Große Infrastrukturprojekte sind die einzige wirkliche Alternative
Von Acheikh Ibn Oumar
Acheikh Ibn Oumar ist ehemaliger Außenminister des Tschad.
Im Februar veranstaltete das Schiller-Institut eine Konferenz zum Thema
„Mit den BRICS für ein Win-Win-System“. Bei dieser Gelegenheit hielt ich einen
Vortrag über ein wichtiges Entwicklungsprojekt, das darin besteht, den
Tschadsee wieder aufzufüllen, indem man Wasser aus dem Becken des Kongoflusses
umleitet.
Heute möchte ich dieses Projekt nicht noch einmal im Detail beschreiben,
sondern nur eine kurze Zusammenfassung geben und anschließend einige
Kontroversen und Herausforderungen im Zusammenhang mit diesem Projekt
behandeln, welche faktisch allen großen Infrastrukturprojekten eigen sind.
Kurze Einführung in das Projekt zur Wiederherstellung des Tschadsees
Der Tschadsee war einer der größten der Welt, mit einem Einzugsbereich von
2.382.631 km2 und einem aktiven Becken von 966.955 km2.
Die Anliegerstaaten sind Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria, im Becken liegen
außerdem Libyen, die Zentralafrikanische Republik, der Sudan und Algerien. Die
Kommission für das Tschadsee-Becken (frz. Akronym CBLT) wurde 1964
gegründet.
Aber der Tschadsee ist bedroht. Seine Fläche ist in 50 Jahren auf ein
Dreizehntel geschrumpft, von 26.000 km2 auf 2000 km2
heute. Das Austrocknen des Tschadsees hat vielfache Konsequenzen für die Natur
und die Menschen, in einem allgemeinen Kontext des Vordringens der Wüsten und
der Erwärmung des Klimas.
Anfang der 80er Jahre hob ein italienischer Ingenieur, Marcello Vichi, eine
Idee aus der Taufe, die darin besteht, Wasser aus dem Becken des Kongo
umzuleiten, um den Tschadsee neu zu beleben. Das ist ein gewaltiges Projekt -
es nennt sich Transaqua -, aber es brächte den Ländern der Region großen
Nutzen. Jahrzehntelang stand bei der Mittelbeschaffung für das Vorhaben nicht
die Finanzierung des eigentlichen Projekts im Mittelpunkt, sondern nur die
Finanzierung der Machbarkeitsstudien, die 2009 endlich begannen.
Bei der vorherigen Konferenz hatte ich vorgeschlagen, daß die BRICS eine
Führungsrolle bei der Förderung und Finanzierung des Projektes übernehmen.
Denn wenn man beim derzeitigen System der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und
Entwicklungshilfe bleibt, dann wäre es unmöglich, es zu verwirklichen.
Einwände und offene Fragen im Zusammenhang mit dem Projekt
Gegen die Vorzüge dieses Projektes werden verschiedene Einwände
vorgebracht:
Wissenschaftlicher Einwand: Einige Experten bestreiten, daß der
Tschadsee tatsächlich austrocknet, sondern sind vielmehr überzeugt, daß das
Schrumpfen des Sees ein wiederkehrendes Phänomen ist, das mit Phasen der
Ausdehnung abwechselt. Andere bestreiten es nicht direkt, bezweifeln jedoch,
daß es eine Folge der globalen Erwärmung ist.
Umwelt-Einwand: Die deutliche Steigerung der Wasserführung der
Zuflüsse [durch das Transaquaprojekt]- vor allem des Tschari- und des
Logone-Flusses - und der Größe und Tiefe des Sees werde negative Auswirkungen
auf die Fauna, Flora und die Böden haben, und auch auf die Arbeitsbedingungen
der Bauern und Hirten, die sich an die zunehmende Wasserknappheit angepaßt
haben.
