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L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Platon - "Gründervater" der Philosophie  —  Auszüge aus Platons Siebtem Brief (340 B - 344 C)

Wir konnten uns keine bessere Einführung zu Sokrates' großem Schüler Platon vorstellen als ein Gespräch mit Prof. Joachim Latacz. Er lehrt Klassische Philologie an der Universität Basel und ist ein großer Kenner Platons sowie der gesamten altgriechischen Dichtung und Philosophie. Von ihm stammen zahllose hervorragende Übersetzungen, die u.a. in dem Reclam-Band Die griechische Literatur in Text und Darstellung erschienen sind. Im Frühjahr veröffentlichten wir bereits ein Gespräch mit ihm über Sappho, Lehrerin der Schönheit. Die Fragen über Platons Leben stellte Rosa Tennenbaum. Prof. Latacz antwortete schriftlich am 30. September 2006.

Latacz: Platon war ein griechischer Denker des 5./4. Jh. v.Chr. Er gilt weithin als der bedeutendste Philosoph des europäischen und europäisch geprägten Kulturkreises. Der englische Mathematiker und spätere Harvard-Professor für Philosophie Alfred North Whitehead (1861-1947) prägte 1929 das häufig zitierte Wort "Die beste allgemeine Charakterisierung der europäischen philosophischen Tradition besagt, daß sie aus einer Serie von Fußnoten zu Platon besteht".

Geboren im Jahre 427 v.Chr. in der damaligen Kulturhauptstadt Griechenlands Athen, lebte Platon mit wenigen Unterbrechungen bis zu seinem Tode im Jahre 347 in seiner Heimatstadt. Er stammte mütterlicherseits aus einem alten und reichen athenischen Adelsgeschlecht, das zahlreiche Politiker Athens hervorbrachte; mit einigen von ihnen, die zu seiner Lebenszeit Athens Politik wesentlich mitbestimmten, stand er in unmittelbarer verwandtschaftlicher Beziehung. Er genoß eine hervorragende mathematische und literarische Bildung und wandte sich danach zunächst der Dichtung zu. Einige Epigramme von ihm sind noch erhalten; auch an Tragödien soll er sich versucht haben.

Das alles schob er jedoch als Spielerei beiseite, als er mit etwa zwanzig Jahren Sokrates kennenlernte. Sokrates, geboren 469 ebenfalls in Athen und dort berühmt (und berüchtigt) geworden als rastloser Fragen- und In-Frage-Steller, hatte eine Reihe junger wißbegieriger Männer aus vornehmen Häusern Athens und anderer griechischer Städte angezogen, mit denen er Grundfragen des Lebens diskutierte und die er zu der Einsicht zu führen suchte, daß nicht Karriere und Genuß der letzte Lebenssinn seien, sondern Streben nach Wahrheitserkenntnis durch systematisches Denken sowie ständiges Bemühen um richtiges Handeln im Wissen um das sittlich Gute. Die Begegnung mit dieser Lehre bedeutete den Wendepunkt in Platons Leben: Abwendung vom Materiellen und Hinwendung zum Ideellen. Angebote von Verwandten, in die Politik zu gehen, lehnte er unter diesem Einfluß ab.

Als sein verehrter Lehrer 399 vom athenischen Volksgericht wegen angeblicher Gottlosigkeit und schädlicher Einflußnahme auf die Jugend zum Tode verurteilt und zur Selbsttötung gezwungen wurde - in den Augen Platons und der anderen Sokrates-Schüler ein glatter Justizmord - , erkannte Platon in existentieller Erschütterung die eigentliche Tiefe der Sokratischen Lehre. Er wandte sich von der praktischen Politik, wie sie damals im demokratischen Athen und anderswo in Griechenland betrieben wurde, vollends ab und begann nach neuen Gestaltungsnormen für das menschliche Zusammenleben zu suchen. Dieser Suche widmete er als theoretischer Denker, Schulhaupt, Lehrer, Berater und philosophischer Schriftsteller sein weiteres Leben.

