Tödliche Schulden oder die Illusion der Unabhängigkeit afrikanischer Nationen
Von Diogène Senny
Diogène Senny ist Generalsekretär der Panafrikanischen Liga
UMOJA (LP-U).
Liebe Kameraden,
Wir haben uns hier erneut versammelt, so wie bereits im Oktober 2014 in
Frankfurt in Deutschland, dank der Kameraden des Schiller-Instituts, denen wir
für ihr unablässiges Engagement danken und gratulieren möchten. Wir danken
euch allen für eure unermüdlichen Bemühungen, die Verbindung zu uns zu
erhalten.
Und schließlich möchte ich auch unsere Freunde vom CADTM grüßen, dem
Komitee für einen Schuldenerlaß für die Dritte Welt, darunter Professor Eric
Toussaint und Damien Millet, die seit sehr vielen Jahren kämpfen und den
ungeheuren Skandal der bösartigen und unrechtmäßigen Schulden anprangern.
I. Einleitung
Liebe Kameraden,
Unser Beitrag trägt den Titel, „Tödliche Schulden oder die Illusion der
Unabhängigkeit afrikanischer Nationen“.
Um das Problem der tödlichen Schulden zu verstehen, das den afrikanischen
Kontinent plagt, muß man zu den Ursprüngen zurückgehen, zu den Gründen, die zu
ihrer Entstehung geführt haben. Sobald man nachgewiesen hat, daß Afrikas
Schulden ein clever inszenierter Plan der neokolonialen Kräfte für eine
Rückeroberung sind, wird es jedem von uns ein Leichtes sein, sie als bösartig
und illegitim zu beschreiben.
Folglich ist ihre Streichung keine Bitte um Großzügigkeit der Gläubiger,
sondern eine Reparation und ein Akt der Gerechtigkeit für das betrogene
Volk.
II. Ursprünge und Ursachen der Schulden Afrikas
Nachdem afrikanische Nationen in den 1960er Jahren in die Unabhängigkeit
entlassen worden waren, verfolgten die ehemaligen Kolonialmächte zwei
wesentliche Ziele: mit allen Mitteln verhindern, daß in den ehemaligen
Kolonien irgendwo eine Regierung mit nationalistisch-panafrikanischer Tendenz
an die Macht gelangt, und - im Kontext des Kalten Krieges und mit Hilfe der
Vereinigten Staaten - verhindern, daß die Sowjetunion irgendwelche Verbündeten
in Afrika findet und damit Zugang zu den Rohstoffen erhält, was bis dahin das
ausschließliche Privileg der Westmächte gewesen war.
Allgemein gelang es dem Westen, die Nationalisten auszuschalten - entweder
durch Mord, wie im Falle Lumumbas im Kongo 1961, oder durch Kriege und
Massaker im großen Stil, wie im Falle der Führer der UPC (Union der Völker
Kameruns), oder durch verschiedene Tricks, mit denen die Gegner ins Gefängnis
gesperrt oder ins Exil gezwungen wurden, wie im Falle von Abel Goumba in der
Zentralafrikanischen Republik 1964 nach dem mysteriösen tödlichen Unfall von
Barthélémy Boganda im März 1959.
In den wenigen Ländern, deren Regierungen mit der Sowjetunion verbündet
waren, erhielt der Westen trotz allem eine Präsenz aufrecht und nutzte die
kleinste Gelegenheit, die Machthaber zu stürzen, um sie durch Regime zu
ersetzen, die ihren Interessen mehr nutzten und unterwürfiger waren; dafür ist
beispielsweise der Sturz und die Ermordung von Thomas Sankara die beste
Veranschaulichung.
Der Westen tat alles in seiner Macht stehende, um die ehemaligen Kolonien
unter seiner Fuchtel zu behalten. Eine der Waffen, die er dazu einsetzte,
waren die Schulden, wobei als offizieller Vorwand diente, den Erfolg des
Marshall-Plans in Afrika zu wiederholen, während der eigentliche Grund war,
einen strategisch-geopolitischen Machtzugriff und Zugang zu den Rohstoffen wie
in den alten Kolonialzeiten aufrecht zu erhalten. Damit bewahrheitet sich
vollkommen der Spruch: Wer über die Finanzen eines Landes herrscht, der
braucht keine totale Kontrolle über die innenpolitische Macht, um der wahre
Boß zu sein - er muß nur aus dem Hintergrund die Fäden ziehen.
