Das Beispiel der Londoner Schuldenkonferenz von 1953
Von Karel Vereycken
Karel Vereycken ist Journalist und hielt am 14. Juni bei der
Pariser Konferenz des Schiller-Instituts den folgenden Vortrag, der für den
Abdruck leicht überarbeitet wurde.
Das Thema dieser Vortragsrunde ist produktiver Kredit und unproduktiver
monetärer Betrug, auch Schulden genannt. Es gab keine bessere Einführung in
dieses Thema als das, was Jacques [Cheminade] über die Geschichte des
Hamiltonischen Kredits gesagt hat.
Wir werden im folgenden von Dean Andromidas etwas über die Lage in
Griechenland hören, und dann kommen unsere Freunde von Umoja zu Wort, die sich
schon lange Zeit damit beschäftigen.
Wie wir gestern gesehen haben, wurde in den vergangenen Wochen praktisch
jeden Tag ein angeblich unmittelbar bevorstehender Kompromiß zwischen
Griechenland und der Troika verkündet. Tatsächlich gab es keine Einigung, und
es gab auch gestern keine Einigung, auch wenn die griechischen Unterhändler am
Samstag in Brüssel waren.
Die kommenden vier Tage werden wahrscheinlich eine Wende in der einen oder
der anderen Richtung bringen, denn am Donnerstag wird ein Treffen der
Eurogruppe stattfinden, auf dem im Prinzip eine Kompromißlösung beschlossen
werden soll. Griechenland soll bis zum 30. Juni 1,6 Mrd. Euro bezahlen. Aber
Griechenland verlangt auch, daß die 7,2 Mrd. Euro aus der letzten Tranche des
IWF-Rettungsplans bezahlt werden, und im Gegenzug sagen die Institutionen: Wir
sind dazu nur bereit, wenn ihr eure Renten kürzt, wenn ihr die Mehrwertsteuer
anhebt, und wenn ihr einen Haushaltsüberschuß von mehr als 1% erzeugt.
Allerdings werden 80% des Primärhaushaltes heute dazu verwendet, die Renten
zu bezahlen. Der IWF sagt also, eure Computer sollen aussagen, daß all die
6000 Mrd. Dollar an Finanzderivaten, die auf den 320 Mrd. der griechischen
Staatsschulden aufgebaut sind, gute Papiere mit vollem Wert sind, und deshalb
wollen wir, daß Griechenland eine Politik betreibt, die beweist, daß unsere
Computermodelle richtig sind.
Das ist wie bei den Computerprogrammen für die Klimamodelle: Man macht erst
das Modell, und dann erfindet man die Daten, damit die „Realität“ mit dem
Modell übereinstimmt.
Genau darum geht es jetzt in Griechenland: Menschen sollen sterben, indem
die Gesundheitsausgaben und die Renten gekürzt werden, und all das nur, um
eine mathematische Gleichung aufrecht zu erhalten, die die Ratingagenturen
verwenden, um mit Geld zu spekulieren, das wertlos ist.
Griechenland sagt zu Recht, daß dies inakzeptabel sei, weil es tatsächlich
so etwas wie die Realität gibt. Und die Realität ist, daß Griechenland, damit
es überhaupt seine Schulden bezahlen kann, zunächst zu einer produktiven
Nation gemacht werden muß, um ein Einkommen erzeugen, mit dem man irgend etwas
bezahlen kann.
Vielleicht hat jemand von Ihnen heute Le Monde gelesen, worin die
Schlagzeile lautete: „Zahlungseinstellung Griechenlands steht jetzt auf der
Tagesordnung“. Darüber wird jetzt diskutiert, es ist jetzt erlaubt, dieses
Wort in den Mund zu nehmen. Tatsächlich sind die Banken, die die griechischen
Schulden verwalten, seit 2012 bankrott - sie sind zahlungsunfähig, nicht
Griechenland. Aber auf diesen Bankrott muß jetzt reagiert werden, um ihn einer
finanziellen Reorganisation zuzuführen. Dabei hat die griechische Regierung
ganz klar gemacht, daß die einzige Lösung für das Problem darin besteht, die
Schulden zu streichen, ein Moratorium zu erklären und die Schulden zu
reorganisieren, damit die Wirtschaft wieder aufleben kann.
Es gibt nur vier Wege, um die Verschuldung zu reduzieren: 1) ein Moratorium
über mehrere Jahre; 2) eine langfristige Umschuldung der Schulden; 3) eine
teilweise oder gänzliche Streichung der Schulden, und 4) Reduzierung der
Zinsen.
Gibt es dafür Präzedenzfälle? Natürlich. Seit dem Zweiten Weltkrieg, seit
1946, gab es insgesamt 169 Fälle von Schuldenstreichungen und Moratorien. Aber
darüber wird nicht viel gesprochen, weil das einige Leute auf „dumme Gedanken“
bringen könnte.
Hier sind vier konkrete Beispiele:
Eines ist Argentinien, wo die privaten Schulden 2001 um 65% beschnitten
wurden, eine Summe von fast 100 Mrd. $, der größte Schuldenschnitt
(„haircut“), den es je gegeben hat.
Das zweite ist der Irak, wo man die Schulden Saddam Husseins als
„sittenwidrig“ einstufte, weil sie das Erbe einer Diktatur waren. Die USA
erließen dem Irak die Schulden, setzten aber dann eine so massive Austerität
durch, daß das Land zerstört wurde. Es reicht also nicht, bloß die Schulden zu
erlassen; das kann ein guter Schritt in einem Gesamtprozeß sein, ist aber
allein nicht hinreichend.