Wirtschaftlicher Einwand: Ein weiterer Einwand lautet, daß das
Projekt zu teuer oder nicht kostendeckend wäre. Dieser Einwand wird faktisch
gegen alle großen Entwicklungsvorhaben vorgebracht. Afrika habe bereits den
Fehler der „weißen Elefanten“ [nutzlose Prestigeprojekte] gemacht und sollte
daher nun nicht auch noch einen weiteren Fehler - diesmal einen „grünen
Elefanten“ - machen. Dieser Sichtweise zufolge sollte man sich lieber auf
Projekte im kleinen Maßstab konzentrieren, als Ergänzung der vorhanden Formen
der Landwirtschaft und Tierhaltung, die an diese trockene Umwelt gut angepaßt
sind. Faktisch wird damit wieder die große Debatte über die sozioökonomischen
Entwicklungsmodelle eröffnet.
Der Einwand der Regierungsführung: Die betreffenden Regierungen
leiden unter technischen, institutionellen und menschlichen Schwächen -
Mißmanagement und Korruption veranschaulichen das - und sind nicht fähig,
derart große Projekte zu handhaben.
Antworten
Erwägen wir diese Einwände:
Der wissenschaftliche Einwand: Dazu möchte ich, wenn Sie
gestatten, eine Parallele zu einer andere Situation ziehen. Als AIDS ausbrach,
behaupteten einige, diese Krankheit sei keines natürlichen Ursprungs, sondern
durch Manipulation in Laboratorien entstanden. Aber wenn man einmal annimmt,
diese Hypothese sei richtig, d.h. AIDS sei tatsächlich künstlich vom Menschen
in die Welt gesetzt worden - wäre der Schaden ein anderer gewesen oder hätte
das an der Notwendigkeit wirksamer Gegenmittel irgendetwas geändert?
Ähnlich ist es bei den verschiedenen Theorien über das Austrocknen des
Tschadsees - seien sie verbunden mit den Aktivitäten des Menschen (globale
Erwärmung) oder mit rein natürlichen Ursachen (zyklischen oder anderen) -, die
Konsequenzen für die Bevölkerung sind dieselben und die Notwendigkeit, wirksam
zu reagieren, bleibt dieselbe.
Wirtschaftlicher Einwand: Herr Vichi hat einmal erwähnt, daß
einige Stellen die direkten Kosten der gewaltsamen Konflikte in Afrika auf
mehr als 20 Mrd. Dollar im Jahr schätzen (die indirekten Kosten nicht
mitgerechnet), und wenn man nur 10% dieser Summe jährlich für das
Transaqua-Projekt einsetzen würde, dann wäre das meiste schon getan. Ohnehin
lassen sich die Kosten nicht näher bestimmen, bis die Machbarkeitsstudien
fertig sind. Darüber hinaus handelt es sich um ein Projekt mit vielen
Aspekten, Abschnitten und Phasen. Beim Tempo der Umsetzung der verschiedenen
Aspekte muß man notwendigerweise alle Beschränkungen berücksichtigen,
insbesondere die Verfügbarkeit von Geld.
Die Einwände, die berechtigt zu sein scheinen und mit denen man sich
ernsthaft befassen muß, sind diejenigen im Zusammenhang mit den Fähigkeiten
der Staaten (d.h., schlechten Regierungen) und mit den Folgen für die
betroffenen Gesellschaften und für die Umwelt.
Der Kontext
Der allgemeine Kontext: Die betroffenen Staaten liegen in der
Sahelzone der Sahara; diese zeichnet sich im Inneren aus durch
Nahrungsmittelunsicherheit, Sicherheitsbedrohungen, lokale Konflikte und
schwache Institutionen, nach außen hin durch die Abhängigkeit von
Rohstoffexporten und Entwicklungshilfe, inzwischen kommt noch die Abhängigkeit
vom militärischen Schutz Frankreichs und Amerikas hinzu, und das etwa ein
halbes Jahrhundert nach der Erlangung der Unabhängigkeit.
Eine der Konsequenzen ist die fehlende Aussicht auf Arbeitsplätze für junge
Menschen, was diese in die Arme von extremistischen Gruppen und
Menschenhändler-Netzwerken treibt. Ein eindringliches Abbild davon sehen wir
in den Nöten der Migranten im Mittelmeer. Die heutige Herausforderung für
Afrika, aber auch für die Menschheit, ist es, diese Länder aus dem Kreislauf
von Armut, Abhängigkeit und Gewalt zu befreien.
