S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Aufruf zum neuen Xenienkrieg
Beim Nachdenken über mögliche Maßnahmen zur geistigen Belebung unserer politischen Kultur im allgemeinen und des Wahlkampf-Ödlands im besonderen verfielen wir vor ein paar Jahren auf ein Hilfsmittel, das sich schon einmal in vergleichbarer Lage bewährt hat. Wir erinnerten uns an den berühmten "Xenienkrieg", den Schiller und Goethe vor 200 Jahren entfachten, um sich gegen verständnislose Angriffe auf Schillers Literaturzeitschrift Die Horen zu wehren und ihrerseits die Hohlköpfigkeit des Zeitgeists und seiner Wortführer aufs Korn zu nehmen.

"Xenien" (griech. xenion, Gastgeschenk) waren kleine Zweizeiler wie dieser hier:

1795-96 verfaßten die beiden Dichter nahezu tausend Xenien, und man kann kaum unterscheiden, welche von Goethe und welche von Schiller stammen. Vorbild waren die Spottgedichte des Römers Martial. 414 Xenien erschienen wohlsortiert im Musen-Almanach für das Jahr 1796. Sie enthalten neben ironischen Spitzen auf bornierte Kritiker philosophische Zeitkritik, wie Schiller sie ausführlicher in den Briefen über die ästhetische Erziehung und anderen Schriften deutlich machte:

Häufig wiederkehrendes Zielobjekt ist der schriftstellernde Berliner Buchhändler Friedrich Nicolai, der seinerseits satirische Angriffe gegen Goethe, Schiller und Herder geritten hatte und als organisatorischer Mittelpunkt der Berliner Aufklärung galt.

Neben den spöttischen Xenien entstanden auch viele andere, die nicht unmittelbare Literaturkritik, sondern dauerhafte Weisheiten enthielten, wie diese Epigramme von Schiller:

    Das Höchste
    Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren.
       Was sie willenlos ist, sei du es wollend - das ist's!

    Würde des Menschen
    Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
       Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Über hundert der sogenannten "zahmen Xenien" von Schiller und Goethe erschienen unter dem Titel Tabulae votivae (Votivtafeln) im Musen-Almanach für das Jahr 1797. Viele waren eigentlich gar nicht zahm, sondern ziemlich gepfefferte Angriffe etwa auf die Empiristen, die von sich behaupteten, ohne Hypothesen zu arbeiten:

    Empiriker
    Daß ihr den sichersten Pfad gewählt, wer möchte das leugnen?
       Aber ihr tappet nur blind auf dem gebahntesten Pfad.

    Die Quellen
    Treffliche Künste dankt man der Not und dankt man dem Zufall,
       Nur zur Wissenschaft hat keines von beiden geführt.

Und nirgends als in diesen Votivtafeln habe ich je so kurz und einprägsam das Paradoxon des Einen und des Vielen abgehandelt gesehen:

    Wahrheit
    Eine ist sie für alle, doch sieht sie jeder verschieden,
       Daß es eines doch bleibt, macht das Verschiedene wahr.

    Schönheit
    Schönheit ist ewig nur eine, doch mannigfach wechselt das Schöne,
       Daß es wechselt, das macht eben das Eine nur schön.

    Aufgabe
    Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten!
       Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

Geboren wurden die Xenien aber als Kampfgedichte, um die Lebensgeister von Freund und Feind auf- und anzuregen:

    Das ungleiche Verhältnis
    Unsre Poeten sind seicht, doch das Unglück ließ sich vertuschen,
       Hätten die Kritiker nicht ach! so entsetzlich viel Geist.

    Aufmunterung
    Deutschland fragt nach Gedichten nicht viel; ihr kleinen Gesellen,
       Lärmt, bis jeglicher sich wundernd ans Fenster begibt.

Man kann nun auf dreierlei Weise mit den überlieferten Xenien umgehen. Erstens kann man sie einfach lesen und beherzigen, denn Schiller und Goethe hatten sie durchaus auch für die Nachwelt gedacht (Xenie 578):

    Lebet, ist Leben in euch, und erzählt noch dem kommenden Alter,
       Distichen, was wir geehrt, was wir gehaßt und geliebt.