Ein noch bemerkenswerterer Fall war Ekuador 2006, wo eine Prüfung ergab,
daß 85% der Schulden illegitim und illegal waren, wobei es um eine Summe von
3,2 Mrd. $ ging. Der Staat Ekuador kaufte dann seine eigenen Schulden auf und
warf sie in die Mülltonne. Die Banken stimmten dem zu, weil alle wußten, daß
diese Schulden wertlos waren.
Ein anderer bekannter Fall war Island 2008, wo die Banken des Landes
zehnmal so groß waren wie das isländische BIP. In ihrem bankrotten Zustand
verlangten sie von Islands Bürgern, ihre Schulden zu bezahlen. Tatsächlich
sollten damit Anleger aus den Niederlanden und Großbritannien ausbezahlt
werden, die Island nur dazu benutzt hatten, Spekulationsgeschäfte mit
Hedgefonds abzuwickeln. Doch die Bevölkerung erhob sich dagegen, es gab große
Proteste, und das Ganze wurde schließlich gestoppt.
Der bekannteste Fall, über den ich jetzt sprechen will und auf den sich
SYRIZA und Tsipras als Beispiel berufen, ist die Londoner Schuldenkonferenz
von 1953. Dabei ging es um die deutschen Schulden aus der Zeit vor dem Zweiten
Weltkrieg, die verbliebenen Schulden aus dem Versailler Vertrag, die
Deutschland niemals zurückzahlen konnte, weil sie vollkommen überzogen waren
und dem Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg im Wege
standen.
Im November 1952 war Eisenhower zum US-Präsidenten gewählt worden. Am 27.
Februar 1953 fand dann in London eine von den Alliierten organisierte
Konferenz statt, zu der auch Hermann Josef Abs, ein prominenter Bankier von
der Deutschen Bank, eingeladen wurde. Die deutschen Schulden beliefen sich auf
30 Mrd. Mark, und 66% davon wurden erlassen.
Das Prinzip dahinter war ganz einfach - genau wie ich vorhin gesagt habe.
Tatsächlich ging es um vier Prinzipien. Das erste war, daß die
Schuldenrückzahlung 5% der Exporteinnahmen nicht überschreiten durfte. Das
bedeutete, daß die ganze Welt Deutschland dabei helfen mußte, seine
produktiven Kapazitäten wieder aufzubauen, damit es in der Lage war, Waren zu
exportieren, um so die Einnahmen zu steigern und die Schulden
zurückzubezahlen. Es war also ein internationaler Plan und keine Bestrafung
Deutschlands, wie man es heute mit Griechenland macht.
Die Länder, die Deutschland Schulden erließen, waren die USA, England,
Frankreich, Griechenland, Spanien und Pakistan; später gab es Vereinbarungen
zwischen Deutschland und weiteren Ländern wie Ägypten, Argentinien,
Belgisch-Kongo, Kambodscha, Kamerun etc.
Das zweite Prinzip, das bei der Londoner Konferenz beschlossen wurde, war,
daß die privaten und die öffentlichen Schulden gleichzeitig reorganisiert
wurden. Dagegen gab es in Griechenland 2011 für 90% der Gläubiger einen
50%igen Schuldenschnitt auf die griechischen Privatschulden. Aber 10% der
privaten Schulden Griechenlands sind nun in den Händen von Geierfonds, die wir
von Argentinien und anderswoher kennen, die mit diesen Schulden enorme Profite
machen wollen.
Die Konferenz von 1953 regelte also sowohl die privaten als auch die
öffentlichen Schulden. Und genau das sollte auch jetzt geschehen. Viele in
Griechenland dachten, nachdem sie Tsipras gewählt hatten, daß nun Länder wie
Italien, Frankreich und Portugal irgendwie die ganze Orientierung Europas
ändern würden. Sie hatten große Illusionen über François Hollande, daß
Frankreich sogar eine Konferenz in Paris veranstalten würde, um basierend auf
den Prinzipien, die das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit bewirkt
hatten, die Schuldenfrage für die gesamte Eurozone zu regeln.
Der griechische Finanzminister Varoufakis hat in einer seiner letzten
Erklärungen am 5. Juni gesagt, was wir jetzt brauchten, ist eine „Rede der
Hoffnung“, und er erinnerte die Welt daran, daß im September 1944 anfänglich
der Morgenthauplan auf der Tagesordnung stand, nach dem die gesamte deutsche
Industrie demontiert und Deutschland in ein Agrarland verwandelt werden sollte
- in eine „grüne“ Ökonomie ohne Industrie.
Zwei Jahre lang war das der ursprüngliche Plan der USA und Großbritanniens.
Aber 1946 hielt der damalige amerikanische Außenminister James Byrnes in
Stuttgart eine Rede - die berühmte „Rede der Hoffnung“, in der er sagte, daß
dies nicht geschehen sollte, man dürfe nicht ganze Generationen für das
Vergangene bestrafen; man sollte die Politik komplett ändern und Deutschland
wiederaufbauen, weil das gut sei für Deutschland und für die Welt.
Darauf bezog sich Varoufakis und sagte, daß dies das Vorbild sein müsse. Er
lud Angela Merkel ein, nach Athen zu kommen, um eine radikale Wende in der
europäischen Situation vorzuschlagen.