BRICS: Ein neues Paradigma für eine globalisierte Welt
Von H.H.S. Viswanathan
Botschafter H.H.S. Viswanathan ist Forschungsleiter der
Observer Research Foundation in New Delhi und Koordinator aller Aktivitäten im
Zusammenhang mit BRICS und IBSA (Indien, Brasilien, Südafrika).
Entstehung
Es war bekanntlich Jim O’Neill von Goldman Sachs, der 2001 in einer
epochemachenden Schrift vier Staaten - Brasilien, Rußland, Indien und China,
BRIC - als die am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaften und damit
auch als die besten Investitionsziele identifizierte. Aber in den letzten 14
Jahren hat sich die Liste der guten Investitionsziele weiterentwickelt.
Südafrika wurde 2011 aufgenommen und damit ein Mitglied aus dem afrikanischen
Kontinent hereingeholt. Heute steht BRICS für 40% der globalen Landfläche, 30%
der globalen Bevölkerung, 25% der globalen Wirtschaftsleistung und 20% des
globalen Marktkapitals.
Anfangs hatte die BRICS drei Hauptagenden: Kooperation zwischen den
BRICS-Staaten, Reform der globalen Finanzinstitutionen sowie Fragen der
Weltordnung und der globalen Ordnungspolitik. Ihre Errungenschaften an allen
drei Fronten sind beeindruckend. Es gibt eine stabile Zusammenarbeit in
Bereichen des gemeinsamen Interesses wie Gesundheit, inklusives und
nachhaltiges Wachstum, Geschlechterfragen, Bildung, Urbanisierung, Nahrungs-
und Energiesicherheit, Innovationen und Qualifikationen. Der Handel zwischen
den BRICS-Staaten ist zwischen 2001 und 2011 auf das 15fache angestiegen und
wird in diesem Jahr 250 Mrd.$ übersteigen. Dennoch ist das immer noch nur ein
sehr kleiner Teil des existierenden Potentials. Die fünf Länder tauschen
Informationen aus und lernen von den Erfahrungen und Methoden der anderen.
Zur Frage der Reform der Bretton-Woods-Institutionen (BWI)
Weltwährungsfonds und Weltbank wurde 2010 beim Gipfeltreffen der G-20 in Seoul
ein kleiner Anfang gemacht. Weitere Fortschritte wurden vom US-Kongreß
blockiert.
Die Evolution der BRICS in den letzten 14 Jahren kann man am besten wie
folgt beschreiben: Sie begann als aufstrebende Gruppe und wurde im Lauf der
Zeit zu einer beratenden Gruppe. Langsam entwickelte sie sich weiter zu einer
verhandelnden Gruppe und nun möchte sie eine die Agenda setzende Gruppe
werden.
BRICS ist nicht bloß eine Aktivität zwischen den Regierungen. Neue Ideen
der Zusammenarbeit entstehen in unterstützenden Mechanismen wie dem
Akademischen Forum der BRICS, dem BRICS-Rat der Denkfabriken, dem
BRICS-Wirtschaftsrat und dem gesellschaftlichen Austausch zwischen den
BRICS.
Was hält die BRICS zusammen?
Was hält die BRICS zusammen? Diese Frage wird oft gestellt, insbesondere
von jenen, denen das Konzept der BRICS nicht klar ist. Diese Konfusion
entsteht, weil man diese Gruppe in alten Paradigmen betrachtet. Bisher kannte
die Welt Gruppen auf der Grundlage der Geographie (EU, ASEAN, SAARC, etc.),
Ideologie (OECD, COMECON), Produkten (OPEC, der Kaffee-Club, Club der
Eisenexporteure etc.), Technologien (NSG, MTCR etc.), ethnischer Zugehörigkeit
(Arabische Liga) und Religionen (OIC). Die BRICS fällt in keine dieser
Kategorien. Trotzdem gibt es zwischen den fünf Ländern Gemeinsamkeiten: Sie
alle spielten das Spiel der Globalisierung nach den von den entwickelten
Ländern gesetzten Regeln und waren dabei erfolgreich. Sie haben alle
gemeinsame Probleme der Entwicklung und neue Probleme aufgrund der
Globalisierung, wie unausgewogenes Wachstum. Sie alle glauben an
Multilateralismus und Inklusivität. Sie haben gemeinsame Zukunftsbestrebungen
und eine Vision, eine gewichtigere Stimme in den globalen Angelegenheiten zu
haben, damit sie positiv zu Frieden, Stabilität und Entwicklung auf der Welt
beitragen können.