Mindestens drei historische Phänomene lieferten dem Westen die finanziellen
Mittel, um den afrikanischen Kontinent unter seine Fuchtel zu bekommen.
Erstens: Zur Zeit der Entlassung in die Unabhängigkeit in den 60er Jahren
verfügten die westlichen Privatbanken über einen enormen Überschuß an
Euro-Dollars aus den Krediten, die die Vereinigten Staaten den Europäern im
Kontext des Marshall-Plans für den Wiederaufbau in den 50er Jahren gegeben
hatten.
Um einen massiven Rückfluß dieser Eurodollars in die Vereinigten Staaten zu
vermeiden - nicht nur wegen der hohen Inflation, die das in der US-Wirtschaft
auslösen würde, sondern auch wegen des Risikos eines Abschmelzens der
amerikanischen Goldvorräte, weil die geltenden Verträge das Eintauschen von
US-Dollars aus dem Ausland gegen Gold vorschrieben -, ermutigten die
westlichen Regierungen ihre Banken, den neuen, nominell unabhängigen
afrikanischen Ländern große Kredite zu sehr günstigen Konditionen zu
gewähren.
Natürlich waren die afrikanischen Regierungen, deren Loyalität sich die
westlichen Mächte versichert hatten, sehr interessiert an diesen Krediten, an
diesen Geldzuflüssen, vor allem zu ihrer eigenen Verwendung.
Das zweite historische Phänomen, das die explosionsartige
Schuldenvermehrung erklären kann, ist der Ölschock 1973, der durch eine
plötzliche Vervierfachung des Ölpreises ausgelöst wurde. Die Scheichs der
Golfstaaten legten dann diese enormen Dollarmengen aus den Profiten der
Ölverkäufe in den westlichen Banken an. Das ist das Phänomen der sogenannten
Petrodollars.
Diese Petrodollars, zusätzlich zu den Eurodollars im Zusammenhang mit dem
Wiederaufbau eines vom Krieg verheerten europäischen Kontinents, strömten
wieder nach Afrika. So schoß der private Teil der Schulden der Dritten Welt
innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren, von 1960 bis 1980, in die Höhe. Von
fast null Anfang der 60er Jahre stieg er bis 1970 auf 2,5 Mrd.$ und bis 1980
auf 38 Mrd.$.
Das dritte Phänomen im Zusammenhang mit der Schuldenexplosion ist
schließlich die an bestimmte Bedingungen gebundene sogenannte bilaterale
Entwicklungshilfe, d.h. sie wird direkt zwischen Staaten gewährt. Diese
„Entwicklungshilfe mit Bedingungen“ ist eine Art indirekte Subvention für die
westlichen Unternehmen, für deren Interessen die Afrikaner nützlich sind.
Diese Praxis geht auf die Krise zurück, die Europa 1973-75 traf, die man als
das Ende der „30 glorreichen Jahre“ (oder des „Wirtschaftswunders“)
bezeichnet, also die 30 Jahre starken Wachstums, die hauptsächlich dem im
Rahmen des Marshall-Plans investierten Kapitals zu verdanken waren.
Um Märkte zu öffnen für Produkte, die wegen der sinkenden Kaufkraft in der
westlichen Welt nicht mehr verkauft werden konnten, war nun die Idee, Kredite
zu vergeben, die ausschließlich dazu benutzt wurden, im kreditgebenden Land
hergestellte Produkte zu erwerben, selbst wenn sie teurer waren oder nicht dem
Entwicklungsplan des Käuferlandes entsprachen. Die bilaterale Hilfe schoß von
6 Mrd.$ 1970 bis 1980 auf 36 Mrd.$ in die Höhe.
Also, liebe Freunde:
Wer diese Erklärung und die Gründe für den Schuldenberg Afrikas genau
verfolgt, der sich als fatal und mörderisch für das afrikanische Volk erweisen
wird, der wird mit uns zu der Schlußfolgerung gelangen, daß alle diese
Initiativen nichts mit Großzügigkeit und Begeisterung für die Entwicklung des
Kontinents zu tun haben - um so mehr, als die auf den Westen und andere
Nutznießer dieser riesigen Transfers ausgerichteten afrikanischen Regimes als
despotisch, korrupt und käuflich gelten.