    Platon unternahm einige große Reisen z.B. nach Ägypten und Sizilien. Was führte ihn dorthin?

Latacz: Bildungsreisen in nichtgriechische Gebiete hatten im antiken Griechenland eine lange Tradition, die mindestens bis ins 6. Jh. v.Chr. zurückreichte. Bevorzugte Reiseziele waren Ägypten mit seiner uralten Kultur und Kleinasien. Die große griechische Kolonisation im 7. und 6. Jh. v.Chr., deren Folge eine weitgehende griechische Besiedlung aller nichtgriechischen Küsten des Mittel-, Marmara- und Schwarzen Meeres war, erleichterte das Reisen sehr. Sie war auch eine der Voraussetzungen für die beginnende systematische Erkundung der damaligen Welt durch griechische Forscher wie Hekataios und Herodot, die die europäische Geographie, Ethnographie, Kulturkunde und Geschichtsschreibung begründeten. Das Mittelmeer bildete dabei kein Hindernis, sondern stellte als eine Art Binnensee die verbindende Verkehrsfläche dar.

Ob Platon tatsächlich eine Art "Weltreise" unternommen hat, wie antike Quellen überliefern, ist allerdings fraglich, weil er selbst in seinen umfangreichen Schriften nirgends davon spricht. Auch die angebliche Ägyptenreise erwähnt er nicht, obwohl es in seinem Werk viele naheliegende Gelegenheiten dazu gegeben hätte. Hingegen sind drei Reisen nach Unteritalien und Sizilien nicht nur von ihm selbst bezeugt, sondern stellen auch ein nicht wegzudenkendes Element seines Lebens und Philosophierens dar.

Wir wissen das aus einer sicheren Quelle: Unter Platons Werken ist neben gesprächsnahen philosophischen Erörterungen, den "Dialogen", und großen systematischen Abhandlungen wie dem Staat und den Gesetzen auch eine Briefsammlung von 13 Briefen überliefert. Die meisten dieser Briefe sind unecht, d.h. in späterer Zeit von anderen Schreibern verfaßt und in die Sammlung eingeschmuggelt worden. Den Siebenten Brief in dieser Reihe jedoch sieht die moderne Forschung überwiegend als echt an. In diesem Brief, einer Art Rechenschaftslegung, berichtet der damals über siebzigjährige Platon über die genannten drei Reisen.

Die erste Reise führte ihn, wohl im Jahre 389, zunächst nach Unteritalien, das ebenso wie Sizilien zu dieser Zeit schon seit etwa 200 Jahren griechisch besiedelt war. Den eigentlichen Reisegrund nennt er zwar nicht, eine plausible Vermutung der modernen Forschung geht aber dahin, daß er die damals in den unteritalischen Städten - vor allem Kroton (heute Crotone), Taras (heute Taranto, Tarent) und Metapontion (heute Metaponto) - noch existierende Lebensform der von Pythagoras um 500 begründeten religiös-philosophischen Gemeinschaft der Pythagoreer persönlich kennenlernen wollte. Pythagoras hatte ja die Seelenwanderungslehre begründet, die für Platons Ausarbeitung seiner Lehre von der Unsterblichkeit der Seele eine hervorragende Rolle spielte.

Geistiger Führer der pythagoreischen Bewegung war zur Zeit von Platons Reise der Staatsmann, Wissenschaftler und Philosoph Archytas von Tarent. Mit ihm trat Platon in Verbindung; gegenseitige Beeinflussung und langjährige spätere Kontakte sind deutlich. Die Lebensrealität in den unteritalischen Städten erwies sich allerdings als sehr verschieden von der Theorie: Luxus und Genußstreben aller Art hatten weit um sich gegriffen. Platon war zutiefst enttäuscht.

    Was führte Platon von dort nach Sizilien?