Über fünf Kontinente verteilt, streben die fünf Länder an, eine
geographieneutrale globale Architektur aufzubauen. In den letzten 200 Jahren
waren die entwickelten Länder die größten Volkswirtschaften. 200 Jahre lang
war auch Modernisierung gleichbedeutend mit Verwestlichung. Mit der
Globalisierung und dem Aufstieg der Schwellenländer hat sich das geändert. Ja,
es gibt in einigen Fragen unterschiedliche Ansichten der fünf BRICS-Staaten.
In welcher plurilateralen Gruppe gibt es keine solchen Unterschiede?
Vielleicht erinnern Sie sich, daß es in der Blütezeit der OECD einen
intensiven Wettbewerb zwischen den USA, Europa und Japan gab. Trotzdem
arbeiteten sie in verschiedenen strategischen Fragen effektiv zusammen. Warum
können die BRICS es nicht genauso machen? Genau das ist es, was sie versuchen
- sich auf das Verbindende konzentrieren und das Trennende reduzieren.
BRICS und eine neue Weltordnung
Welches sind die Änderungen in der Weltordnung, die die BRICS gerne sehen
würden? Sie wollen mit Sicherheit nicht das ganze System umstürzen. Warum
sollten sie ein System zerstören, von dem sie alle in großem Maße profitiert
haben? Aber Tatsache bleibt, daß die Weltordnung Reformen und Änderungen
braucht. Die Ordnung aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist überholt
durch den Aufstieg neuer Mächte, die das Gefühl haben, daß in die bestehende
Ordnung gewisse Voreingenommenheiten und Bevorzugungen der entwickelten Länder
in das System eingebaut sind. Die Welt hat sich verändert, und deshalb müssen
wir die Ordnung modifizieren, sie sollte fair und gerecht sein und auch so
gesehen werden. Die Realität ist, daß die geoökonomische Macht der BRICS sich
in der geopolitischen Arena nicht widerspiegelt.
Wie Ian Bremmer aufzeigt: „Die Welt ist in eine Phase der geopolitischen
kreativen Zerstörung eingetreten.“ Sowohl die Nachkriegsordnung als auch die
Ordnung nach dem Kalten Krieg sind irrelevant geworden. Dmitrij Trenin sagt
richtig: „Die Lebenserwartung von Weltordnungen ist unterschiedlich, aber wie
die Menschen selbst sind sie sterblich.“ Viele Ordnungen in der Geschichte
wurden als Resultat von Kriegen und gewalttätigen Umwälzungen verändert.
Diesmal wird es hoffentlich ein friedlicher Prozeß sein, da die Globalisierung
eine solche gegenseitige Abhängigkeit geschaffen hat, daß gewalttätige
Änderungen der Ordnung undenkbar sind.
Die BRICS möchten sich mit einigen fundamentalen Aspekten der Weltordnung
befassen. Es handelt sich dabei um anerkannte grundlegende Werte, Normen und
Regeln. Der einzige und beste Weg, daß diese universell anerkannt werden, ist
ein gesunder Prozeß des Multilateralismus. Hoffen wir, daß wir durch diese
Prozesse gemeinsam auf eine wirklich multipolare oder polyzentrische
Weltordnung hinarbeiten können.
Eng verbunden mit der Frage einer neuen Weltordnung ist die Frage der
Lastenübernahme durch die Schwellenländer, die von den Mächten des Status Quo
oft gefordert wird. Nun, das ist wie die Sache mit dem Huhn und dem Ei. Das
Argument der Status-Quo-Mächte ist, die aufstrebenden Mächte sollten
vorangehen und mehr Lasten übernehmen, bevor sie mehr Anteil an der Führung
verlangen. Das ist aber ein Widerspruch. Die aufstrebenden Mächte haben keine
Absicht, Lasten zu übernehmen, wenn dies nur dazu dient, die bestehende
Ordnung oder bestehende Agenda zu fördern. Warum sollten sie das tun, wenn es
nur die bestehenden Ungleichheiten des Systems aufrechterhalten würde?