Der Kalte Krieg, der Zugriff auf die Rohstoffe und die einseitige
„Entwicklungshilfe“ dienten als Rechtfertigung für die finanzielle und sogar
militärische Unterstützung verbrecherischer Diktatoren, die eine Gefahr für
ihr eigenes Volk waren. Von Idi Amin in Uganda über Mobutu in Zaire, Mengistu
in Äthiopien, Samuel Doe in Liberia bis zu Bokassa in der Zentralafrikanischen
Republik - sie alle wetteiferten miteinander in Hinsicht auf ihre Brutalität,
ihre Verschwendungssucht und ihre absolute Gleichgültigkeit gegenüber den
elementarsten Grundbedürfnissen der Bevölkerung.
Wir erinnern uns noch an die Inthronisation Bokassas zum Kaiser mit dem
Segen des Vatikans 1977 - ein Bewunderer Napoleons und ein enger Freund des
damaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing: Sie kostete ein Fünftel
des jährlichen Staatshaushalts der Zentralafrikanischen Republik, umgerechnet
22 Millionen Euro. Die ungeheuren Unterschlagungen, die Mobutu beging und auf
westlichen Bankkonten anlegte, beliefen sich auf fast 8 Milliarden Dollar,
während die Staatsschulden Zaires zum Zeitpunkt seines Sturzes 1996 bei 12
Milliarden Dollar standen.
Zusätzlich zu den beiden oben erwähnten Methoden der Schuldenfinanzierung -
den westlichen Banken für den privaten Teil und die westlichen Staaten für die
bilateralen „Entwicklungskredite“ - muß man auch das Duo IWF-Weltbank für den
multilateralen Teil der Schulden erwähnen. Von null zu Beginn der 60er Jahre
stieg der multilaterale Teil der afrikanischen Schulden bis 1970 auf 1,2 Mrd.$
und bis 1980 auf 15,5 Mrd.$.
Private Schulden, bilaterale Schulden, multilaterale Schulden: alles in
allem lasteten 1980 auf dem afrikanischen Kontinent 89 Mrd.$ Schulden. Es
wurde verhindert, daß Afrika ein funktionierendes Gesundheitswesen, gute
Infrastruktur und ein Bildungswesen bekam, und die Not nahm immer mehr zu.
Was ist aus den 89 Mrd.$ geworden, die unsere Regierungen geliehen hatten?
Wo blieb die humane Entwicklung?
Erinnern wir uns, 1980 waren Afrikas Schulden in Dollars ausgewiesen, in
französischen Francs, in D-Mark, in Pfund Sterling und in japanischen Yen,
daher mußten die afrikanischen Länder für starke Währungen sorgen, um die
Kredite zu bedienen.
Jahrein, jahraus zahlte der afrikanische Kontinent weiter für die Schulden.
Aber wegen der kombinierten Wirkung des Preisverfalls von Rohstoffen und des
steilen Anstiegs der Zinsen auf Dollar oder Pfund Anfang der 80er Jahre waren
die afrikanischen Länder genauso wie der Rest der Dritten Welt nicht mehr in
der Lage, ihre Schulden zu bedienen. So wurde die Schuldenkrise geboren, mit
dem Auftauchen der Schocktherapie und der bitteren Medizin, die das
IWF-Weltbank-Duo, der Pariser Club, der Londoner Club etc. verordneten.
III. Die Schuldenkrise und die Schocktherapie von IWF und Weltbank
Wie Mexiko, das im August 1982 öffentlich angekündigt hatte, daß es wegen
des Preisverfalls der Rohstoffe und des Hochschießens der Zinsen seine
Schulden nicht zahlen konnte, so erklärten auch die meisten afrikanischen
Länder, sie seien nicht in der Lage, die Schulden zu zahlen.
Diese Krise führte zur Strangulierung dieser Länder, um so mehr, als die
westlichen Banken neue Kredite verweigerten, solange die alten Schulden
ausstanden. Die Welt marschierte auf eine Kettenreaktion eines
Schuldenbankrotts von historischen Dimensionen zu.
Um diese sich andeutende Kette von Bankinsolvenzen zu verhindern, vergaben
der IWF und die Industrieländer neue Kredite, um die privaten Banken über
Wasser zu halten. Dieses Schneeballsystem bestand darin, neue Kredite
aufzunehmen, um die alten umzuschulden.