Zweitens kann man sie so, wie sie sind, oder leicht abgewandelt heute erneut ins Feld führen. Folgender Vers ist zwar auf den Buchhändler Nicolai gemünzt:

    Querkopf! schreit ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel,
       Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus.

Er eignet sich jedoch für sämtliche Hohlköpfe, deren Namen zwei Silben und die Betonung auf der ersten hat.

Und drittens kann man, von Schiller und Goethe inspiriert, selbst neue Xenien schreiben, um in den Prozeß der öffentlichen "Meinungsbildung" einzugreifen. Die poetische Form dieser Distichen - ein Hexameter (mit sechs Versfüßen) gefolgt von einem Pentameter (mit Zäsur zwischen zwei Hebungen in der Mitte) beschreibt Schiller in diesem Epigramm:

    Das Distichon
    ím Hexámeter stéigt des Spríngquells flússige Sáule,
       ím Pentámeter dráuf/ fállt sie melódisch heráb.

Oder ein anderer Pentameter: Wénn man sie óft genug líest,/ prágt sich das Vérsmaß schon éin. Das Wichtigste ist aber eine gute Idee, die wir alsdann an kleine gefiederte Xenienpfeile heften, um sie in ihr Ziel zu tragen.

    Wirkungslos bleibt und stumm auch der allerbeste Gedanke,
       bis die Flügel des Worts tragen ihn treffend ins Ziel.

Das war schon eine unserer "neuen Xenien". Eine kleine Kostprobe zum Thema "Wahlkampf" zeigt, was sonst noch dabei herausgekommen ist:

    Wahlkampf 1998
    Wählen soll bald das Volk der Titanic, ob Kohl oder Schröder
       nächstens wird Kapitän. - Aber dem Eisberg ist's gleich.

    Weisheit der Parteistrategen
    "Quäle die Wähler nur ja nicht mit klaren Programmen", so mahnt er,
       "Wissen sie erst, was du willst, nimmermehr wirst du gewählt!"

    SPD
    Trickreich will Schröders Partei alle Gegensätze vereinen.
       Freilich vergebens: Wie in der Chemie neutralisiert sie sich selbst.

    Grüne
    Grüne schreien "Natur", und haben doch niemals begriffen,
       was die Schöpfung bewegt und des Menschen Natur.

    "Nullwachstum" war stets ihr Ziel, die "Rückkehr zum einfachen Leben".
       Ist das Unglück erst da - fürchtet, Grüne, den Dank!

    BüSo-Bildungspolitik
    Sicher möchte die Oligarchie das Volk gern verdummen.
       Aber sie kommt nur zum Ziel, wenn es sich dumm machen läßt.

    Kostbares habe die Bildungsreform in Jahrzehnten verschüttet.
       Klagt nicht nur, grabet danach - und entdecket es neu!

Um eifrigen Kritikern vorzubeugen: Wir wissen wohl, daß ein paar Distichen noch keine Dichter machen, und wir kennen natürlich jene Xenie über den Dilettantismus, die man auf unsere "neuen Xenien" abschießen könnte (aber die Arbeit, sie herauszusuchen, nehmen wir den Kritikern nicht ab), doch das kann uns nicht hindern, zu tun, was wir schon nicht mehr lassen können. (Wenn man mit der Xeniendichterei erst einmal angefangen hat, nimmt das nämlich kein Ende. Mitten in der Nacht wacht man auf, mit genau der Xenie auf den Lippen, die den ganzen Tag über nicht gelingen wollte. Blitzschnell muß sie dann auf Papier festgehalten werden, denn im Handumdrehen "schließt die Nacht sie wieder ein".)

Enden wir für diesmal mit einem Aufruf zum "neuen Xenienkrieg":

    Wenn sich getroffene Gegner fortan in Distichen wehrten,
       Xenien zielten auf uns, nähmen wir gern das Geschenk.
    Schmiedet nur eifrig die kleinen gefiederten Pfeile und übt euch.
       Wenn ihr mit Distichen schießt, drucken wir die sogar ab.

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