Latacz: Was genau ihn zur Weiterreise nach Sizilien und dessen Hauptort Syrakusai (heute Siracusa) bewog, ist unbekannt; Platon selbst sagt im Siebenten Brief: "Vielleicht war es Zufall." Jedenfalls wurde er am Hof des damaligen Alleinherrschers von Syrakus, Dionysios I., zunächst freundlich aufgenommen. Dionysios, ein erfolgreicher Machtpolitiker (bekannt aus Schillers 'Bürgschaft'), hatte Syrakus zur größten Stadt und Festung der griechischen Welt gemacht; seine Lebensaufgabe sah er in der Vertreibung der Karthager aus Sizilien, dessen Westteil sie beherrschten. Diesem Ziel ordnete er alles andere in einer Gewaltherrschaft (Tyrannis) unter. Für Platons Ideen von einer nicht macht-, sondern vernunftgelenkten gerechten und sittlich reinen Herrschaft hatte er wenig Verständnis.

Überaus aufgeschlossen für diese Auffassung zeigte sich dagegen Dionysios' Schwager Dion, ein damals zwanzigjähriger begeisterungsfähiger junger Mann. In diesen Dion setzte Platon große Hoffnungen. Dionysios witterte jedoch hinter dieser geistigen Verbindung eine heranwachsende Gefahr für seine Herrschaft und ließ Platon zurück nach Griechenland bringen.

Platons zweite Reise nach Syrakus hingegen hatte einen klar bestimmbaren Grund: In den siebziger Jahren hatte er seine Gedanken über die beste Staatsform in seinem großen Werk Politeia ("Der Staat") systematisch entwickelt: Bis in die Details hinein hatte er einen idealen Staat entworfen, der auf Vernunft, Sittlichkeit und Gerechtigkeit aufgebaut sein sollte. Als im Jahre 367 Dionysios I. starb und ihm sein Sohn Dionysios II. nachfolgte, der für Platons Ideen empfänglicher schien, hoffte Platon, hier eine Gelegenheit zu finden, seine Theorie in die Praxis umgesetzt zu sehen. Daher wies er eine dringende briefliche Bitte Dions nicht ab und reiste 366 erneut nach Syrakus. Der neue Herrscher erwies sich allerdings bald als getreues Abbild seines Vaters und schickte Dion aus Furcht vor einer Verschwörung in die Verbannung. Platon hingegen, dessen Gegenwart ihm schmeichelte und einen Prestigegewinn für ihn bedeutete, umwarb er und ließ ihn nur widerwillig nach einem Jahr wieder zurückreisen.

    Wie kam es zu der dritten Reise, von der Sie sprachen?

Latacz: Vier Jahre später, 361, drängten Dionysios II. und viele sizilische und unteritalische Anhänger Dions und Platons sowie Dion selbst den inzwischen hochberühmten Philosophen zu erneutem Kommen. Dionysios, hieß es, widme sich nun - gereift und gewandelt - mit Feuereifer der Philosophie und wolle das Staatswesen zum Besseren führen. Platon überwand seine starken Zweifel in der Hoffnung, seine Ideen vielleicht doch noch realisiert zu sehen, und bestieg das Schiff, mit dem Dionysios ihn abholen ließ.

Die Reise wurde jedoch zum Fiasko. Dionysios erwies sich als Lügner, Heuchler und Betrüger. Platon sah sich bald in Hofintrigen verwickelt, Verleumdungen ausgesetzt und gegen seinen Willen festgehalten. Nur durch das Eingreifen seines alten Freundes Archytas von Tarent gelang es ihm, aus Sizilien wieder nach Athen zu kommen. Diese Enttäuschung sollte bis zu seinem Tode an ihm zehren.

    Dann war Platon also nicht der weltfremde Schreibtischphilosoph, den viele von uns in ihm sehen?

Latacz: Keineswegs. Er hatte die Welt und die Menschen seit seinem Umgang mit Sokrates im Guten und Bösen tiefdringend kennengelernt und durchschaut und hat sie gerade deswegen leidenschaftlich zu verbessern gesucht. Um nicht in der reinen Theorie steckenzubleiben, hat er mit allem Nachdruck und unter Einsatz seiner persönlichen Freiheit, ja seines Lebens, die Umsetzung seines Denkgebäudes in die gesellschaftliche Realität betrieben. Daß er damit gescheitert ist, hat er mit allen großen Visionären gemein - von den Religionsstiftern über die Staatstheoretiker bis zu den Utopisten. Das spricht freilich nicht gegen sie. Denn ohne ihre Visionen würden wir uns der Unzulänglichkeit unserer selbst und unserer Welt wohl gar nicht recht bewußt werden.

