S C H I L L E R J A H R

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F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Die Schillerfeste 1999:
Schiller-Feiern auf beiden Seiten des Atlantik

Stockholm: Schiller-Feier im hohen Norden

Wiesbaden: "Wenn der Zufall Helden macht"
Wiesbaden: "Wenn der Zufall Helden macht..."

Das anspruchsvolle Programm der "Dichterpflänzchen" anläßlich von Friedrich Schillers 240. Geburtstag befaßte sich mit der Rolle der Kunst in einer krisenvollen Welt.

1998 hatte Schillers Lied von der Glocke im Mittelpunkt des Festprogramms gestanden, das Jahr davor waren es die schönsten Gedichte von Goethe und Schiller aus dem "Balladenjahr" 1797. Diesmal hieß das Thema: "Wie groß wird da der Mensch, wie klein das Schicksal!" Die Dichterpflänzchen beleuchteten anhand von Gedichten, Prosatexten und Auszügen aus Don Carlos und Die Jungfrau von Orleans Schillers Menschenbild und die Anforderungen an die Kunst in einer Welt sich auftürmender Krisen. Und jeder dachte unwillkürlich an die heutige Weltlage bei den Zeilen des ersten Gedichts:

Was fordert Schiller von der Kunst in einer solchen Welt? Ist sie nur Rückzugsort, Refugium des Schönen weit weg von der schnöden Welt, wie es in Die Teilung der Erde leicht ironisch anklingt? Oder ist die Kunst mehr? Schiller sagt es ganz ausdrücklich in der Vorrede zur Braut von Messina: Sie darf nicht bloß "ein gefälliger Wahn des Augenblicks" sein, der "beim Erwachen verschwindet". Der wahren Kunst sei es "ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen".

"Zu was Besserm sind wir geboren", heißt es im Gedicht Hoffnung. Diese höhere Bestimmung des Menschen sieht Schiller darin, "daß er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit ebendem Blick umfassend die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt..." (Aus Schillers Dissertation Philosophie der Physiologie). Die Idee vom Menschen, der als Forscher und Entdecker, als Künstler oder auf andere Weise zur universellen Entwicklungsgeschichte der Menschheit beisteuern möge, kommt auch im Gedicht Kolumbus und in Schillers Antrittsrede über die Universalgeschichte vor.

Dabei wußte der Dichter übrigens recht gut, daß die Philosophie seiner Zeit diesen Gedanken widersprach, so wie der heutige Zeitgeist ihnen widerspricht. "Aus einem dürftigen Egoismus haben sie ihre trostlose Lehre gesponnen, und ihre eigene Beschränktheit zum Maßstab des Schöpfers gemacht", beklagt Schiller in den Philosophischen Briefen.

In Shakespeares Schatten, einer Sammlung beißender Xenien, nimmt Schiller die seichten Theaterstücke seiner Zeit aufs Korn, die statt großer Schicksale und historischer Begebenheiten nur "uns selbst und unsre guten Bekannten, unsern Jammer und Not" zum Thema haben (fast wie unsere heutigen Fernsehserien). Shakespeares Schatten kann nicht verstehen, wozu die Leute sich dann überhaupt ins Theater bemühen:

    Aber das habt ihr ja alles bequemer und besser zu Hause;
    Warum entfliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht?

In der Geschichte vom guten Samariter erläutert Schiller, was er unter "schönem Handeln" versteht. Fünf Leute finden sich alle bereit, einem Verwundeten zu helfen: Der eine kann zwar kein Blut sehen, will ihm aber Geld geben; der zweite macht es zum Selbstkostenpreis, der dritte widerwillig, nur aus Pflichtgefühl; die Feinde des Verwundeten handeln aus Hochmut und Verachtung; nur für den Lastträger ist die Hilfeleistung ganz natürlich und selbstverständlich, und nur seine Handlung ist daher "schön".

Menschen mit einer Seele wie dieser gute Samariter werden heute gebraucht. In Zeiten der Umwälzung, Krise und Gefahr sind sie es, die der "Zufall zu Helden macht". Solches schildert Schiller in der Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung. Nichts Heroisches, Kolossalisches haftete den Niederländern an, und doch schaffte dieses Volk eine Revolution. "Der Drang der Umstände überraschte es mit seiner eigenen Kraft", meint Schiller, und gerade dies mache die Begebenheit so interessant.

Mit dem Don Carlos hat er diesen denkwürdigen Freiheitskampf auf die Bühne gebracht. Die "Dichterpflänzchen" boten den Monolog des König Philipp ("Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht") und die berühmte Marquis-Posa-Szene, die mit der Forderung nach Gedankenfreiheit endet. Warnend könnte man auch heute den Machthabern der oligarchischen Weltordnung zurufen:

    Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.
    Des langen Schlummers Bande wird er brechen
    Und wiederfordern sein geheiligt Recht ...

Posa scheitert, weil er zwar hoch von den Menschen im allgemeinen, aber zu niedrig von seinem Freund Carlos denkt und im entscheidenden Moment als Freund versagt. Seine Selbstaufopferung kommt zu spät. Die Dichterpflänzchen stellten nun einen sehr interessanten Zusammenhang zwischen dem Freundschaftsthema in Don Carlos und in der Ballade Die Bürgschaft her. Hier ist es bekanntlich die Macht der Freundschaft, Liebe und Treue, die den Tyrannen derart rührt, daß er sagt:

    Es ist euch gelungen,
    Ihr habt das Herz mir bezwungen ...

Selten wirkte dieser Schlußteil des Gedichts so psychologisch glaubhaft wie in der Rezitation an diesem Abend.

Deutlich wurde in diesem Programm auch die sehr verschiedene Wirkung von Prosatexten wie Briefen oder philosophischen Abhandlungen und von Gedichten oder Monologen in Schillers wunderschönen Jamben. Prosatexte nötigen den Zuhörer, mit gespanntem Geist den dort geäußerten Ideen zu folgen, wenn er den Faden nicht verlieren will. Wie anders ist dagegen die ästhetische Wirkung der Gedichte und poetischen Monologe, auch wenn letztere ohne Theaterkostüm und ohne viel Bewegung dargestellt wurden. Es ist die Eigenart großer Dichtung, das menschliche Denken und Empfinden in jener eigentümlichen Schwebe zwischen verstandesmäßiger Anspannung und schmelzender Erschlaffung zu halten, welche die Seele frei und empfänglich für neue Gedanken und das eigene Weiterdenken dieser Ideen macht. Schiller hat über diesen "ästhetischen Zustand" in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen eine ganze Theorie entwickelt.

So waren denn die drei Monologe der Johanna aus der Jungfrau von Orleans der Höhepunkt des Abends, und besonders beeindruckend jener Monolog nach dem ersten Sieg, während des Krönungsfestes in Reims: Ihre Liebe zu dem Engländer Lionel stürzt die Heldin in einen schweren Seelenkampf. Und indem die Zuhörer von Mitgefühl für Johanna in diesem Augenblick der Schwäche ergriffen werden, nehmen sie zugleich ein Stück von Johannas Stärke in ihre Seele auf und verstehen: Jeder große Mensch muß wohl solche Seelenkämpfe bestehen.

Die Kunst - wenn sie so ist, wie Schiller sie haben will - kann also bei dem Seelenwachstum helfen. Das ist wichtig, denn in den Stürmen unserer Zeit werden Menschen gebraucht, die, wenn der historische Zufall sie anweht, nicht umfallen, sondern handeln, wie es der große Moment erfordert.

Gabriele Liebig