Seit der Unabhängigkeit in den 60er Jahren dient insbesondere Schwarzafrika
als ein Laboratorium für Theorien und Strategien in Bezug auf wirtschaftliche
Entwicklung und politische Liberalisierung, doch das Schicksal der Bevölkerung
hat sich nicht grundlegend verbessert. Innerhalb und außerhalb Afrikas sind
unzählige Schriften mit den Fakten erschienen.
Man sollte darauf hinweisen, daß um die Jahrhundertwende gewisse Bemühungen
um einen neuen Ansatz unternommen wurden, beispielsweise NEPAD (Neue
Wirtschaftliche Partnerschaft für Afrikas Entwicklung) und der Vorschlag für
einen Marshallplan für Afrika. Dies spiegelt ein beginnendes Bewußtsein wider,
daß starke neue Initiativen auf der Grundlage tiefgreifenden kritischen
Denkens und einer breiteren Sicht der Probleme notwendig sind. Dennoch reicht
es nicht, weil wir immer noch Gefangene desselben alten Paradigmas sind; man
konzentriert sich nur darauf, die Entwicklungshilfe neu zu überdenken, während
die eigentliche Frage unserer Zeit, wie es so schön im Titel dieser Konferenz
zusammengefaßt ist, die ist, wie man „die Welt aufbaut“!
Hilfe von außen in ihrer herkömmlichen Form ist nicht immer nutzlos,
besonders in Notlagen und humanitären Krisen und als Reaktion auf kritische
lebensnotwendige Bedürfnisse. So haben beispielsweise das Bohren von Brunnen
zum Wohl der nomadischen Bevölkerung und Impfkampagnen eine nützliche Rolle
gespielt.
Aber mit der Finanzkrise in den großen entwickelten Ländern seit 2008 und
ihren bleibenden Folgen ist es unrealistisch, jene Form der Hilfe zu erwarten,
die für die Umsetzung großer Infrastrukturprogramme in Afrika notwendig ist.
Der einzige gangbare Weg ist der, aus dem Paradigma der Hilfe auszubrechen. In
dieser Hinsicht ist die Perspektive des „Win-Win“-Ansatzes, für den die BRICS
eintreten, höchst relevant.
Dort wird von Gleichrangigkeit der Partner ausgegangen, und zwar nicht nur
Gleichrangigkeit in Bezug auf den zu erwartenden Nutzen, sondern auch in Bezug
auf die Verantwortung. Im traditionellen Hilfeschema müssen die
Empfängerländer nicht auf Augenhöhe mit den Geberländern stehen; tatsächlich
ist die Hilfe von der Grundidee her ungleich, weil ein stärkerer und einen
schwächerer Partner vorausgesetzt werden. Dies geht so weit, daß die
Geberländer die Politik und die Programme für uns formulieren, ja sogar andere
für uns denken.
Dagegen werden mit der Gleichrangigkeit der Verantwortung im
„Win-Win“-Ansatz die schwächeren Partner ermutigt, eigene Anstrengungen zu
unternehmen: sich besser zu organisieren, die eigenen Kapazitäten zu stärken,
für einen stärkeren Zusammenhalt der Gesellschaft zu arbeiten, etc.
Deshalb sollten die Völker in diesem wichtigen Teil der Sahelzone aus dem
Bereich des Tschadsees mobilisiert werden und Verantwortung für dieses
Großprojekt übernehmen. Es geht nicht nur darum, ein wichtiges Naturerbe zu
erhalten oder die globale Erwärmung zu bekämpfen (das sind übrigens die
Hauptargumente, die bisher von den Befürwortern des Projektes vorgebracht
werden). Es geht darum, ein mächtiges wirtschaftliches Instrument zu schaffen,
das die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur entfesselt, die lokalen
wirtschaftlichen Strukturen modernisiert, die regionale Integration und die
internationale Zusammenarbeit auf einer radikal neuen Grundlage stärkt und
dadurch zum Weltfrieden beiträgt, und wie es im Titel unserer Konferenz gesagt
wird - und dies ist mein Schlußwort - dazu beiträgt, „die Welt wieder
aufzubauen“!
Ich danken Ihnen.