    Eine der folgenschwersten Unternehmungen Platons war die Gründung der "Akademie". Wie muß man sich das Leben dort vorstellen, welche Studien wurden betrieben, und wer versammelte sich dort?

Latacz: Nach der Rückkehr von seiner ersten Sizilienreise (388) gründete Platon nordwestlich von Athen, etwas außerhalb der Stadtmauer, auf einem Areal, das seit altersher nach einem lokalen Schutzgott namens "Akádemos" den Namen "Akadêmeia" trug, eine Art private Hochschule, die nach dem Grund, auf dem sie stand, ebenfalls "Akadêmeia" genannt wurde. Diese Schule lebte nach Platons Tod unter seinen Nachfolgern in der Schulleitung bis zum Jahre 529 n.Chr. fort - also nahezu tausend Jahre. Der Name blieb aber auch nach der Schließung der Schule durch den oströmischen christlichen Kaiser Iustinian I. erhalten und bezeichnet heute zumeist eine überregionale Vereinigung von Gelehrten.

Die Schule war bei den staatlichen Behörden registriert als privater Kultverein zu Ehren der Musen; ein Altar der Musen bildete auch ihren Mittelpunkt. Die eigentliche Bedeutung der "Musen" (woher unsere Begriffe "Museum", "musisch", "Musik" und andere Ableitungen stammen) wird heute meist nicht mehr richtig verstanden. Die Musen galten als Töchter von Zeus und Mnemosyne ("Gedächtnis", "Erinnerung"), ihr Führer war Apollon, der Gott alles Geistig-Künstlerischen, und sie selbst waren die Schutzgöttinnen des Denkens, Wissens, der Erinnerung, der Literatur und der Kunst. Daraus ergibt sich die Grundlage von Platons Schule von selbst.

Bestandteile der Schule waren ein oder mehrere Gebäude mit Unterrichtsräumen und einem Speisesaal, aber auch mit der Wohnung des Schulhauptes und Schlafräumen für nicht in Athen wohnende Schüler, ein Gymnasion (Sportplatz), eine Parkanlage und Wirtschaftsbauten. Das ganze Anwesen hatte Platon aus seinem Privatvermögen gekauft; er kam anfangs auch allein für den laufenden Schulbetrieb auf; später mußte die Schulgeldpflicht eingeführt werden, es gab aber auch Zuwendungen von Gönnern (Ehemaligen und "Sponsoren") und schließlich auch staatliche Subventionen.

Schüler oder besser Studenten waren junge Männer, die den Elementarunterricht, wie er dem unserer Grund- und z.T. Höheren Schulen entspricht, bereits absolviert hatten und sich geistig und menschlich weiterbilden wollten. Sie kamen sowohl aus Athen als auch von auswärts. Die Aufnahme behielt sich Platon selbst vor. Voraussetzungen für die Aufnahme waren ausreichende Allgemeinbildung, intellektuelle und charakterliche Eignung und zusätzlich die Selbstverpflichtung zu lebenslanger Erkenntnissuche und einer geistigen Lebensform.

Die Einübung in diese "akademische" Lebensform erfolgte in der Schule selbst. Sie war streng und umfaßte neben anderem vor allem hohe Selbstdisziplin: tägliche harte und lange geistige Arbeit, Genügsamkeit in der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, kein Fleischgenuß und generell alles, was der "Reinigung" (Kátharsis) der Seele zur Steigerung ihrer Erkenntnisfähigkeit dienen konnte. Der Einfluß der pythagoreischen Lebens- und Glaubensgemeinschaften auf dieses Programm ist deutlich.

