentren und den ländlichen Gebieten in Bezug auf den
Lebensstandard und das Bildungsniveau sich auch in der Geschlechterfrage
widerspiegelt und weiterer Verbesserung bedarf. Man kann jedoch ganz klar
sagen, daß die absolute Priorität und der Fokus, den die chinesische Regierung
auf die Bildung insgesamt und insbesondere die Bildung für Mädchen und Frauen
und vor allem auf Exzellenz der Bildung gelegt hat, China zu einem der
wegweisenden Länder gemacht haben - vielleicht dem wichtigsten.
Chinas First Lady, Peng Liyuan, hat gerade eine wunderbare Rede vor den
Vereinten Nationen gehalten - auf Englisch! - in der sie die Bedeutung der
Schulbildung für Mädchen hervorhob, da die Schulen die ersten Lehrer für den
Unterricht ihrer Kinder stellen und damit auch Einfluß auf die kommende
Generation nehmen werden, da der Bildung die Gleichberechtigung folgt. Ihr
chinesischer Traum sei es, so sagte sie, daß alle Kinder und alle jungen
Frauen auf dem Planeten Zugang zu einer guten Bildung haben werden! Ich weiß,
daß Madam Soong Ching Ling1 darüber sehr froh gewesen wäre.
Ich bekenne stolz, daß das auch mein Traum ist. Ich habe schon sehr oft
gesagt, daß ich noch erleben möchte, daß jedes Kind auf diesem Planeten
Zugang zu universeller Bildung hat, denn sobald das gelungen ist, wird dies
alles ändern - in dem Sinne, daß dann das alte oligarchische System für immer
überwunden sein wird. Denn die oligarchische Herrschaft beruht auf der Idee,
daß es eine kleine, mächtige Elite gibt, deren Herrschaft auf der
Rückständigkeit der Bevölkerung gründet. Daher wird, wenn jedes Kind auf dem
Planeten Zugang zu universeller Bildung hat, eine neue Epoche der menschlichen
Geschichte beginnen, in der das kreative Potential der menschlichen Gattung in
einer Weise entfesselt werden wird, wie es heute noch unvorstellbar ist.
Während es unverzichtbar ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter auch
im Bildungsbereich durch entsprechende Gesetze zu unterstützen, kann eine
wahre Gleichberechtigung nur erreicht werden, wenn beide Geschlechter ihre
wahre Identität dadurch bestimmen, daß sie die ihnen innewohnenden kreativen
Potentiale voll entwickeln. Solche Gesetze sollten daher ergänzt werden, indem
man über etwas nachdenkt, was der deutsche Dichter Friedrich Schiller
hervorgehoben hat, nach dem das Schiller-Institut benannt ist.
Schiller schrieb, daß das weibliche Geschlecht das ästhetischere der beiden
Geschlechter sei. Warum ist das wichtig? Nachdem die Französische Revolution
vom Jakobinerterror übernommen wurde, schrieb er die „Ästhetischen
Briefe“,2 als Antwort auf das Scheitern des Versuchs, die
Amerikanische Revolution in Europa zu wiederholen. Er sagt bedauernd, daß der
objektive Zustand für eine Veränderung existiert habe, aber die subjektiven,
moralischen Voraussetzungen, um sie herbeizuführen, hätten gefehlt.
Von nun an, so schloß er, sei eine Verbesserung im politischen Gebiet nur
möglich durch eine Veredelung des Individuums, und um das zu erreichen, müsse
die ästhetische Erziehung insbesondere durch die große klassische Kunst betont
werden. Dafür, betonte er, sei die Entwicklung dessen, was man im Deutschen
als „Empfindungsvermögen“ bezeichnet, das wichtigste Erfordernis seiner Zeit.
Denn dieses „Empfindungsvermögen“, diese Gesamtheit der emotionalen und
intellektuellen Fähigkeit einer Person, die Welt in sich aufzunehmen und mit
ihr zu fühlen, sei der Schlüssel zu der subjektiven, moralischen Verbesserung,
die das Individuum in die Lage versetzt, als welthistorische Persönlichkeit zu
handeln, wenn der Moment der Herausforderung kommt, als Vertreter der
zukünftigen, besseren Ära der menschlichen Geschichte.