Globale Institutionen: Legitimität kontra Effizienz
Lassen Sie mich als Beispiel die drei globalen Institutionen nehmen, die
als völlig anachronistisch herausstechen: Weltwährungsfonds (IWF), Weltbank
und UN-Sicherheitsrat.
Die ersten beiden, gemeinhin als die „Bretton-Woods-Institutionen“
bezeichnet, haben veraltete Stimmengewichte, Entscheidungsstrukturen und
Auswahlmechanismen für die Führung dieser Organisationen. Der Stimmenanteil
der BRICS im IWF liegt zusammengenommen bei 11%, obwohl sie nominell 25% und
gemessen an der Kaufkraftparität 32% des Weltwirtschaftsprodukts beitragen.
Der kollektive Anteil der BRICS an der Weltbank liegt bei 14%. Joseph Stiglitz
hat die Unzulänglichkeiten des IWF und der Weltbank in seinem Buch Die
Schatten der Globalisierung eloquent dargelegt.
In diesem Kontext gewinnen die mutigen Initiativen der BRICS zur Schaffung
zweier neuer Institutionen, der Neuen Entwicklungsbank (New Development Bank,
NDB) und des Notfall-Reserve-Arrangements (Contingent Reserve Arrangement,
CRA), besondere Bedeutung. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die BRICS von sich
aus einen Teil der Lasten übernehmen. Die NDB war eine unmittelbare Konsequenz
davon, daß immer weniger Mittel der Weltbank und anderer multilateraler
Entwicklungsbanken für Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern
verfügbar waren. In ähnlicher Weise soll das CRA helfen, kurzfristige
Liquiditäts- und Zahlungsbilanzschwierigkeiten von Entwicklungsländern ohne
die Einmischung durch die IWF-Konditionen zu überwinden. Beide sind als
zusätzliche Einrichtungen konzipiert, sie sollen Weltbank und IWF ergänzen und
nicht ersetzen.
Trotzdem liegt in der Gründung der NDB und des CRA eine wichtige politische
Botschaft. Sie sind Finanzinstitute und werden natürlich nach wirtschaftlichen
Prinzipien arbeiten, um erfolgreich sein zu können - Tatsache bleibt aber, daß
dies das erste Mal seit 200 Jahren ist, daß eine globale Institution ohne die
Beteiligung des entwickelten Westens geschaffen wurde. Das an sich ist schon
bedeutend. Viele sehen darin einen Weckruf für andere, veraltete globale
Institutionen. Einige behaupten sogar, es hätte gar kein Bedarf für die NDB
und das CRA bestanden, wenn die Weltbank und der IWF sich an die veränderten
Umstände angepaßt hätten.
Die andere anachronistische Institution ist der UN-Sicherheitsrat (UNSC).
Selbst wenn man einräumt, daß der UNSC unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg
seine Berechtigung hatte, in der heutigen Realität ist er vollkommen veraltet.
Es besteht kein Zweifel, daß er inklusiver gemacht werden muß, mit einer
größeren Rolle für die Schwellenländer.
Das bringt mich zu der Frage von Legitimität kontra Effizienz. Manche
verwenden das trügerische Argument, globale Gremien müßten klein sein, um
effizient sein zu können. Dieses Argument widerspricht dem Prinzip der
Legitimität, das neben der Effizienz die zweite Säule bildet. Effizienz ohne
Legitimität wird letztendlich zu einem Zerfall der Organisation führen, und
Legitimität ohne Effizienz wird sie ineffektiv machen. Idealerweise müssen,
wie Langenhove sagt, „in allen globalen Institutionen drei Gleichgewichte
herrschen, nämlich, Gleichgewicht der Macht, Gleichgewicht der Verantwortung
und Gleichgewicht der Repräsentation“. Von allen heute existierenden globalen
Institutionen scheint mir die G-20 hinsichtlich der Beteiligung die legitimste
zu sein. Diese 20 Länder tragen 85% des Weltwirtschaftsprodukts bei.
Was sind die Optionen für die BRICS?