Der Unterricht erfolgte, soweit sich das aus der dürftigen Quellenlage rekonstruieren läßt, in Form von Lehrvorträgen (Vorläufer unserer "Vorlesungen"), gemeinsamen Diskussionen der Schüler und des Schulhaupts über bestimmte Themen (Vorläufer unserer "Seminare") und Übungen in den einzelnen "Fächern". Solche Fächer waren die höheren Stufen der Mathematik und Geometrie, Astronomie, Musik und Harmonik, Gymnastik (sportliche Übungen) und schließlich als Krönung die Dialektik, also die Kunst der logischen Gesprächs- und allgemein Gedankenführung, um in der Aufspürung logischer Widersprüche und ihrer argumentativen Überwindung zu Erkenntnis von Wahrheit zu kommen (das griechische Verb dialégesthai läßt sich im Deutschen mit "zwecks Problemlösung argumentierend miteinander reden", "diskutieren" wiedergeben; daher die Bezeichnung der Platonischen Gespräche als "Dialoge"). Das alles wurde aber nicht als Selbstzweck betrieben, sondern zur Vorbereitung auf ein aktives Wirken (vita activa) in führenden Positionen der Gesellschaft in intellektueller und sittlicher Vorbildlichkeit, ohne Eigennutz und zum Besten der ganzen Gemeinschaft.

Dahinter stand die oft zitierte (und selten verstandene) Überzeugung Platons, daß es kein Aufhören der Mißstände in den Staaten und überhaupt in der Menschheit geben könne, solange nicht entweder die "Philosophen" an die Herrschaft kämen oder die Herrschenden aufrichtig und in ausreichendem Maße zu "philosophieren" begännen (Staat, 473 c). Die griechischen Begriffe "philó-sophos" und "philo-sopheîn" bezeichnen hier freilich nicht dasselbe wie die heutigen Begriffe "Philosoph" und "philosophieren", sondern den in der Platonischen Erziehung herangewachsenen wahrhaft und uneigennützig nach Erkenntnis und Gerechtigkeit strebenden verantwortungsvoll führenden Intellektuellen bzw. die entsprechende geistige Tätigkeit.

    Was ist das Besondere an Platons Erziehungsmethode?

Latacz: Platon setzt auf die Erkenntnisfreude ("Aha-Erlebnis") und den angeborenen Trieb des Menschen, immer mehr und immer besser zu erkennen und zu durchschauen ("zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen" ... "daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält"). Damit verbunden glaubt er an die Kraft der menschlichen Einsichtsfähigkeit. Daher versucht er die höchstmögliche logische Stimmigkeit von Argumentation zu erreichen und damit - nicht zu überreden, sondern - zu überzeugen.

Zwang möchte er so weit wie nur irgend möglich ausschließen. Daß diese Bemühung, bei allen zeitweiligen Erfolgen, ein ewiger Kampf gegen die menschliche Schwäche und Rückfälligkeit ist, weiß er. Es ist der tägliche Kampf aller Lehrenden bis heute. Ihn durchzustehen bedarf es immer wieder der (ebenfalls mißverstandenen) "Platonischen Liebe": der leidenschaftlichen, niemals resignierenden Bemühung, als selbst lebenslang Suchender auch im jungen Menschen das Feuer der Erkenntnissuche zu entzünden und wachzuhalten.


Auszüge aus Platons Siebtem Brief (340 B - 344 C)

Als ich ankam, glaubte ich zuerst mich davon überzeugen zu müssen, ob Dionysios wirklich von der Philosophie ergriffen sei wie von einem Feuerfunken oder ob dieses Gerede darüber ohne rechte Grundlage nach Athen gekommen sei. Da gibt es nun eine Methode, dies zu erforschen, die gar nichts Verletzendes an sich hat, sondern wie geschaffen ist für Tyrannen, zumal wenn sie noch voll von den philosophischen Schlagwörtern sind, wie dies eben bei Dionysios - das merkte ich gleich nach meiner Ankunft - in hohem Maße der Fall war.