Aber die neuen Kredite waren an die Bedingung geknüpft, sich
„Strukturanpassungsplänen“ zu unterwerfen, was zu einem völligen Verlust der
Souveränität in der Wirtschaftspolitik führte.
Seit den 80er Jahren, auch nach der Rückkehr zum Mehrparteiensystem Anfang
der 90er Jahre, führten die Strukturanpassungsprogramme inzwischen unter dem
Banner der „Entschuldungsinitiative“ (HIPC) zu massiven Einkommensverlusten,
rücksichtslosem Einstellungsstopp, Abschaffung von Subventionen für die
Grundversorgung (Gesundheit, Strom, Wasserversorgung, Bildung usw.),
Privatisierung öffentlicher Unternehmen und massiven Entlassungen.
Alles sieht so aus, als müßten die Afrikaner eine doppelte Strafe erleiden.
Nach den Qualen diktatorischer Regime werden sie nun regelmäßig geopfert, um
bösartige und illegitime Schulden zu zahlen, die ebendiese ungerechten Regime
mit zwielichtigen Gläubigern als Komplizen aufgenommen haben.
Der Gipfel des Zynismus ist es, wenn die Bevölkerung die Folgen dafür
erleiden muß, daß Schulden bedient werden müssen, mit denen Rüstungsgüter
gekauft wurden, die in der Abfolge von Konflikten auf dem Kontinent Tausende
von Toten verursacht haben.
Nach Angaben der UNCTAD erhielt Afrika zwischen 1970 und 2002 Kredite über
540 Milliarden Dollar. 550 Milliarden wurden zurückgezahlt, trotzdem betragen
die Schulden heute 295 Mrd.$. Laut den Untersuchungen des CADTM für Afrika
südlich der Sahara ist der Geldabfluß durch Schuldendienst und Repatriierung
von Gewinnen transnationaler Unternehmen etwa gleich hoch wie der Geldzufluß
in Verbindung mit Entwicklungshilfe und dem, was Afrikaner aus dem Ausland
nach Hause schicken. Der Abfluß ist sogar 1 Mrd.$ höher als der Zufluß. 2012
entsprachen die Gewinne, die aus diesem ärmsten Teil der Welt herausgezogen
wurden, 5% seines Wirtschaftsprodukts, die Entwicklungshilfe dagegen nur
1%.
Hier muß man fragen: Wer hilft da wem?
IV: Wir fordern eine unabhängige Prüfung der afrikanischen Schulden
Deshalb ist eine unabhängige Prüfung der afrikanischen Schulden ein
Muß.
Als ein Instrument der Souveränität soll eine unabhängige Prüfung die
Kreditmethoden der verantwortlichen Machthaber kritisch analysieren und viele
Fragen beantworten.
Zum Beispiel: Warum hat die Regierung ständig mehr Schulden aufgenommen?
Für welche politischen Prioritäten und welche sozialen Interessen wurden die
Schulden aufgenommen? Wer hat davon profitiert? Hätte es andere Möglichkeiten
gegeben? Wieviel Zinsen wurden bezahlt, welcher Zinssatz, wieviel von der
Hauptschuld wurde schon getilgt? Wie wurden aus privaten Schulden
„öffentliche“?
Die Drohung, vor der internationalen Gemeinschaft geächtet zu werden, ist
nur ein Weg, Staatsvertreter davon abzuhalten, solche Methoden weiter zu
praktizieren. Denn entgegen der allgemeinen Meinung zählte man laut den
jüngsten Arbeiten der beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff von
1946 bis 2008 insgesamt 169 Zahlungsausfälle von Staaten, die durchschnittlich
drei Jahre dauerten.
Aber als politische Organisation weiß unsere Bewegung, die Panafrikanische
Liga UMOJA, daß die Frage der Schulden Afrikas vor allem eine politische ist.
Es genügt nicht, eine Prüfung der Schulden zu wünschen oder zu fordern, denn
man muß das Machtgefüge soweit verschieben, daß die afrikanischen Staaten
diesen Weg beschreiten können.
Darum ist angesichts der unter dem Banner von IWF und Weltbank versammelten
Gläubiger eine Einheitsfront gegen die Schulden auch ein panafrikanisches
Ziel.