Im Umgang mit der globalen Ordnung und den globalen Institutionen haben die
BRICS vier Optionen: 1. sich anpassen, d.h. sich mit den Strukturen
abzufinden, die einigermaßen fair sind; 2. reformieren, beispielsweise die
Bemühungen, Änderungen in den BWI zu erreichen; 3. umgehen, d.h., jene Normen,
die sich einseitig zuungunsten der Entwicklungsländer auswirken, zu
ignorieren, solange dies keine Verletzung des anerkannten internationalen
Rechts bedeutet; und 4. neuerschaffen, wofür NDB und CRA Beispiele sind - und
hoffentlich noch weitere in der Zukunft.
Wahrnehmung der BRICS durch Außenstehende
Die Wahrnehmung der BRICS durch Außenstehende ist für die Zusammenarbeit
innerhalb der BRICS ohne Bedeutung. Aber was die globale Ordnung und
Weltordnungspolitik betrifft, wird sie wichtig, weil die BRICS einen
konstruktiven Dialog mit anderen führen muß. Erfreulicherweise sehen viele im
Westen die BRICS in einem positiven Licht.
Die Skeptiker hingegen lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste
Gruppe ist neugierig; sie fragen: „Was ist dieses neue Tier namens BRICS?“ Die
zweite Gruppe ist mißtrauisch; sie mißtraut den Absichten der BRICS und den
Auswirkungen ihrer Initiativen auf die eigenen Interessen. Die dritte Gruppe
legt Feindseligkeit an den Tag; ihr Argument ist, die BRICS könnten eine
gefährliche Gruppierung sein, weil sie einige der bestehenden Normen in Frage
stellt. Es ist die Pflicht der BRICS-Staaten, sich allen diesen drei Gruppen
zuzuwenden und ihren Standpunkt darzulegen.
Für die Skeptiker wäre es nützlich, zu beherzigen, was Jacques Barzun einst
sagte: „Uns selbst so zu sehen, wie uns andere sehen, ist zweifellos eine
seltene und wertvolle Gabe. Aber in den internationalen Beziehungen ist es
noch seltener und noch weit nützlicher, die anderen so zu sehen, wie sie sich
selbst sehen.“
„Der Westen gegen alle anderen“?
Immer wenn von der Notwendigkeit von Reformen einiger Aspekte der
Weltordnung die Rede ist, wird das leider auf eine Debatte „der Westen gegen
alle anderen“ (The West against the Rest) reduziert. Aber das muß nicht
so sein. Hinterfragen sollte nicht als Konfrontation verstanden werden. Viele
verwechseln einen Mangel an Änderungen in der bestehenden Ordnung mit
Stabilität. Aber Ordnungen brechen zusammen, wenn sich relevante Akteure
ausgeschlossen fühlen (Volker Perthes). Wenn wir eine inklusive und faire
Ordnung anstreben, dann müssen alle daran beteiligt werden. Die Realität in
der heutigen Welt ist, daß der Westen die anderen braucht. Daher ist es
höchste Zeit, daß wir dieses Syndrom „Wir gegen die anderen“ überwinden.
Was ist die Zukunft der BRICS?
Derzeit sieht die Zukunft der BRICS glänzend aus. Aber die eigentliche
Grundlage für die Bedeutung der BRICS wird die wirtschaftliche Leistung der
fünf Länder sein. In letzter Zeit hat sich ihr Wachstum um einige Punkte
verringert. Die BRICS werden weiterhin exzellente Wachstumsraten aufweisen
müssen, damit die Welt ihr Interesse an der Gruppe behält.
Die BRICS werden praktisch, schrittweise, stufenweise vorgehen. Ihre fünf
Staatsführer sind sich in diesem Punkt einig. Deshalb ist es, so wie es
vielleicht nicht ratsam ist, die BRICS abzuschreiben, ebensowenig notwendig,
die Gruppe zu sehr aufzubauschen. Beides läßt sich vermeiden, wenn man die
BRICS als das betrachtet, was sie ist - nämlich in Arbeit und noch kein
Endprodukt. Die Zusammenarbeit zwischen den BRICS wird sich vertiefen und auf
neue Bereiche ausweiten. Wenn sie zunehmend ihre Positionen in globalen Fragen
koordinieren, dann werden die BRICS auch in der Lage sein, wertvolle
alternative Sichtweisen anzubieten.