Solchen Leuten muß man also zeigen, was und wie die Aufgabe in ihrem Umfang ist, und mit wieviel Schwierigkeiten sie verbunden ist und welchen Arbeitsaufwand sie erfordert. Wer dies nun hört, glaubt, wenn er wirklich ein Philosoph ist, für die Sache geschaffen und ihrer würdig, weil er gottverwandt ist, von einem herrlichen Weg gehört zu haben und jetzt alle Kraft anspannen zu müssen, ansonst er nicht mehr leben könnte. Dann aber spannt er wirklich alle Kräfte an, seine eigenen und die seines Führers auf diesem Weg und läßt nicht los, bis er in allem ans Ziel gekommen ist oder wenigstens die Fähigkeit erworben hat, um ohne Führer sich selber den Weg weisen zu können. In solchen, nur in solchen Gedanken lebt der philosophisch Veranlagte; er übt zwar seine normale Tätigkeit weiter aus, aber neben allem her hält er sich an die Philosophie und an eine Lebensführung, die ihn, dadurch daß er bei sich mäßig ist, möglichst gedächtniskräftig, aufnahme- und denkfähig macht; die dieser entgegengesetzte aber verabscheut er für immer.

Diejenigen aber, die in Tat und Wahrheit keine philosophische Anlage, sondern nur eine Art von Scheinwissen haben, wie Leute, deren Haut von den Sonnenstrahlen gebräunt ist - wenn sie sehen, wie viel es da zu lernen gibt, und welche Mühe erfordert ist, und wie nur eine sittlich hochstehende Lebensführung zur Sache passen will, so halten sie es für zu schwierig und für sie unmöglich und sind auch wirklich nicht imstande, das Verlangte auszuführen. Einige von ihnen reden sich dann ein, daß sie schon genug über die Sache in ihrem ganzen Umfang gehört haben und daß sie sich weitere Mühe ersparen können...

Das ist also die sichere und ganz zuverlässige Probe schwelgerischen und arbeitsuntüchtigen Menschen gegenüber, bei der sie nie die Schuld auf den Führer werfen können, sondern sie sich selber zuschreiben müssen, wenn sie nicht imstande sind, alles zu tun, was für die Sache notwendig ist. In diesem Sinne wurde auch dem Dionysios vorgetragen, was ihm vorgetragen wurde. Alles besprach ich also nicht mit ihm, und Dionysios bat mich auch nicht darum. Denn wegen der von anderen aufgeschnappten Phrasen tat er so, als ob er selbst vieles, ja geradezu das Wichtigste wüßte und die Materie beherrschte. Später, so höre ich, soll er auch über das, was er damals hörte, eine Schrift verfaßt haben, wobei er die Sache als seine eigene Lehre darstellte und nicht als etwas von demselben, was er gehört habe. Sicheres weiß ich darüber aber nichts.

Soviel kann ich allerdings über alle sagen, die, die schon geschrieben haben und die, die noch schreiben werden, soweit sie behaupten, sich auf die Dinge zu verstehen, auf die meine Bemühungen gerichtet sind, sei es, daß sie bei mir gehört haben, sei es bei anderen, oder dann mit der Behauptung, sie seien selber zu dieser Erkenntnis gekommen: Es ist meiner Meinung nach unmöglich, daß diese von der Sache etwas verstehen.

Von mir wenigstens gibt es keine Schrift darüber und wird es auch sicher nie eine geben; denn das läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern wenn man sich gerade damit beschäftigt und sich vertraut gemacht hat, entsteht es plötzlich wie ein Feuer, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und von nun an nährt es sich weiter. Und doch weiß ich soviel sicher, daß, wenn es geschrieben oder vorgetragen würde, dies am besten von mir geschehen würde. Und auch das weiß ich: Wenn es schlecht dargestellt wird, dann bringt's doch schließlich mir den größten Schaden. Wenn ich aber glaubte, es müsse in befriedigender Weise der breiten Öffentlichkeit schriftlich und mündlich vermittelt werden, was hätte ich Schöneres als das in meinem Leben tun können, Schöneres als den Menschen eine große Heilslehre niederzuschreiben und das Wesen der Dinge für alle ans Licht zu ziehen?