Schiller sagt, daß das weibliche Geschlecht eine größere natürliche Neigung
zum Schönen habe, und daher als das „schöne Geschlecht“ bezeichnet werden
sollte - nicht so sehr wegen seiner äußerlichen Schönheit, die er als
„architektonische Schönheit“ bezeichnet, die ein Geschenk der Natur, aber kein
Verdienst einer Person sei, im Unterschied zu der Schönheit der Seele -,
sondern wegen der Reaktion der Frauen auf Schönheit. Das ist sehr wichtig,
angesichts des angeblichen Widerspruchs zwischen der Vernunft und den Sinnen
und den entsprechenden Emotionen. Denn Schiller zufolge ist die Schönheit der
Bereich, in dem die Vernunft und die Sinne zusammenfinden; die Schönheit
entspricht im Bereich der Sinne der Vernunft.
Schiller zufolge appelliert unter allen Neigungen, die sich aus dem Gefühl
der Schönheit ableiten und die den schönen Seelen eigen sind, keine mehr an
die moralischen Forderungen als die veredelnde Leidenschaft der Liebe, und
keine erzeugt Veranlagungen, die der wahren Würde des Menschen angemessener
wären. Während also die Bestimmung des Menschen, seine Einsichten in die
wahren universellen Prinzipien immer weiter zu vervollkommnen und auf der
Grundlage dieser Erkenntnisse zu handeln, für Männer und Frauen die gleiche
ist, versetzt die größere Neigung der Frauen zum Schönen und dem damit
verbundenen Gefühl der Liebe sie in die Lage, eine wichtige Rolle im Bereich
der ästhetischen Erziehung der Gesellschaft zu spielen - vorausgesetzt, daß
sie von innen geleitet sind und nach Wahrheit streben.
Schiller sagt, und ich stimme darin mit ihm überein, daß der Mann sich mit
einer Beleidigung seines Geschmacks abfindet, solange der innere Gehalt einer
Sache seinen Geist befriedigt. Er schätzt sie normalerweise sogar um so mehr,
wenn das Wesen einer Sache härter in Erscheinung tritt, und das Wesen von der
äußeren Erscheinung getrennt ist. Aber die Frauen verzeihen eine
vernachlässigte Erscheinung nicht; selbst wenn der Inhalt reich ist, verlangen
sie, daß die Form, in der der Inhalt erscheint, diesem Reichtum entsprechen
muß. Wenn diese äußere Erscheinung den Forderungen des ästhetischen Gefühls
nicht entspricht oder sie sogar beleidigt, werden sie diese zurückweisen oder
wenigstens relativieren.
Jene Frauen in der westlichen Kultur, die versuchen, sich der Herrschaft
männlicher Chauvinisten oder einer patriarchalischen Kultur zu widersetzen,
indem sie männlicher sind als die Männer, indem sie versuchen, alle
Eigenschaften der sogenannten Alpha-Typen des Mannes zu imitieren, tun weder
der Gesellschaft noch sich selbst einen Gefallen. (Tatsächlich tendieren sie
sogar, wie einige Beispiele von Frauen dieser Art in bestimmten westlichen
Hauptstädten zeigen, dazu, noch schrecklicher zu sein als ihre männlichen
Gegenstücke.) Aber auch jene Frauen, die nur auf ihre äußere Schönheit und
Reize Gewicht legen, tragen nichts von Wert zur Verbesserung der Gesellschaft
bei.
Wenn die Frau aber von einem inneren Trieb geleitet ist, ihre eigenen
kreativen Kräfte zu entwickeln, ihrem Wunsch, etwas Neues zu dem Körper des
Wissens beizutragen, das der Menschheit derzeit zur Verfügung steht, dann fügt
ihre größere Affinität zur Schönheit jedem ihrer Unterfangen eine Grazie
hinzu, und es gelingt ihr, ihre Zeitgenossen in einen positiven Geist zu
versetzen und ihre Seelen aufnahmefähiger für die Wahrheit zu machen.
Während der derzeitige Zustand der meisten Gebiete der Welt bei weitem
nicht ideal ist - sei es aufgrund der Armut von immer noch Milliarden von
Menschen und der relativen Last, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, sei es
aufgrund des Niedergangs und der Dekadenz eines großen Teils der westlichen
Kultur -, ist es doch extrem wichtig, daß solche herausragenden Vorbilder wie
Johanna von Orleans, Juana Ines De La Cruz, Marie Curie, Clara Schumann, Soong
Ching Ling, Amelia Boynton Robinson, Walentina Tereschkowa oder Liu Yang, die
bekannte Kosmonautin und Taikonautin, die gegenwärtigen und zukünftigen
Generationen begeistern.