Aber ich glaube, daß die Wiedergabe dieser Forschungen für die Menschen nichts Gutes bedeuten würde außer für ganz wenige, und diese wären imstande, auf Grund einer kurzen Anleitung selbst die Sache zu finden, und von den übrigen würde es die einen in ganz ungehöriger Weise mit übel angebrachter Geringschätzung gegen die Philosophie erfüllen, die andern mit verstiegenem und törichtem Selbstbewußtsein, als ob sie weiß wie etwas Herrliches gelernt hätten.

Doch will ich mich noch ausführlicher darüber äußern. Denn vielleicht wird der eine oder andere Punkt in den Dingen, über die ich spreche, verständlicher, wenn ich das vorgebracht habe. Denn es gibt eine unwiderlegbare Beweisführung, die demjenigen, der es wagt, auch nur eine Kleinigkeit von solchen Dingen niederzuschreiben, in den Weg tritt, eine Beweisführung, die ich schon oft vorgetragen habe, die aber auch jetzt vorgetragen werden zu müssen scheint.

Für jedes Ding gibt es dreierlei, wodurch sich notwendigerweise seine Erkenntnis vollzieht, dazu kommt als viertes die Erkenntnis selbst (als fünftes muß man das selber ansetzen, was eben Objekt der Erkenntnis und das wahrhaft Seiende ist), 1. der Name, 2. die Definition, 3. das Abbild, 4. die Erkenntnis. Nimm als Beispiel einen Einzelfall, wenn du verstehen willst, was ich sage und dann übertrage das auf alles.

Z.B. "Kreis" ist ein Ding, wovon hie und da die Rede ist. Sein Name ist eben gerade dies Wort, das wir jetzt ausgesprochen haben. Das zweite ist seine Definition; sie besteht aus Substantiven und Verben. Der Satz nämlich "Dasjenige Ding, dessen äußerste Punkte überall gleich weit von der Mitte entfernt sind", das wird etwa die Definition dessen sein, das den Namen rund und gebogen und Kreis trägt. An dritter Stelle steht das, was gezeichnet und wieder ausgewischt wird, gedrechselt wird und vergänglich ist. Von all' dem erleidet der Kreis selbst, auf den alle die genannten sich beziehen, nichts, da er etwas anderes ist als sie. Als viertes beschäftigt sich damit die Erkenntnis und die Einsicht und die wahre Meinung. All dies ist als eine Klasse aufzufassen, da es nicht in Sprachlauten noch in räumlichen Formen, sondern in der Seele existiert: dadurch ist es deutlich etwas anderes als das Wesen des Kreises an und für sich und als die drei vorhin genannten Dinge. Unter ihnen kommt aber die Einsicht dem Fünften am nächsten durch Verwandtschaft und Ähnlichkeit, die andern sind weiter entfernt.

Ganz gleich steht es mit geraden wie mit krummen Figuren und mit Farbe, Gut und Schön und Gerecht, mit jedem geschaffenen und natürlich gewordenen Körper, Feuer, Wasser und allem ähnlichen, mit jedem Lebewesen und dem Charakter, jedem Tun und Leiden. Sobald nämlich einer nicht irgendwie die vier Dinge [miteinander] ergreift, wird ihm niemals ganz die Erkenntnis des Fünften zuteil werden. Denn außerdem gehen diese Dinge mindestens ebensosehr darauf aus, über die Qualitäten eines Gegenstandes etwas auszusagen als über dessen wahres Wesen, wegen der Schwäche des sprachlichen Ausdruckes; darum wird kein Vernünftiger es wagen, in diese schwache Sprache das von ihm Gedachte zu kleiden und dazu noch ins Unverwehbare, wie es ja das Wesen des mit Lettern geschriebenen ist.

Auch dies eben Gesagte soll man zu verstehen suchen [durch ein Beispiel]: Jeder der in Wirklichkeit gezeichneten oder vom Drechsler hergestellten Kreise ist voll vom Gegenteil des Fünften - hat er doch überall Anteil am Geraden - der Kreis selbst aber, wir betonen das, enthält in sich weder eine geringe noch eine große, überhaupt keine Beigabe von der ihm entgegengesetzten Wesensart. Was den Namen betrifft, so sagen wir, daß kein Ding einen festen habe; nichts stehe im Wege, daß, was jetzt "rund" heißt "gerade" heiße und umgekehrt "gerade" "rund" und daß die Dinge gleich wirklich bleiben, auch wenn man die Namen vertausche und den gegenteiligen gebrauche. Und auch mit der Definition ist's die gleiche Sache, da sie ja aus Haupt- und Zeitwörtern besteht: Es ist nichts hinlänglich zuverlässig darin.

So könnte man sehr viele Worte darüber machen, wie ungenau jedes der vier Dinge ist; die Hauptsache ist aber, was wir gerade vorhin sagten, daß die Seele zwar von den zwei Dingen, dem Seienden und den Qualitäten, nicht die Qualitäten, sondern das Seiende zu wissen begehrt, jeder der vier Wege aber gerade das nicht Gewünschte der Seele hinhält, sowohl in der Theorie als auch im Einzelfall immer alles Gesagte und Gezeigte den Sinnesorganen zur oberflächlichen Prüfung darbietet und so jedermann mit jeder nur möglichen Verlegenheit und Unklarheit erfüllt.

Bei den Gegenständen nun, bei welchen wir aus schlechter Angewöhnung gar nicht die Wahrheit zu suchen pflegen, und wo eines der vorgehaltenen Abbilder genügt, da werden wir einander nicht zum Spott, die Gefragten den Fragenden, selbst wenn diese imstande sind, die vier Erkenntniswege als fehlerhaft zu erweisen und zu zerpflücken. Bei den Gegenständen aber, wo wir darauf bestehen, daß man das Fünfte antwortet und aufzeigt, erringt jeder Beliebige, der imstande ist, uns aus dem Sattel zu heben, den Sieg und bewirkt, daß der Sprechende (verwende er zusammenhängende Rede oder die Schrift oder die Frage- und Antwortform) der Mehrheit der Zuhörer den Eindruck macht, nichts zu verstehen von dem, worüber er sich anheischig macht zu schreiben oder zu sprechen, indem diese sich hie und da nicht recht klar darüber sind, daß nicht die Seele des Schreibers oder Redners dabei durchschaut wird, sondern das Wesen jedes der vier Erkenntniswege, die eben nicht viel taugen  kurz und gut, denjenigen, der der Sache nicht innerlich verwandt ist, den kann weder Schulbegabung noch gutes Gedächtnis je dazu bringen, denn in ihr fremden Naturen kann sie überhaupt keine Wurzel fassen. Daher können alle diejenigen, welche dem Gerechten und überhaupt allem Schönen nicht ähnlich und nicht verwandt sind... - aber auch nicht diejenigen, die zwar innerlich verwandt sind, aber unbegabt und gedächtnisschwach - ...je die Wahrheit über Gut und Böse, soweit das überhaupt möglich ist, erfassen. Denn dies müssen sie kennen lernen und gleichzeitig auch Schein und Wahrheit der ganzen Natur mit viel Arbeit und Zeitaufwand, wovon ich am Anfang sprach. Nur mit Mühe aber wird, wenn ein jedes von ihnen am andern geprüft wird, Name und Definition und Abbild oder Sinneseindruck, wenn es in wohlwollender Untersuchung untersucht wird von Menschen, die ohne Neid Frage und Antwort gebrauchen - nur dann wird Verständnis und Einsicht über jedes Ding hervortreten, so intensiv als dies menschenmöglich ist. Darum wird also jeder ernsthafte Mensch über ernsthafte Dinge sicher nie etwas schreiben und damit seine Sache der Menschen Neid und Unverstand ausliefern.


(zitiert nach Die Briefe Platons, hrsg. von Ernst Howald, Zürich, 1923.)


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