Das Menschenbild, das von solchen großartigen Dichtern und Denkern wie
Konfuzius, Friedrich Schiller oder Wilhelm von Humboldt entwickelt wurde,
wonach der Mensch in der Lage ist, sich immer weiter zu vervollkommnen und
alle Talente, die in ihm oder ihr angelegt sind, harmonisch zu entfalten und
eine Schöne Seele zu entwickeln, was Schiller als eine Person definiert, für
die Freiheit und Notwendigkeit, Pflicht und Leidenschaft ein und dasselbe sind
- und nur das Genie erfüllt diese Voraussetzungen -, ist keine utopische
Phantasie, sondern etwas, was auch in der Realität erreicht werden kann.
Die Menschheit befindet sich jetzt an einer Wegscheide: Wir könnten unsere
Gattung vernichten, wenn wir zulassen, daß geopolitische Interessen uns in
einen neuen, diesmal thermonuklearen Krieg treiben. Oder wir werden die
Geopolitik überwinden, indem wir ein neues Paradigma schaffen, das durch die
gemeinsamen Ziele der Menschheit bestimmt ist, wie es beispielsweise Präsident
Xi Jinpings Win-Win-Strategie verkörpert. Wenn wir diese zweite, glücklichere
Möglichkeit erreichen, dann wird sich der wahre Charakter der Menschheit als
die einzige kreative Gattung, die wir bisher im Universum kennen,
manifestieren.
Wir sind wirklich an einer Wegscheide. Das mögliche Potential für die
Zukunft ist bereits in Gang gesetzt. Das Win-Win-Modell einer neuen Form der
Beziehungen zwischen den Nationen und der Form eines alternativen
Wirtschaftsmodells, wie es mit BRICS und durch neue Finanzinstitute wie die
AIIB, die NDB und andere entsteht, stellt bereits eine solche Perspektive der
Hoffnung dar.
Aber es ist auch eine Periode großer Herausforderungen. Denken Sie nur an
die Kriege auf der Grundlage von Lügen, die jetzt die gesamte Region
Südwestasien zerreißen, und denken Sie an die schrecklichen Folgen, die dies
für die Frauen in den meisten Teilen Südwestasiens hat, wo den meisten von
ihnen das Menschenrecht, als Menschen behandelt zu werden, verweigert
wird.
Die daraus resultierende Flüchtlingskrise, in der Millionen Menschen vor
den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten fliehen, spaltet derzeit Europa. Aber
in diesem Moment ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Frauen in solchen
Momenten außerordentlicher Krisen immer wieder erstaunliche Führungsqualitäten
gezeigt haben.
Denken Sie z.B. an die Frauen in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg, die eine absolut entscheidende Rolle dabei gespielt haben,
Deutschland aus einem Trümmerfeld wiederaufzubauen. Oder denken Sie an die
vielen Frauen in Afrika, die unter absolut unmöglichen Bedingungen um das
Leben ihrer Kinder kämpfen.
Soong Ching Ling sagte, daß die Bedingungen für die Frauen einer
Gesellschaft ein Maßstab für die Entwicklung der betreffenden Nation sind. Und
nach diesem Maßstab ist heute kein Land auf dem Planeten vollkommen
entwickelt.
Frauen handeln in Krisen oft als Heldinnen, und angesichts dieser Tatsache
will ich in Bezug auf die ästhetischen Talente der Frauen betonen, daß die
Frauen eine absolut entscheidende Rolle dabei spielen müssen, in der heutigen
Zeit eine kulturelle Renaissance herbeizuführen. Soong Ching Ling sagte im
Kampf für die Befreiung der Frauen: „Schließt euch den Bemühungen der Frauen
in aller Welt an und bildet eine Vereinigte Front der Frauen.“
Ich möchte Sie gerne bitten, daß wir angesichts der Herausforderungen der
heutigen Welt eine solche Vereinigte Front in ihrem Geiste bilden, um eine
neue gerechte Weltwirtschaftsordnung aufzubauen, die eine absolute
Voraussetzung für eine wahre Gleichberechtigung der Frauen sein wird. Lassen
Sie uns zusammenarbeiten, um die Win-Win-Perspektive auf den gesamten Planeten
auszuweiten!
Anmerkungen
1. Soong Ching Ling war die in China hochverehrte Ehefrau des Begründers
des modernen China, Sun Yatsen.
2. „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von
Briefen“, 1794.
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